Die erste Neue ist Jenny Siler. „Verschärftes Verhör“ aus dem Fischer Taschenbuchverlag, gleich auf Platz 3. Dieser Krimi ist geeignet, sie so bekannt zu machen, wie es ihr zusteht. Politisch. Zeitgeschichtlich. Militärische Vergeltung. Private Rachefeldzüge, scharf wird geschossen und das nicht nur mit Munition. Um Afghanistan geht es, um den Abzug der Supermacht, was täglich in den Zeitungen steht, wo aber nichts gemeldet wird über die Geheimdienstmachenschaften, die Intrigen innerhalb des Militärs, wo auf einem der als Schuldiger da steht, der nur ein Bauernopfer ist. Alles hochaktuell, also von heute.
Auf Platz 5 dann „Rostmond“ von Garry Disher. Wer sagt denn, daß immer der Erstplazierte das Titelbild bringt. Erst recht, wenn er es dreimal hintereinander ist. Hier treffen wir wahrlich auf keinen Unbekannter, weder er noch sein Held, Inspektor Hal Challis, der zwischen den beruflichen Anforderungen und den privaten Ereignissen keinen Trennungsstrich ziehen kann. Denn es gibt keinen. Seine ihm untergebene Kollegin, die eigentlich nur sein Haus in seiner langen beruflichen Abwesenheit hütete, weil sie sich von ihrem früheren Zuhause und dem Ehemann separierte, wird unversehens zu seiner geliebten, was beide überrascht und leicht ratlos sein läßt, wie das weitergeht, wenn sie nun mit ihm weiter bei ihm wohnen bleibt. Das schreiben wir so ausführlich, weil der etwas zögerlichen Liebesgeschichte im Krimi viel Raum gegeben ist. Das ist ja auch spannend, ob man dem Verdikt entgehen kann, an derselben Dienststelle mit dienstlich Abhängigen kein Verhältnis haben zu dürfen. Eine Lösung bahnt sich an und diese Fragen haben uns mehr interessiert, als die doch etwas schematischen Beschreibungen des Liebesvollzuges, die zudem häufig erfolgt und immer mit Duschen eingeht. Nachher.
Da interessiert uns von Gary Disher stärker der eigentliche Fall, wo ein Seelsorger schwer verletzt wurde, im Koma liegt, während die Polizei fünf aufgaben gleichzeitig lösen muß, dabei die Bewachung der jährlichen einwöchentlichen Strandfete, die vom der Schule aus als Sommerfest, wie Abschlußparty auch für die erfolgreichen Abgänger der Vorjahre gilt, die gerne kommen, gilt es doch, junge Mädchen abzuräumen und wenn die nicht wollen, mal so eine kleine Vergewaltigung vorzunehmen. Und dann gibt es noch den fiesen Politiker, der sich überall einmischt, sich überall aufspielt wie der <Herrgott persönlich und erst leiser wird, als sich sein Wahlkampfleiter als der scharfe Hund herausstellt, der über das Internet rechtsradikale, ausländerfeindliche Pamphlete unter die Leute bringt, übrigens der Bruder des Schwerverletzten, von dem man als zuständiger Seelsorger der Schule Sachen erfährt die man eigentlich nicht wissen möchte, weil zu eklig. Und absolut bedrohlich für die Schüler, vor allem die Schülerinnen.
Doch das Buch ist richtig gut, weil es Disher gelingt, ungewöhnliche Charaktere zu Handlungsträgern zu machen und weil die Lösung des Falls dem Leser einmal naheliegt, dann geschickt auf Nebengleise geführt wird und man im übrigen soviel über Australien erfährt, wie man gar nicht wissen wollte. Der Titel Rostmond heißt nach der Färbung des untergehenden Monds, von dem wir gar nicht wussten, daß er so heißen kann. Schon mal alles Gute, Inspektor Hal Chalis, denn wir werden ihm sicher wieder begegnen. Den Personen der anderen neuen Romane lernen Sie durch uns erst das nächste Mal kennen. Heute können wir zu ihnen noch nichts sagen.
