Linda wird von Männern in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Der neunjährige Daniel schaut ihr dabei zu. Es ist wieder Grenzgang. Alle sieben Jahre findet dieses Volksfest statt, bei dem die Einwohner von Bergenstadt (im Wirklichkeit: Biedenkopf nahe Marburg) an drei Tagen die alten Grenzen des Orts abschreiten und das Ganze gebührend feiern. In zeitlichen Sprüngen nehmen wir an mehreren dieser Feste teil, lernen allmählich den kleinen Figurenkosmos kennen, den Thome entwirft und um den er seine Fäden spinnt. Ziemlich genial ist das, wie er uns hineinstolpert lässt in die Geschichte der ehemaligen Sportlerin Kerstin und des gescheiterten Akademikers Thomas, der als Lehrer in sein Dorf zurückkehrt. Daneben tauchen auf: der Ehemann Kerstins, der sie mit einem jungen Mädchen betrügen und schließlich sitzen lassen wird, der Sohn Daniel, die zunehmend demente Mutter Kerstins, Linda und ihre Mutter sowie einige Bewohner des Provinznestes. Ihre Schicksale sind ebenso zufällig wie mäandernd miteinander verknüpft, ihre Entwicklung oder Stagnation wird unter wie Spots alle sieben Jahre wieder beleuchtet.
Stephan Thome, der 1972 in Biedenkopf geboren wurde, hat in Berlin, Taiwan, China und Japan Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie studiert. Den „Grenzgang“ gibt es wirklich in seinem Heimatort, so etwas lässt sich kaum erfinden! Die Spannung steigt, straßenzügeweise bereitet der Ort sich auf das Ereignis vor, das als Ausnahmezustand zelebriert wird. Hier fügen und scheiden sich Lieben, hier nehmen alle Anteil am Privatesten der anderen. Stoff für Jahre, Familienlangeweile oder Tragödie, alles fließt und zeigt sich her. Thome verbindet die Grenzgänge von 1992, 1999 und 2006 miteinander, ohne auf ihre Reihenfolge Rücksicht zu nehmen, mitunter gehen Rückblenden bis in die 1970er Jahre zurück oder springen in die Zukunft. Wie bei Jonathan Franzen wird die alte Frage nach dem „Wie sollen wir leben“ unter dem Lupenblick auf das Provinzleben erörtert, der verlangsamten Motorik ereignisarmer Tage und eines Kinderlachens über dem Fest.
Dieses Epos eines der kleindeutschen Provinz weit Entronnenen verzaubert auf Anhieb!
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Stephan Thome, Grenzgang, Roman, 454 S., Suhrkamp, 2010, 9, 95 €