Berlin, Deutschland; Eppan, Südtirol (Weltexpress). Lionel Messi hat sich zu Wort gemeldet: wir sollten nicht die Botschaft verkünden, ein Favorit auf den WM-Titel zu sein. Favoriten sind Deutschland, Brasilien, Spanien.
Einen Superstar des Weltfußballs hat das deutsche WM-Aufgebot, vielleicht mit Ausnahme des mehrfach zum weltbesten Torhüter gewählten Manuel Neuer, nicht in ihren Reihen.
Auch nicht einen Christian Ronaldo (Portugal), Neymar (Brasilien), Antoine Griezmann (Frankreich), Sergio Ramos (Spanien), Edison Cavani (Uruguay) oder auch Robert Lewandowski (Polen) oder Mohamed Salah (Ägypten). In der Welt bekannte Spieler mit außergewöhnlichem Talent und der Fähigkeit, das Geschehen zugunsten ihrer Mannschaft entscheidend zu beeinflussen!
In der UEFA-Saisonwertung 2017/18, in der das Abschneiden der besten europäischen Klubs erfasst wird, ist Deutschland auf den sechsten Rang zurückgerutscht. Dominant an der Spitze Spanien mit den Siegern in der Königsklasse Champions League sowie in der European League.
Dennoch sieht nicht nur der mehrfache Welt-Fußballer Messi (Argentinien) die Deutschen in der Position des WM-Mitfavoriten.
Die einfachste Erklärung: Die deutsche Mannschaft tritt als Titelverteidiger in Russland an. Und die Deutschen haben seit 1954 nicht nur vier Mal den WM-Pokal erkämpft, sind immer dabei gewesen und haben fast nie richtig enttäuscht. Wie beispielsweise der Rekord-Weltmeister Brasilien (5x Weltmeister seit 1958), der bei der Heim-WM 2014 im Halbfinale nach einer katastrophalen Leistung von Neuer und Co. 7:1 gedemütigt wurde.
Die herausragende WM-Bilanz der Deutschen fußt überwiegend nicht auf das Vorhandensein alles überstrahlender Individualisten. Sondern eher auf eindrucksvolles kollektives Zusammenspiel und mentale Stärken: Einsatzbereitschaft, Siegeswille, Leidenschaft.
Und sicher auch durch die historisch bedingte Tatsache, dass Fußball-Weltmeisterschaften in Deutschland einen national höheren Stellenwert besitzen als anderswo.
Das hängt mit dem „Wunder von Bern“ zusammen. 1950 noch nicht zur WM zugelassen sorgten Fritz Walter und Co. für den ersten und als sensationell empfundenen WM-Triumph. Was Historiker und auch sportfremde Feuilletonisten im Nachhinein zum wahren Begründungsdatum der bundesdeutschen Republik erhoben.
Eine Überhöhung, die wohl dem „Wir sind wieder wer“-Gefühl geschuldet war.
Zehn Mal Mannschaft des Jahres
Seither aber sind Auftreten und Abschneiden der Fußball-Auswahl bei Welt-Titelkämpfen mehr oder minder mit patriotischen Aufwallungen verbunden. Genießen Fußball-Weltmeisterschaften einen besonderen Stellenwert in der Wahrnehmung eines großen Teils der Bevölkerung, auch wenn ansonsten wenig Interesse an sportlichen Großereignissen existiert. Zehn Mal, so oft wie kein anderes Kollektiv, ist die Nationalelf als „Mannschaft des Jahren“ gewählt worden.
Wenn Regierungschefs – siehe Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel (wie jetzt bereits in der Vorbereitung in Eppan, Südtirol) – sich bei WM-Spielen auf der Ehrentribüne oder gar in der Kabine der Spieler zeigen und ablichten lassen, dann sind das Indizien für den speziellen Status dieses Ereignisses.
Fußball-WM wird in Deutschland wie kaum woanders auch als nationale Mission überfrachtet. Was die Sache für die dafür Zuständigen – Spieler, Trainer, Betreuer – nicht einfacher macht.
Helmut Schön amtierte 14 Jahre
Für den DFB gab es meist erfolgreiche Zeiten, wenn in der Trainerfrage Kontinuität angesagt war. Die beste Trainer-Bilanz nach Siegen, Unentschieden und Niederlagen verbuchte der frühere Dresdner Nationalspieler Helmut Schön. Er war als Bundestrainer von 1964 bis 1978 in Amt und Würden. Wurde u.a. 1974 Weltmeister und auch Europameister.
Dicht auf den Fersen ist ihm der aktuelle Bankchef Joachim Löw. Der 58-Jährige war zwei Jahre Assistent unter Cheftrainer Jürgen Klinsmann (2004 – 2006), den er nach dessen Rücktritt ablöste. Löws Berufung kam überraschend, denn der Mann aus dem Schwarzwald hatte nach einer wenig spektakulären Spieler-Karriere zwischen Erster und Zweiter Liga auch bei seinen halben Dutzend Trainerstationen nicht gerade als Überflieger auf sich aufmerksam gemacht. Mit Innsbruck schaffte er ein Mal den Titelgewinn in Österreich und konnte sich auch in Stuttgart trotz eines DFB-Pokalsieges (Finalerfolg über Cottbus) nicht für eine längerfristige Beschäftigung qualifizieren.
