„Ein Revolutionär ist gefallen“: Giangiacomo Feltrinelli – Aus den besitzenden Schichten kommend, schlug er sich auf die Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten und scheute sich nicht, sein Leben einzusetzen

Giangiacomo Feltrinelli 1970 Quelle: Fondazione Feltrinelli

Berlin, Deutschland (Weltexpress). 2024 ist in Italien daran zu erinnern, dass vor 75 Jahren Giangiacomo Feltrinelli seine nach ihm benannte Bibliothek mit Verlag gründete, die heute in der „Fondazione Feltrinelli“ in Mailand in der so genannten „laizistischen Kathedrale“ an der antiken Stadtmauer unweit der Porta Garibaldi ihr Domizil hat. Die Fondazione umfasst rund 1,5 Millionen Archivblätter, mehr als 270.000 Bücher, 17.000 Zeitschriften und eine Sammlung von rund 14.000 politischen Plakaten. Zu den bibliophilen Schätzen gehören die Erstausgaben von Marx und Engels, darunter Originalschriften von Marx sowie zahlreicher Vertreter der deutschen Sozialdemokratie, so von Ferdinand Lassalle, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein und Franz Mehring. Auch die Manuskripte Gracchus Babeufs sowie Pierre-Joseph Proudhons, Originalschriften von Bakunin und drei komplette Ausgaben der „Iskra“ werden hier aufbewahrt. Das ist in Europa eine der umfassendsten Sammlungen zur Geschichte der Arbeiter- und sozialer Bewegungen. Unter dem spitzen Glasdach befinden sich täglich geöffnete Veranstaltungsräume für rund 200 Besucher, darunter ein Lesesaal, in dem das Original einer roten Fahne der Pariser Kommune von 1871 zu bewundern ist. Das andauernde große Interesse an der Hinterlassenschaft des legendären Verlegers, Antifaschisten und Kämpfers für sozialen Fortschritt konnten die Diffamierungen Feltrinellis als „frenetischer Aufhetzer“, „führender Agent Castros“, der „alles finanzierte, was er für die Revolution hielt“, durch die bourgeoisen Medien nicht aufhalten. Sein Sohn Carlo Feltrinelli, der nach dem Tod des Vaters die Leitung des Familienunternehmens übernahm hat 1999 einen spannenden Bericht über das Leben seines Vaters vorgelegt. [1] Er handelt von einer der schillerndsten Persönlichkeiten der italienischen Nachkriegsgeschichte, von einem Menschen, der, aus den besitzenden Schichten kommend, sich auf die Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten schlug, Opfer und Entbehrungen auf sich nahm, und sich nicht scheute, sein Leben einzusetzen, sich aber auch nicht auf die Ebene eines Parias begab. Das Buch ist noch heute ein eindrucksvolles Bekenntnis zu Leben, Arbeit und Kampf Giangiacomo Feltrinellis, oder, wie der Carl Hanser Verlag zur deutschen Ausgabe schrieb, die „nachgetragene Liebe eines Sohnes zu seinem Vater“.

