Es ist eine Ehre, auf die ich gern verzichtet hätte.
Mein Name erschien ganz oben, als erstes auf einer Liste von Antragstellern, Vereinigungen und Einzelpersonen, die das Gericht gebeten haben, ein Gesetz zu streichen, das von der Knesset erlassen worden war.
Israel hat keine schriftliche Verfassung. Diese ungewöhnliche Situation wurde von Beginn des Staates an geschaffen, weil David Ben Gurion, ein leidenschaftlicher Säkularist, keinen Kompromiss mit den orthodoxen Parteien erreichen konnte, die darauf bestanden, dass die Torah schon eine Verfassung sei.
Anstelle einer Verfassung haben wir also eine Anzahl von Grundgesetzen, die nur einen Teil der Grundlage decken, und eine Menge von Präzedenzfällen des Obersten Gerichtes. Dieses Gericht masste sich langsam das Recht an, Gesetze, die der nicht existenten Verfassung widersprechen, aber von der Knesset verabschiedet wurden, aufzuheben.
Beginnen wir mit der letzten Knesset: rechts extreme Likud-Mitglieder wetteifern in ihren Bemühungen darum, in der einen oder anderen Weise den Obersten Gerichtshof zu kastrieren. Einige würden das Gericht mit Richtern vom rechten Flügel füllen; andere würden seine Gerichtsbarkeit radikal begrenzen. Dies ist eine Schlacht, die schon seit Jahren läuft.
Die Dinge spitzten sich zu, als eine Gruppe von extrem rechten Likud-Mitgliedern damit begann, eine wahre Lawine von Gesetzesentwürfen vom Stapel zu lassen, die ganz klar nicht verfassungsmäßig waren. Eines von ihnen – und das gefährlichste – war ein Gesetz, das Leuten verbot, zu einem Boykott des Staates Israel aufzurufen – und in einer bösen Weise die Worte hinzufügte „ und der Gebiete, die von ihm besetzt sind“.
Dies enthüllte das wirkliche Ziel der Operation. Einige Jahre zuvor hatte unsere Gush Shalom – Friedensorganisation die Öffentlichkeit dazu aufgerufen, die Waren aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten zu boykottieren. Wir veröffentlichten auch auf unsrer Website eine Liste von Produkten. Mehrere andere Friedens-Organisationen schlossen sich der Kampagne an.
Gleichzeitig versuchten wir, die Europäische Union zu überzeugen, Ähnliches zu tun. Israels Abkommen mit der EU, die Israels Waren von Steuern befreit, schließt die Siedlungen nicht ein. Aber die EU pflegte die Augen zu schließen. Wir benötigten eine Menge Zeit und Mühe, um sie wieder zu öffnen. In den letzten Jahren hat die EU diese Waren ausgeschlossen. Sie forderten, dass auf allen Waren „Made in Israel“, der wirkliche Ursprungsort, klar angegeben wird.
Das von der Knesset verabschiedete Gesetz hat nicht nur kriminelle, sondern auch zivile Aspekte. Personen, die zu einem Boykott aufrufen, könnten nicht nur ins Gefängnis gebracht werden. Sie könnten auch dazu verurteilt werden, eine Riesensumme Schadenersatz zu zahlen, ohne dass der Kläger beweisen muss, dass ein tatsächlicher Schaden für ihn durch den Aufruf entstanden worden war.
Auch Vereinigungen, die Regierungs-Hilfsgelder oder andere Regierungshilfen nach dem bestehenden Gesetz erhielten, würden von jetzt an davon benachteiligt sein, was ihre Arbeit für Frieden und soziale Gerechtigkeit noch schwieriger machen würde.
Innerhalb von Minuten nach der Verabschiedung dieses Gesetzes reichten wir unsere Anträge beim Obersten Gerichtshof ein. Sie waren im Voraus gut durch die Anwältin Gabi Lasky, einer talentierten jungen Rechtsanwältin und engagierten Friedensaktivistin, vorbereitet worden. Mein Name war der erste auf der Liste der Antragsteller – und so wird der Fall „Avnery versus. den Staat Israel“ genannt.
