Eins auf die Fresse – Gerardo Milszsteins Dokumentation „Friedensschlag“ zeigt „Das Jahr der Entscheidung“ junger Straftäter

Was für andere Menschen Alltag ist, bedeutet für die Mehrfachstraftäter ein schier unüberwindliches Hindernis. Regeln anerkennen, Termine einhalten, sich an Übereinkünfte halten. Der Kampf beginnt morgens mit dem Wecken. Wozu aufstehen? Sozialstunden ableisten? Schikane. Boxen? Hat doch nichts mit der Ausbildung zu tun, welche den Teilnehmern als Ziel vor Augen steht. Ohne belehrende Worte zeigt Milszsteins Dokumentarfilm, dass jede der in den Augen der Protagonisten belanglosen Aufgaben ein weiterer Schritt auf dem Weg in eine normale Existenz ist. Insgeheim scheinen sie sich nach einer solchen zu sehnen: „Eine Familie und so ´nen Kack. Was die anderen Idioten auch haben.“ Dass dieses normale Leben auch ihnen zusteht, müssen die Protagonisten erst lernen. Noch steht ihre Angst dazwischen. Mehr noch ihre Wut. Ständig fallen die gleichen Sätze. Kein Bock mehr. Ist doch alles Scheiße. Mir egal. Mach doch, und wenn schon. Geh ich eben ins Gefängnis. Dem permanenten Affront begegnen die Projektleiter mit dem unermüdlichen Versuch, das Selbstbewusstsein der Teilnehmer zu stabilisieren. Unter deren nach außen hin zur Schau getragenem Übermaß an Selbstsicherheit verbirgt sich tiefe Verunsicherung. Nähe zuzulassen bedeutet die größte Hürde für die Jugendlichen. Jemanden an sich heran lassen heißt, verwundbar zu sein. Verletzungen tragen sie genug auf der Seele.

Über ihre Familien sprechen die Jungen ungern. Vage entsteht das Bild eines pathologischen familiären Umfeldes ohne Wärme, Anteilnahme und Struktur. Bestenfalls ist dieses Umfeld gleichgültig, schlimmstenfalls gewalttätig. 97 Prozent der Täter waren selbst Gewaltopfer. Er sei immer mehr fürs Reden gewesen, erzählt einer der jungen Männer. Aber das wollten die anderen nie. In raren, eindringlichen Szenen gelingt es „Friedensschlag“, seine jungen Protagonisten in nachdenklichen Momenten zu zeigen. Fast verstohlen scheint dieses Nachsinnen. Machen nur Schwächlinge, schmerzt nur, macht nur durcheinander. „Umso mehr du nachdenkst, umso verwirrter wirst du.“, sagt Josef. Mit sechzehn Jahren ist er der Jüngste bei der „Work and Box Company“. Die Ältesten sind Anfang Zwanzig. Auf Verständnis hofft kaum einer der Projektteilnehmer. Dass ihre Betreuer sich nicht nur professionell, sondern persönlich für sie interessieren, können sie zu Beginn kaum begreifen. „Dicht machen, das kannst du gut.“, hält einer der Betreuer dem hartnäckigen Schweigen seines Gegenübers entgegen. Die emotionale Abschottung dient den jungen Kriminellen als Schutzschild. Darunter verbergen sich verunsicherte, zu früh erwachsen gewordene Kinder. Ihr Gebaren schwankt zwischen unreifem Trotz, Drohverhalten und Herumalbern.

Milszstein beobachtet seine Figuren beim obligatorischen Boxtraining, bei der Austragung von Konflikten untereinander und mit ihren Betreuern, beim Alleinsein. Einsam wirken sie alle, trotz des großspurigen kameradschaftlichen Gestus untereinander. Kumpel und Homies scheinen sie viele zu haben. Echte Freunde – man weiß es nicht. Ohne zu verurteilen oder zu verharmlosen zeigt „Friedensschlag“ das Ringen der Jugendlichen um Selbstbehauptung und das der Betreuer um ihre Projektteilnehmer. Trotz gelegentlicher stilistischer Entgleisungen in die protzige Ästhetik eines Musikvideos überzeugen das Engagement und die Anteilnahme, mit denen sich „Friedensschlag“ dem Thema jugendlicher Gewaltbereitschaft widmet. Vom Aufgeben sprechen die Teilnehmer der „Work and Box Company“ ständig. Die wenigsten tun es. Über 80 Prozent der Täter gewinnen den Kampf für ein normales Leben.

Titel: Friedensschlag – Das Jahr der Entscheidung

Land/ Jahr: Deutschland 2010

Genre: Dokumentarfilm

Kinostart: 15. April 2010

Regie und Buch: Gerardo Milszstein

Kamera: Gerardo Milszstein

Laufzeit: 107 Minuten

Verleih: Piffl Medien

www.friedensschlag.de

Vorheriger ArtikelDu sollst dir kein Bildnis machen – Oliver Parker zeichnet in seiner dritten Wilde-Adaption „Das Bildnis des Dorian Gray“
Nächster ArtikelKein Aprilscherz: Volkstheater Rostock aus dem Staatseigentum »entlassen«