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Richard Price: Cash Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow S. Fischer, geb., 524 S., 19,95 Lower East Side, Manhattan: Mit Ultra-Dokumentar-Seelen-Kamera entflicht Price alle Handlungs- und Beziehungsimplikationen eines irgendwie systemischen Totschlags, scharf, unscharf und aus der Totale. Keiner ist böse. Alles geschieht. Niemand versteht es. Tod als Anlass, weiter zu machen wie bisher. |
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Dominique Manotti: Letzte Schicht Aus dem Französischen von Andrea Stephani ariadne im Argumentverlag, TB, 256 S., 12,90 € Pondange, Lothringen/Warschau/Paris: Ein Betriebsunfall, eine Fabrikbesetzung. Arbeiter geraten an Material, das die Fusion zweier Wirtschaftsgiganten beeinflussen und die Regierung stürzen könnte. Manotti ist eine Klasse für sich: lebensnah, realistisch, vertrackt. Der Krieg der Konzerne in den kleinen Städten. Superb. |
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Jenny Siler: Verschärftes Verhör Aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg Fischer, TB, 320 S., 8,95 € Afghanistan, Vietnam, Marokko, Spanien: Geheimdienstler gieren überall nach Information. Der junge Jamal behauptet, in Madrid einen iranischen Ex-Mitgefangenen gesehen zu haben. Kat hat Jamal in Bagram verhört, jetzt zieht sie los ihn zu finden. Oder hilft sie, ihn umzubringen? Silers US-Empire: ein Weltmeer der Gewalt. |
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Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl FolioVerlag, geb., 576 S., 24,90 € Rom: Freddo, Dandi und der Libanese, gerissene Jungs von der Straße, übernehmen den Drogenmarkt und die Macht. De Cataldo: Richter, gelehriger Schüler des Neorealismo, Dokumentar. Sein Sittenbild der siebziger und achtziger Jahre viviseziert Manieren und Bräuche einer Bande von Mächtigen auf Zeit. Kolossal. |
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Garry Disher: Rostmond Aus dem Englischen von Peter Torberg Unionsverlag, geb., 348 S., 19,90 € Mornington Peninsula, Australien: Mondfinsternis, Schulabschlussfeiern, das übliche Chaos. Erschlagen: ein rassistischer Schulkaplan, eine brave Bauplanerin. Inspektor Hal Challis und seine Leute stochern im Zivilisationsschutt. Fünfter Band des australischen Gesellschaftsporträts. Dishers Blick: unbeirrt, nüchtern. |
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Jo Nesbí¸: Headhunter Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob Ullstein, Paperback, 256 S., 14,95 € Oslo: Roger Brown ist ein Arschloch wie es im Buche steht, ein Kopfjäger – respektive: Headhunter – und Menschenverächter, Machotyp 21. Jahrhundert. Die Liebe zu Kunstwerten eingeschlossen, die er seinen Jobaspiranten klaut. Unaufhaltsam – bis er auf Kunstfreund Greve trifft. Der Flitzer unter Nesbí¸s Werken. |
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Richard Stark: Irgendwann gibt jeder auf Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein Zsolnay, PB, 270 S., 16,90 € Palm Beach: Parker wurde ausgebootet. Das verlangt Vergeltung: Geld und Waffen (mit einem Bagger) sind beschafft, auch ein Jaguar. Da kreuzt ein paranoider Mistkerl seinen Weg zu Schmuck im Wert von 12 Millionen. Parker kriegt einen Durchschuss und muss tun, was er hasst: Sich auf fremde Hilfe verlassen. |
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Jussi Adler-Olsen: Schändung Aus dem Dänischen von Hannes Thiess dtv, PB, 460 S., 14,90 € Kopenhagen und Umgebung: Sie sind reich und prügeln aus Lust. Erst hat Kimmie mitgemacht, dann wurde sie Opfer. Sie kann ihre Mordtaten beweisen. Und will Rache: Tod den Sadisten. Vizepolizeikommissar Mí¸rck (Sondereinheit Q) investigiert zwischen beiden Fronten. Dänische XXL-Pathologie. |
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Derek Nikitas: Scheiterhaufen Aus dem Amerikanischen von Jens Seeling Seeling Verlag, PB, 368 S., 15,00 € Monroe County, New York: Lucias Leben wird nicht von der Lichtgöttin bestimmt, nach der sie genannt wurde. Als die Sechzehnjährige erlebt, wie ihr Vater erschossen wird, ist das erst der Anfang einer wilden, kriegerischen Jagd. Gewissheit, Sicherheit, Familie – alles kaputt. Mitreißendes Debüt, tolle Entdeckung. |
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Frank Göhre: Der Auserwählte Pendragon, TB, 260 S., 9,95 € Hamburg/Gomera: Bettina ist reich, Klaus ist ihr Deck-Mann. Als ihr Sohn, der „Auserwählte“, entführt wird, werden Bettinas Lebenslügen offenbar. Die Hamburger Millionenerbin war Mitglied einer Psychosekte. Mit spitzer Feder skizziert: 68er und ihr Selbstbetrug. Nach wahren Begebenheiten von Stichelmeister Göhre. |
Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag, 28. August 2010 gegen 8.40 Uhr live; Sonntag, 29. August, 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt sowie in der Literarischen Welt am 28. August 2010. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury hat sich gerade verändert und setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.
Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“).