Der von Lasky vorbereitete Fall war logisch und vernünftig. Das Recht der Redefreiheit wird in Israel durch ein spezielles Gesetz nicht garantiert, wird aber von mehreren Grundgesetzen abgeleitet. Ein Boykott ist eine legitime demokratische Aktion. Jeder kann sich entscheiden, ob er etwas kauft oder nicht kauft. Tatsächlich ist Israel voller Boykotts, Geschäfte die z.B. nicht-koschere Lebensmittel verkaufen, werden routinemäßig von den Religiösen boykottiert, und Poster, die zum Boykott eines speziellen Ladens aufrufen, sind in religiösen Stadtteilen weit verbreitet.
Das neue Gesetz verbietet Boykotts im Allgemeinen nicht. Es sondert politische Boykotts einer gewissen Art aus. Doch politische Boykotts sind in jeder Demokratie Gemeinplatz. Sie sind ein Teil der Ausübung der Redefreiheit.
Der berühmteste moderne Boykott wurde 1933 von der jüdischen Gemeinde in den USA begonnen, nachdem die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Als Antwort darauf riefen die Nazis zu einem Boykott aller jüdischen Unternehmen in Deutschland auf. Ich entsinne mich noch an das Datum: der 1. April, weil mein Vater mir an diesem Tag nicht erlaubte, zur Schule zu gehen. (Ich war 9 Jahre alt und der einzige jüdische Schüler in meiner Schule.)
Später schlossen sich alle progressiven Länder zu einem Boykott des rassistischen Regimes in Südafrika an. Dieser Boykott spielte eine große (wenn auch nicht entscheidende Rolle) beim Sturz desselben.
Ein Gesetz kann eine Person gewöhnlich nicht zwingen, eine normale Ware zu kaufen, noch kann es verbieten, sie zu kaufen. Selbst die Gestalter dieses neuen israelischen Gesetzes verstanden dies. Deshalb strafen diese Gesetze niemanden fürs Kaufen oder Nicht-kaufen. Es bestraft jene, die andere dazu aufrufen, vom Kauf Abstand zu nehmen.
So ist das Gesetz ein Angriff auf die Redefreiheit und auf gewaltfreie demokratische Aktionen. Kurz gesagt, es ist grundsätzlich ein anti-demokratisches Gesetz voller Fehler.
Der Gerichtshof, der unsern Fall beurteilte, besteht aus neun Richtern, fast das ganze Oberste Gericht. Solch eine Zusammenstellung ist sehr selten und wird nur dann zusammengerufen, wenn eine schicksalhafte Entscheidung getroffen werden muss.
An der Spitze des Gerichtes stand sein Präsident, Richter Asher Gronis. Das war an sich schon bezeichnend, da Gronis schon das Gericht verlassen hatte und im Januar in den gesetzlichen Ruhestand ging, als er das Alter von 70 Jahren erreichte. Als der Platz leer wurde, war Gronis schon zu alt, um noch Gerichtspräsident zu werden. Nach dem bestehenden israelischen Gesetz, kann ein Richter des Obersten Gerichtes nicht Präsident des Gerichts werden, wenn die Zeit seines Ruhestandes zu nahe ist. Aber der Likud war so eifrig/ dienstbeflissen, ihn als Präsidenten zu haben, dass ein spezielles Gesetz verabschiedet wurde, um ihm zu erlauben, Präsident zu werden.
Außerdem werden einem Richter, der mit einem Fall beschäftigt gewesen ist, den er vor seiner Pensionierung nicht abgeschlossen hat, weitere drei Monate zugestanden, um seinen Job zu beenden. Es scheint, dass sogar Gronis, der Protégé von Likud, bei dieser besonderen Entscheidung Bedenken hatte. Er unterzeichnete es buchstäblich im allerletzen Augenblick – um 17 Uhr 30 am letzten Tag, gerade kurz bevor Israel am Holocausttag zu trauern begann.
Seine Unterschrift war entscheidend. Das Gericht war gespalten – 4 zu 4 – zwischen denen, die das Gesetz annullieren und denen, die es aufrecht erhalten wollten. Gronis schloss sich der pro-Gesetz-Gruppe an, und das Gesetz wurde verabschiedet. Es ist nun das „Gesetz des Landes“.
Ein Paragraph des originalen Gesetzes wurde einstimmig gestrichen. Der originale Text sagte, dass jede Person – d.h. Siedler – die behaupten, dass sie durch den Boykott tatsächlich geschädigt worden seien, unbegrenzten Schadenersatz von jedem beanspruchen können, der zu diesem Boykott aufgerufen hat, ohne beweisen zu müssen, dass sie tatsächlich geschädigt wurden.
