Berlin, Deutschland; Glasgow, Schottland, UK (Weltexpress). Europameisterschaften in olympischen Kernsportarten mal ganz anders: zeitlich und örtlich kompakt vom 2. bis 12. August in sechs Sportarten im schottischen Glasgow. Eingebettet in das gemeinsame Projekt „European Championships“ dazu die Europa-Titelkämpfe der Leichtathleten vom 6. bis 12. August in Berlin. Bei der nächsten Auflage in vier Jahren soll alles gebündelt in einer Stadt über die Bühne.
Die Konstellation erinnert an eine Miniausgabe Olympischer Spiele. Die Absicht dahinter: Das Fernsehen möchte dem latenten Vorwurf begegnen, Fußball, Fußball über alles! Live-Übertragungen in den Dritten Programmen des öffentlich-rechtlichen Staatsfernsehens bis in die dritte und vierte Liga, aber selbst nationale Meisterschaften in bestimmten Sportarten kaum noch zu übertragen. Beispielsweise sind in der Leichtathletik Sendungen von den hochwertigsten internationalen Wettkämpfen der Weltbesten bei der Diamond League oder der zweiten Kategorie aus dem ARD/ZDF-Angebot mittlerweile völlig verschwunden.
Ob eine Fusion von ARD/ZDF die finanziellen Möglichkeiten hätte, ob Top-Ereignisse in der Leichtathletik oder auch im Tennis zu präsentieren, muss spekulativ bleiben. Von den European Championships sind von ARD/ZDF nach Art der Wintersport-Kompakt-Übertragungen mehr als 100 Stunden Sendevolumen vorgesehen. Von den Wettkämpfen mit rund 4500 Sportlern aus mehr als 50 Ländern.
Neben den Leichtathleten tragen sechs weitere Verbände zugleich ihre Europameisterschaften aus: im Schwimmen, Turnen, Rudern, Radsport, Triathlon und Golf. Dabei ergeben sich 188 Medaillenentscheidungen sowie ein Gesamtranking im sogenannten Nations Cup. Favoriten für diesen Pokalgewinn dürften die Engländer sowie das deutsche Aufgebot sein. Denn nur wenige Nationen betreiben wie die Deutschen eine so breite Leistungssport-Palette. Vielleich mit der Ausnahme Golf können die Könner aus Germany auf Medaillenaussichten verweisen.
EM-Rekordaufgebot der deutschen Leichtathleten
Dass die Leichtathleten nicht auch in Glasgow ihre Kontinent-Champions ermitteln, hängt mit länger zurück liegenden Vergabe der Meisterschaften durch den Europäischen Verband an den DLV (Deutscher Leichtathletik-Verband) und dessen Entscheidung für die Hauptstadt Berlin zusammen.
Der DLV will die Chance bei den Heim-Europa-Meisterschaften maximal nutzen und hat das größte EM-Aufgebot seiner Geschichte mit nun insgesamt 125 Athletinnen und Athleten nominiert.
Das kommt nicht von ungefähr, denn in der Leichtathletik geht es in 48 Disziplinen um Gold, Silber und Bronze. Das ist so viel wie in keiner der anderen sechs Sportarten der ECS (European Championships)und bei den erwähnten total 188 Siegmöglichkeiten ein erheblicher Anteil.
Der Heimbonus und das Rekord-Aufgebot untererstreichen die Absichten des DLV, die schon beachtliche EM-Ausbeute vor zwei Jahren in Amsterdam mit 16 Plaketten (5x Gold, 4x Silber, 7x Bronze).
Klugerweise hat sich der DLV-Sportdirektor Idriss Gonschinska nach unguten Erfahrungen in der Vergangenheit diesmal keine geplante Medaillenprognose für die Öffentlichkeit entlocken lassen. Denn nicht nur im Fußball – siehe jüngste WM – läuft es bei Großereignissen ganz anders als allgemein erwartet.
Und so sagt denn Gonschinska die Zielstelllung sei: Wenn unsere EM-Starter das Stadion mit einem Lächeln im Gesicht verlassen und einem Ergebnis, nahe ihrer persönlichen Bestleistung oder sogar darüber, dann darf man zufrieden sein.
Fünf Europameister-Titel erkämpften die DLV-Protagonisten vor zwei Jahren. Mit dem Rückenwind der heimischen Kulisse – im Vorverkauf sind bisher rund 280 000 Tickets abgesetzt worden. Das lässt einen Schnitt von etwa 40 000 Zuschauern im Olympiastadion erwarten. Die Organisatoren streben einen Schnitt von rund 50 000 pro Tag an.
