Dieses Buch tut weh. Auf über 300 Seiten lässt die Autorin Nicole Glocke drei Protagonisten mit fürchterlichen Kindheitserinnerungen zu Wort kommen. Ralf Weber, Stefan Lauter und Ilona Dathe waren alle drei in die Mühlen der DDR-Jugendhilfe und damit gewaltsamen Erziehungsmethoden des Staates geraten. Im ersten schier unglaublichen Fall, der am ausführlichsten nacherzählt wird, musste ein Kind seine gesamte Schulzeit in Kinderheimen mit Gefängnischarakter verbringen. Ralf Weber geriet als Sechsjähriger unverschuldet in die Fänge eines diktatorischen Systems, das zu DDR-Zeiten geschätzten 300.000 Kinder und Jugendliche „umerziehen“ wollte. Wer aufbegehrte, erlebte Gewalt. Wer rebellierte, wurde verlegt. Wer gegen die „Regeln“ verstieß, kam in den Jugendwerkhof. Wie dort in den ersten Stunden der Wille der Kinder und Jugendlichen gebrochen werden sollte, zeigt obiges Zitat. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, der einzige dieser Art in der DDR, wurde von seinen Insassen als Hölle erlebt und hat sich angesichts der erfahrenen Misshandlungen tief in die Seelen junger Menschen eingebrannt.
Die Gründe, in Kinderheime zu geraten, waren vielfältig. Sie waren Kinder aus asozialen Familien, galten als schwer erziehbar, hatten psychische Probleme oder Eltern, die Ausreiseanträge gestellt hatten. Manch ein Jugendlicher, der sich gegen Staat und Politik äußerte, einen Iro trug oder die falsche Musik hörte, konnte zur „Umerziehung“ auch gegen den Willen seiner Eltern in ein Heim geraten. Was dann passierte, entblättert sich in dieser Publikation am Beispiel der drei Betroffenen so umfassend wie schockierend. Nichts wird hier ausgespart, von der Notdurft bis zum Duschen. Die Kinder waren nicht nur einem vollständig durchorganisierten Tagesablauf mit beinahem Sprechverbot und ohne Freizeitmöglichkeiten unterworfen, sie litten unter anderen an Flüssigkeitsmangel, Medikamentenmissbrauch und fehlender Zuneigung, Solidarität, Liebe. Wenn auch noch aus dem Elternhaus Missverständnis bis Abneigung signalisiert wurde, war die Isolation eines Heranwachsenden komplett. Wie kann jemand so etwas überstehen, jemals wieder ein glückliches Leben führen?
Hier liegt die Stärke wie Schwäche des mutigen Buches der Historikerin Glocke. Sie erzählt die Lebensgeschichten der beiden Jungen Stefan und Ralf bis heute ausführlichst nach, belässt allerdings auch einige etwas sentimental anmutenden Passagen im Text. Natürlich ist es legitim, angesichts der erschütternden Erlebnisse von den kindlichen Absenzen zu berichten, eine Straffung hätte hier allerdings die Wirkung erhöht. Dennoch sind die Texte in ihrer Brutalität und Offenheit Zeugnisse und Wegbereiter eines minderbeachteten Themas – der anhaltenden Traumatisierung eines beträchtlichen Teils des ostdeutschen Volkes. Die in Kinderheimen der DDR gequälten Kinder und Jugendlichen sind Opfer einer traurigen Tradition deutscher Heimerziehung, wie Stephan Hilsberg in seinem kenntnisreichen wie flammendem Nachwort betont.
Es ist an der Zeit, die deutsche Geschichte der Heimerziehung aufzuarbeiten, unter Beachtung der Eigenheiten in beiden jüngsten deutschen Staaten und unter Klarstellung des Gefängnischarakters der DDR-Spezialheime! Furchtbar, dass sich noch heute ehemalige DDR-Heimkinder schämen für ihre Geschichte, dass sie um Anerkennung als Opfer kämpfen müssen. Dieses Buch sollte den Weg ebnen für eine breite Aufmerksamkeit und Anerkennung des Themas – und die Vermeidung ähnlicher Schicksale in der Zukunft.
Deutsche, nehmt Kinderrechte ins Grundgesetz auf!
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Nicole Glocke, Erziehung hinter Gittern, Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR, 336 S., Mitteldeutscher Verlag Halle, Februar 2011, 16,90 €