Es war eine verantwortungslose Rede, die Tayyip Erdogan am Sonntagabend im ISS-Dome in Düsseldorf vor rund 10 000 Türken hielt, denen er wahrlich den in der Türkei so oft zitierten „Honig“ um den Bart schmierte: „Ich bin hier, um mit euch eure Sehnsucht zu fühlen, ich bin hier, um nach eurem Wohl zu schauen. Ich bin hier, um euch zu zeigen, dass ihr nicht alleine seid!“ Und dann tat er wieder das, wofür er bereits vor drei Jahren kritisiert wurde, er riet seinen Landsleuten davon ab, sich zu assimilieren. Integration ja, Assimilation nein! „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber zuerst müssen sie Türkisch lernen“. Welche absurden Ratschläge. Man kann den Eindruck gewinnen, er habe sich doch nicht so weit entfernt von den Ideen seines kürzlich verstorbenen ehemaligen Mentors, Necmettin Erbakan. Der redete nämlich immer orakelgleich davon, dass Allah für die Türken, bzw. für die Muslime in Europa einen anderen Plan vorgesehen habe, als dass sie nur zum Geldverdienen kommen.
Die Türkei vermittelt ihren Bürgern seit der Gründung der Türkischen Republik ein überstarkes Nationalgefühl. Atatürk wollte damit seinerzeit den Vielvölkerstaat zu einer Nation zusammen schweißen, ganz nach dem Vorbild der USA. Die Kinder in der Schule werden noch heute jeden Morgen mit patriotischen Atatürk-Zitaten auf den Tag eingestimmt, die Nationalhymne wird jeden Freitagnachmittag nach dem Unterricht zelebriert, dann erst werden Schüler und Lehrkräfte ins Wochenende entlassen. Seit die Regierung Erdogan das Ruder übernommen hat, kommt zu dem Nationalismus auch noch das religiöse Selbstverständnis dazu. Das Kopftuch der Emine Erdogan machte als islamisch-modisches Accessoire eine große Karriere. Viele Frauen „hübschen“ sich damit auf und niemand soll meinen, sie würden dazu von ihren Vätern oder Männern gezwungen. Dieses Kopftuch ist das Symbol einer neuen, religiös inspirierten, Mittelschicht, die durch Erdogan zu einem nicht sonderlich sympathischen Selbstbewusstsein gefunden hat. Dieses Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl versucht der türkische Ministerpräsident nun auch den Türken in Deutschland zu vermitteln.
Erdogans Wählerschicht besteht größtenteils aus der Landbevölkerung, die in die Ballungszentren drängt. Es sind diejenigen, die jetzt „ran an die Wurst“ wollen, denn sie wurden von den Kemalisten sträflich vernachlässigt. Hier zeigt sich auch das große Versagen der türkischen Sozialdemokraten (CHP) über Jahrzehnte. Die nicht besonders gläubige, aber ungebildete Dorfbevölkerung wurde belächelt und das Bildungsbürgertum schaute naserümpfend auf sie herab. Nur während der Wahlkämpfe verirrten sich Politiker in die ländlichen Regionen, um Kreuze auf den Wahlzetteln einzusammeln. Aber Erdogan machte sie zu seinen „Geschwistern“, gab ihnen ein neues Selbstwertgefühl und machte außerdem die Religion gesellschaftsfähig. Als die Kemalisten durch Erdogan ihre Felle davon schwimmen sahen, versuchten sie mit einem „tiefen Staat im Staat“ Unruhe im Land zu stiften, unterstützten Anschläge und ließen Christen ermorden, weil sie glaubten, sie könnten noch einmal die Uhr zurück drehen. Doch sie unterschätzten Erdogan und seine Leute. Jetzt stehen etwa 200 ehemalige Militärangehörige, unter ihnen Generäle, vor Gericht oder sind bereits verurteilt und inhaftiert.
Wie „spannend und wichtig“ das Experiment der Türkei unter Erdogan wirklich ist, bleibt abzuwarten. Tatsache jedenfalls ist, dass das „Modell Türkei“ für den gegenwärtigen Umbruch in der arabischen Welt von großer Bedeutung unter der Bedingung sein kann, dass auch die Minderheiten die gleichen Rechte erhalten.