Frankfurt am Main, Deutschland (Weltexpress). Neben der großen Magritte-Ausstellung (wir berichteten) gibt es nun einen weiteren überzeugenden Grund, die Kunsthalle Schirn in Frankfurt zu besuchen: Die große Richard Gerstl Retrospektive, seit einem Vierteljahrhundert die erste umfassende Präsentation von Gerstls Werk nach der Austellung im Kunstforum der Bank Austria in Wien 1993 und die erste große Gerstl-Ausstellung in Deutschland überhaupt, lenkt die Aufmerksamkeit endlich auf einen Künstler, der in Wien kurz nach 1900 schon zu neuen, expressionistischen Ausdrucksformen fand und seine Zeitgenossen einfach hinter sich ließ.
Gerstl, 1883 als Kind einer gutsituierten Familie in Wien geboren, erweist sich früh als hochbegabt und kann sich dank der finanziellen Unterstützung seiner Eltern ohne Zwänge seiner künstlerischen Ausbildung widmen. Dabei ist sein Lebensweg fern jeder Gradlinigkeit: Mit der akademischen Malerei überwirft er sich genauso wie mit den Vertretern der Wiener Sezession, Gustav Klimt wird ihm zum Inbegriff einer zu gefälligen Ästhetik und auf seine einzige reale Möglichkeit, seine Werke in einer Ausstellung zu präsentieren, verzichtet er, da dort auch Klimt vertreten ist. In der kurzen Zeit der vier bis sechs Schaffensjahre bis zu seinem frühen Tod entstehen etwa 80 Werke, von denen 60 erhalten sind. 53 davon präsentiert die Schirn in ihrer Ausstellung.
Sein Hauptsujet sind Einzel- und Gruppenportraits, nur zuweilen durch Landschaftsansichten ergänzt. Ein Ausstellungsbereich präsentiert die frühen Werke, Portraits des Vaters, seines Freundes Unger und Frauen des Bekanntenkreises. Schon hier beginnt sichtbar zu werden, wie Gerstl nicht nur die Tendenzen des Impressionismus aufnimmt, sondern sie schon so weiterentwickelt, dass diese Bilder nicht den Erwartungen der Dargestellten entsprechen und zurückgewiesen werden. Zwei Motive aber werden beherrschend: In zahlreichen Selbstportraits versucht er, die eigene Persönlichkeit mit malerischen Mitteln auszuloten, der zweite Schwerpunkt sind Bilder der Familie des Komponisten Arnold Schönberg, zu dem und zu dessen „Schönberg-Kreis“ er Zugang findet, auch indem er Schönberg und seiner Frau Malunterricht erteilt. Damit aber beginnt eine unheilvolle Entwicklung: Schon bald überwiegen die Portraits von Mathilde Schönberg, die er immer wieder abbildet und zu der er eine Liebesbeziehung entwickelt, die von Mathilde erwidert wird. Kurzzeitig „brennen beide sogar durch“, doch Mathilde kehrt zu ihrem Ehemann zurück (nachdem dieser mit Entzug der Unterstützung und des Erbes droht) und für Gerstl bricht seine Welt zusammen, zumal er jetzt vom Schönberg-Kreis „gemobbt“ wird. In seinem letzten Bild malt er Mathilde schonungslos als Akt – ein finaler Blick auf die Geliebte. Am 4. November 1908, noch nicht einmal 25 Jahre alt, sieht Gerstl wohl für sich keine Lebensperspektive mehr – er erhängt sich, und – da er der Schlinge wohl nicht ausreichend vertraut – ersticht er sich zugleich.
Die Familien Schönberg und Gerstl, vor allem Richards sehr katholische Mutter, vertuschen Affäre wie Selbstmord erfolgreich und lagern Richards Werke in einer Spedition ein, von wo sie erst Jahre später durch Gerstls Bruder wieder hervorgeholt werden.
Die ganze Tragik des Künstlers zeigt die Ausstellung gleich beim Betreten der Ausstellungshalle: Ein früher Halbakt von 1902/4 hängt neben seinem letzten Selbstbildnis, ein vollständiger Akt, gemalt kurz vor seinem Selbstmord, der Verletzlichkeit wie Trotz zugleich ausstrahlt.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 14.Mai 2017, danach wird sie ab 29. Juni in der Neuen Galerie in New York zu sehen sein. Neben den schon von der Schirn gewohnten unterstützenden Medien im Netz gibt es auch ein neues Format, das Schirn-Studio. In kostenfreien Veranstaltungen soll Kindern und Jugendlichen ein Zugang zur Bildenden Kunst und auch zu dem Maler und der Ausstellung geboten werden. Sehr geeignet für Großeltern, die, da die berufstätigen Eltern nachmittags ja meist keine Zeit haben, den Enkeln nachhaltige Bildung bieten wollen.