Nun währt seine Anstellung als Bundestrainer bereits 12 Jahre. Und wenn er seinen bis 2022 verlängerten Vertrag erfüllt, kann er der am längsten im Amt befindliche Bundestrainer werden.
Weltmeister wurde er mit seinen Schützlingen vor vier Jahren, Dritter vor acht. Rang eins bei Europameisterschaften fehlt, ist aber nach eigenem Bekunden ein erklärtes Ziel.
Auf der anderen Seite haben Löws Vorgänger mit kürzerer Verweildauer auf diesem Posten, wie Erich Ribbeck, Rudi Völler oder Klinsmann, weniger Erfolgsspuren hinterlassen.
Ganz offensichtlich sind die Anforderungen an fraglos hochqualifizierte Fußball-Lehrer bei Nationalteams andere als bei erstklassigen Vereinsmannschaften.
Im Unterschied zu manchen prominenten Klubtrainern, die eine Berufung zum Auswahlcoach eher als eine normale Trainerstation abhaken, hat Löw für sich den Job als berufliche Lebensaufgabe erkoren. Und die füllt er mit Empathie zielstrebig und hartnäckig wie nur irgendwie möglich aus.
Löw steht im Ruf, ein Meister der Turniervorbereitung zu sein. In dieser Phase verletzte und angeschlagene Spieler wieder fit zu bekommen. Sowie die restlichen durch individuelle und kollektive Belastungen in optimale Verfassung für ein mehrwöchiges Großereignis zu bringen. Fast immer haben da seine Schützlinge konditionell von einem besseren Zustand als die Konkurrenz profitieren können. Was sich in Verlängerungen fast immer zugunsten der „Turniermannschaft Deutschland“ niederschlug.
72 Zimmer im Watutinki
Im 1:2 verlorenen Testspiel gegen Österreich wirkten die Deutschen nach 16 Tagen Vorbereitung Eppan müder und weniger inspiriert als der Gegner. Löws Kommentar: „Wir haben bis zum WM-Start noch eine Menge Arbeit vor uns.“ Dabei kann sich der Bundestrainer auf einen in den letzten Jahren immens angewachsenen Helferstab stützen. Weshalb alle 72 Zimmer im Hotel Watutinki bei Moskau gebucht wurden.
So stehen der Mannschaft im „Team hinter dem Team“ u.a. vier Ärzte, sechs Physiotherapeuten (offfizielle Bezeichnung Special Coach), vier Zeugwarte, zwei Köche, sechs Medien-Mitarbeiter, vier Scouts für Gegneranalysen, angeblich drei Sicherheitskräfte und vier Fitness-Trainer zur Verfügung. Eingesetzt werden modernste Mittel und Methoden zur Regeneration: Kompressionshosen, Eistonnen, Slashpipe, Intervall-Schlaf…so kommt ein Betreuerstab von mehr als 40 Personen zusammen. Wobei die sportliche Leitung aus Löw, seinen beiden Assistenz-Trainern Thomas Schneider und Marcus Sorg, Torwart-Trainer Andreas Köpcke, sowie Sportdirektor/Manager Oliver Bierhoff gebildet wird.
Vor 20 Jahren dürfte die Helfercrew vielleicht halb so groß gewesen. Die Entwicklung im deutschen Aufgebot, das wohl zahlenmäßig in Russland zu den größten zählen dürfte, hat der einstige Auswahlstürmer und Ex-Bundestrainer (2004 – 2006) Jürgen Klinsmann angestoßen. Der in den USA lebende Stuttgarter hatte sich bei den dortigen Profiklubs umgeschaut und deren immensen Aufwand mit Spezialkräften in allen Bereichen für seine „revolutionären Neuerungen“ im deutschen Fußball übernommen.
Die größere Man-Powe für das DFB-Aushängeschild erforderte allerdings auch höhere finanzielle Aufwendungen. So stiegen im WM-Jahr 2014 dafür auf 44,8 Millionen Euro. Darin enthalten 22 Millionen für die WM und das dortige Luxus-Resort Campo Bahia sowie die 300 000 Euro WM-Prämie pro Spieler.
Alles Summen und Beträge, die sich kleinere Länder und Verbände nicht leisten können. Die aber in Deutschland nicht infrage gestellt werden. Denn die Fußball-WM ist quasi eine Art nationaler Mission. Zudem spielte die Mannschaft 2014 durch TV- und Sponsor-Einnahmen rund 105 Millionen ein.
Trotz des eindrucksvollen Aufwandes, warnt Manager Bierhoff, werde das Turnier in Russland „die schwierigste WM“ überhaupt werden: „Wir werden die Gejagten sein und können nur erfolgreich bestehen, wenn wir die letzten Prozentpunkte herausholen.“