Ob sich eine echte EM-Begeisterung auf den Rängen entwickelt, hängt sicherlich nicht unwesentlich von einem erfolgreichen Auftreten der deutschen Aktiven ab.
Das sollten jene Sportlerinnen und Sportler des Gastgebers sein, die die besten Aussichten auf Titel und Goldmedaille haben: An erster Stelle müssen wohl die Kugelstoß-Asse des DLV und mehrfache Europa- bzw. Weltmeister Christina Schwanitz und David Storl genannt werden. Beide leistungsstark und nervlich stabil.
Das gilt gleichermaßen für die DLV-Paradedisziplin, Speerwerfen der Männer: Weltmeister Johannes Vetter, Olympiasieger Thomas Röhler und der Bezwinger jüngst bei den Deutschen Meister, Andreas Hofmann, führen die aktuelle Weltrangliste mit imposanten Weiten über 90 m an. Jeder kann auch Kontinent-Titelträger werden.
Im 100-m-Hürdenlauf der Frauen kommt ein Duo dafür infrage: Pamela Dutkiewicz, die sich deutlich verbessert hat, sowie Cindy Roleder, schon mal WM-Zweite und vor zwei Jahren Europameisterin.
Gleichfalls als Titelverteidigerin tritt Gesa Felicitas Krause auf der blauen Kunststoffbahn im Olympiastadion an. Sie muss die Hürden und den Wassergraben über 3000 m Hindernis möglichst fehlerfrei und schnell überwinden und die Gegnerschaft dabei hinter sich lassen.
Das 4×100-m-Quartett der Frauen geht mit der besten Saisonzeit aussichtsreich in den Wettkampf. 10,96-s-Sprinterin Gina Lückenkemper visiert dazu einen Podiumsplatz an. Um da ganz oben zu stehen, müsste sie u.a. die 200-m-Weltmeisterin Dafne Schippers (Niederlande) und die junge Britin Dina Asher-Smith (10,92 s) hinter sich lassen.
Auf weite Sprünge hoffen die beiden Weitspringerinnen Malaika Mihambo und Sosthene Moguenara sowie die Dreispringrin Kristin Gierisch. Alle sind in den Bestenlisten nahe den Medaillenrängen plaziert. Wenn sie ihre Nerven im Zaum halten, ist alles möglich.
Ein Motto, das ebenfalls für die Mehrkämpferin Carolin Schäfer und ihren Kollegen Arthur Abele im Zehnkampf zutrifft. Beide sind ausgesprochene Wettkampftypen, die sich nicht so leicht aus der Bahn werfen lassen.
Als eine Art Geheimtipp für EM-Gold darf Langstreckler Richard Ringer angesehen werden. Viele Europäer haben vor den afrikanischen Leichtgewichten und deren Dominanz au längeren Distanzen kapituliert. Richard Ringernicht. Der Friedrichshafener überraschte als Sieger über 10 00 m beim Europacup in London die Konkurrenz und zählt nun bei der über 5 km und 10 km zu den Medaillenanwärtern. Vor allem Bummel-Rennen kämen dem spurtstarken Mann vom Bodensee entgegen.
Ein Handschlag wäre ein kleines Wunder
Und dann gibt es ja noch das spektakuläre Diskuswerfen der Männer. Mit der internationalen Meisterschafts-Abschiedsvorstellung des 33-jährigen Robert Harting. Hier war er 2009 Weltmeister geworden. Dann 2012 in London Olympiasieger. Zwischendurch auch Europa-Champion. Verletzungen ließen ihn mittlerweile aus dem exklusiven Kreis der Weltbesten herausfallen. Nur mit Mühe hat er sich hinter seinem sieben Jahre jüngeren Bruder Christoph Harting und Daniel Jasinski für den EM-Auftritt qualifiziert. Ein Medaillenplatz zum Abschied wäre ein kleines Wunder!
Aber vielleicht springt Christoph wie bei Olympia 2016 als Überraschungssieger in die Bresche. Allerdings: In der europäischen Rangliste stehen drei Konkurrenten vor ihm.
Doch der eigenwillige 2,07-m-Recke ist bekannt dafür, kaum berechenbar im Sportlichen wie im Privaten zu sein. Das führt dann ab und an zu irritierenden Aussagen in den Medien. Und hat wohl auch zum Bruch des Verhältnisses zum lange erfolgreicheren Bruder Robert geführt.
Beide möchten über dieses Thema nicht reden, was sie auch generell miteinander nicht tun. Ein Handschlag nach dem Wettkampf wäre daher ein kleines Wunder!