Bei der öffentlichen Anhörung in unserm Fall wurden wir von den Richtern gefragt, ob wir damit einverstanden wären, wenn sie die Wörter „die von Israel gehaltenen Gebiete“ streichen würden, das würde den Boykott der Siedlungen unberührt lassen. Wir antworteten, dass wir im Prinzip darauf bestanden, das ganze Gesetz zu annullieren, würden aber das Streichen dieser Worte begrüßen. Aber beim letzten Urteil wurde dies zuletzt nicht getan.
Dies schafft übrigens eine absurde Situation. Wenn ein Professor der Universität in Ariel – tief in den besetzten Gebieten – behauptet, dass ich dazu aufgerufen hätte, ihn zu boykottieren, kann er mich verklagen. Dann wird mein Anwalt versuchen, zu beweisen, dass mein Aufruf ganz unbeachtet blieb und deshalb auch keinen Schaden verursachte, während der Professor beweisen muss, dass meine Stimme so einflussreich war, dass viele Leute vom Boykott ihm gegenüber veranlasst wurden.
Vor Jahren, als ich noch Chefherausgeber von Haolam Hazeh, dem Nachrichtenmagazin, war, entschied ich mich, Aharon Barak als unsern Mann des Jahres zu wählen.
Als ich ihn interviewte, erzählte er mir, wie sein Leben während des Holocaust gerettet wurde. Er war ein Kind im Kovna- Ghetto, als ein litauischer Bauer sich entschied, ihn heraus-zu schmuggeln. Dieser einfache Mann riskierte sein Leben und das seiner Familie, als er ihn unter einer Ladung Kartoffeln versteckte, um sein Leben zu retten.
In Israel brachte er es als Jurist zu einer hohen Stellung und wurde schließlich der Präsident des Obersten Gerichtshofes. Er führte eine Revolution an, genannt „juristische Aktivität“, indem er u.a. behauptete, dass das Oberste Gericht berechtigt sei, jedes Gesetz zu streichen, das der (ungeschriebenen) israelischen Verfassung widerspricht.
Es ist unmöglich, die Bedeutung dieser Doktrin zu überschätzen. Barak tat für die israelische Demokratie vielleicht mehr als irgendeine andere Person. Seine unmittelbaren Nachfolger – zwei Frauen – befolgten diese Regel. Deshalb war der Likud so eifrig, Gronis an seine Stelle zu setzen. Gronis’ Doktrin könnte „juristische Passivität“ genannt werden.
Während meines Interviews mit ihm sagte Barak zu mir: „Sieh, der Oberste Gerichtshof hat keine Legionen, die seine Entscheidungen durchsetzen. Er ist vollkommen abhängig von der Haltung des Volkes. Er kann nicht weiter gehen, als das Volk bereit ist, dies zu akzeptieren!“
Ich erinnere mich ständig an diese Worte. Deshalb war ich nicht sonderlich über das Urteil des Obersten Gerichts in der Boykottsache überrascht.
Das Gericht hatte Angst. Es ist nichts einfacher als das. Und so verständlich.
Der Kampf zwischen dem Obersten Gericht und Likuds extremer Rechten nähert sich einem Scheitelpunkt. Der Likud hat gerade einen entscheidenden Wahlsieg errungen. Seine Führer verstecken ihre Absicht nicht, um endlich ihre finsteren Pläne bezüglich der Unabhängigkeit des Gerichtes in Kraft zu setzen.
Sie wollen den Politikern ermöglichen, das Ernennungskomitee für die Richter des Obersten Gerichtshofes zu beherrschen und so das Recht des Gerichtes nicht verfassungsmäßige Gesetze, die von der Knesset verabschiedet wurden, zu annullieren.
Menachem Begin pflegte den Müller von Potsdam zu zitieren, der mit dem König in einen privaten Streit verwickelt war und der ausrief: „Es gibt noch Richter in Berlin!“
Begin sagte: „Es gibt noch Richter in Jerusalem!“
Fragt sich nur, wie lange noch?
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erschien unter www.uri-avnery.de am 18.04.2015. Alle Rechte beim Autor.