Wichtiger war der Fotografin sicher die gesellschaftliche Wirkung ihrer Fotografin. Aber geschärft durch diese geglückte Formvollendung bei den Nonnen, versuchen wir dem fotografischen Blick der Abisag Tüllmann auf den hier aufgehängten Beispielen zu folgen, Wand für Wand schauen wir, welche formalen Merkmale wir finden und finden doch am Schluß nichts oder auch alles. Es gibt kein Maß, das man nehmen könnte, um ihre vielen Fotos über einen Kamm zu scheren. Sie ist einfach da und drückt ab, wo immer ihr das inhaltlich wichtig ist. Allerdings ist etwas ersichtlich. Sie liebt das Menschenfotografieren und das direkte Herangehen. Aber auch diese Aussage wird konterkariert, durch Aufnahmen wie das der Familie, klein und fein und ordentlich, vor der Hochhauskulisse der Nordweststadt, denn diese hohen Häuser waren damals Hochhäuser, und so fotografiert sie Tüllmann 1965 auch. Eine unwirkliche, ungemütliche, aber real existierende Stadt in der Wüste.
So schreibt Abisag Tüllmann so nebenbei auch eine Kulturgeschichte dieser Jahrzehnte. Oder kann sich jemand heute ein Bild wie das von 1967 vorstellen, wo am Offenbacher Mainufer ein Auto am anderen steht und die Insassen, meist Männer in schwarzen Anzügen, herausgetreten sind und Autowäsche betreiben. Nicht nur die DKWs und kleinen Opel oder VWs, nein auch den Mercedes können wir identifizieren. Solche Bilder sagen mehr als soziologische Erklärungen über eine gewisse Zeit. Völlig zeitlos dagegen all die Fotos, wo Paare im Freibad oder sonstige Gefühlsbeziehungen eine Rolle spielen.
Wiederum anders, nur dem Moment gelebt, aber für Wiederholungen vorgesehen, sind ihre Theaterfotografien. Claus Peymann weiß hoffentlich was er an seiner Dokumentaristin der Stuttgarter, Bochumer und Wiener Jahre hat! Denn seine Inszenierungen und er selbst auch stehen eindeutig im Mittelpunkt. Aber wir entdecken auch Luc Bondy, Andrea Breth, Peter Stein, George Tabori, Robert Wilson, Ruth Berghaus, Einar Schlef und viele viele berühmte Schauspieler. Wie das alles zusammenkommt? Wie sie das Interesse für die Welt mit dem für die erfundene, gestaltete Welt auf der Bühne vereinbarte, dann aber auch noch bei allen großen Kunstausstellungen wie der documenta oder der Biennale von Venedig dabei war und und”¦
Sie selbst sagte dazu 1989: „Ich erkunde mit meinen Kameras beides, die politische, soziale und literarische Welt, soweit sie sich auf den Brettern der Bühne manifestiert, mit derselben Neugierde.“ Das Besondere an ihr ist also ihr Arbeitspensum, verbunden mit ihrer Vielseitigkeit und Neugierde, die sie zum fotografischen Festhalten der Welt, ihrer Welt, zwangen. Nicht von allem etwas, sondern von allem viel. Wir haben nun etwas davon.
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Info:
Ausstellung bis 27. März 2011
Das umfangreiche Begleitprogramm entnehmen Sie bitte der Webseite
Katalog und Begleitbuch: Abisag Tüllmann 1935-1996. Bildreportagen und Theaterfotografie, hrsg. von Martha Caspers, mit Beiträgen von insgesamt sechs Frauen(!), Verlag HatjeCantz. Wie in der Ausstellung sind die Themenbereiche gegliedert in „Schauplatz Großstadt“ und die Auseinandersetzung mit der Reportage in der Bildsequenz, ihre Arbeiten für den Film, die Spannweite des gedruckten Werks, Kunst und Theater, Biographischen Angaben und: dem Abdruck der Fotos, von denen auf 16 Seiten auch Buntdrucke sind, allerdings alle aus der Theaterwelt, aber dann ebenfalls 16 Seiten ihre Reisen ins bunte Bild bringen. Dennoch genießt man geradezu das Schwarz Weiß und wundert sich, warum man eigentlich Farbfernsehen hat, so minimalistisch bringt dieses Schwarz Weiß die abgebildeten Menschen zur Leuchtkraft. Sie war eine Menschenfotografiererin, das weiß man auf einmal.