Freund Castros und Che Guevaras

Aus einer reichen Unternehmerfamilie stammend, nahm der 1926 geborene Feltrinelli an der Resistenza teil und kommandierte bereits als junger Kämpfer eine Partisaneneinheit. 1946 trat er der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) bei, die er Ende der 50er Jahre u. a. wegen Meinungsverschiedenheiten zum linken Spektrum wieder verließ. Mit der Gründung der Bibliothek mit Verlag 1949 begann er seine unternehmerische Tätigkeit, eröffnete zwei Jahre später seine erste Buchhandlung. In seinem Verlag erschienen Boris Pasternaks „Dr. Schiwago“, ein Jahr nach dem Tod des Autors 1958 die Erstauflage von Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Leopard“, später Che Guevaras Tagebuch, die seinen Weltruf als Verleger begründeten. Er gab auch Lord Russels Geschichte der Nazikriegsverbrechen und Protokolle der Weltkongresse der Komintern und ihrer Zeitschrift „Internationale Pressekorrespondenz“ (Inprekorr), die auch in Deutsch erschienen, heraus. Zu seinen Lektoren gehörten Primo Moroni und Nanni Balstrini (Die goldene Horde). [2]
Weniger publik ist, dass ein weltweit bekannt gewordenes anonymes Interview nach dem Sechstagekrieg mit Jassir Arafat von Feltrinelli stammte. Er war persönlich mit Fidel Castro und Che Guevara, bei dem er sich einige Zeit in Bolivien aufhielt, befreundet und sympathisierte mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die er auch finanziell unterstützte, was ihn früh ins Visier der CIA rückte. Er beteiligte sich auch an der Finanzierung des Vietnamkongresses am 17. und 18. Februar 1968 in Westberlin. Den Studentenführer Rudi Dutschke lud er, nachdem dieser bei einem Attentat am 11. April 1968 schwer verletzt worden war, zu einem Genesungsaufenthalt bei sich ein.
In Italien wandte er sich angesichts der zunehmenden schwarzen Umtriebe der außerparlamentarischen radikalen Linken zu und unterstützte ihren Widerstand gegen die faschistische Gefahr. Diese fühlte sich der in den USA, Lateinamerika, Westeuropa, Japan und in einigen Entwicklungsländern entstehenden „neuen Linken“ zugehörig. Anfang der 1970er Jahre ging diese auch in Westeuropa teilweise zum bewaffneten Kampf gegen faschistische Entwicklungen über. Darauf wirkten u. a. der USA-Krieg in Vietnam, Black Power in Nord-, Guerillakämpfe in Südamerika, siegreiche Befreiungskämpfe in der Dritten Welt, vor allem in Vietnam, aber auch in Palästina ein. Unterschiedliche Leitfiguren reichten von Che Guevara und Ho Chi Minh über Mao Zedong bis zu Jean Paul Sartre, Rudi Dutschke oder Ulrike Meinhof.
In Italien, Heimatland des Anarchismus, erwuchsen ihr daraus zusätzliche Triebkräfte, war sie außerdem stärker in der kommunistischen und sozialistischen Bewegung verwurzelt, gehörten ihr Söhne, Töchter und Enkel von Partisanen der Resistenza an. Viele glaubten mit bewaffnetem Widerstand gegen faschistische Putschversuche und schwarzen Terror im Geiste der Resistenza zu handeln und wie diese in der Tradition des Volkshelden Garibaldi zu stehen.

Das Field manual 30-31 der CIA

CIA und NATO lenkten die faschistischen Putschversuche und nutzten das linksradikale Potenzial für ihre Zwecke. Das USA-Repräsentantenhaus gab 1968 entsprechende Empfehlungen. Das Pentagon erließ 1970 ein Field manual (Feldhandbuch) mit Instruktionen zur Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen. [3] Die Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro, der mit der IKP ein Regierungsabkommen geschlossen hatte, im Frühjahr 1978 durch die von Geheimdienstagenten unterwanderten und manipulierten Roten Brigaden wurde exakt nach den Weisungen des Feldhandbuches durch diese geplant und gesteuert.
Die Ereignisse 1956 in Ungarn verfolgte Feltrinelli mit Unbehagen, er befürchtete eine Isolierung der IKP. „Wir stehen bis zum Hals in der Scheiße“, kommentierte er und forderte mit einer Gruppe Intellektueller, die IKP-Führung möge sich kritisch zur Militärintervention äußern, was diese, anders als 1968 in Prag, ablehnte. Als die Faschisten dann auf den Straßen in Rom brüllend gegen die IKP vorgingen und zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung aufriefen, den sie später mit gleichgesinnten Militärs und NATO-Unterstützung mehrfach versuchten, bezog er Position gegen die Nachfolger Mussolinis.
1969 trat die von der CIA und ihren italienischen Partnern organisierte Spannungsstrategie, die einem faschistischen Regime den Weg bereiten sollte, in ihre heiße Phase. Ihre Spuren wurden nach links gelenkt. [4] So wurde auch versucht, Feltrinelli, der dabei war, illegalen Widerstand für den Fall einer faschistischen Machtergreifung vorzubereiten, für einen Anschlag auf den Fiat-Stand auf der Mailänder Messe im April 1969 verantwortlich zu machen. Man konnte ihm jedoch nichts nachweisen. Nach dem faschistischen Anschlag im Dezember 1969 auf die Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana in Mailand (16 Tote, über 100 Verletzte), dessen Spuren die Geheimdienste nach links lenkten, wurde er zu einem der Hauptverdächtigen gemacht, seine Wohnung und die Verlagsräume durchsucht. Am 15. März 1972 wurde in Segrate bei Mailand unter einem Hochspannungsmast die verstümmelte Leiche eines Mannes gefunden. Das vom Körper abgerissene rechte Bein lag sechs Meter entfernt am Boden. Am Körper des Toten und auf dem Boden verstreut lagen einige Dutzend Sprengkörper und Dynamitstäbe, in einer Hosentasche ein Zünder mit einer Packung Tritol. Nur wenige Sprengkörper waren explodiert und hatten einige Eisenstäbe des Mastes abgerissen. Der Tote, in dessen Taschen ein gefälschter Ausweis und dazu auch noch ein paar kubanische Pesos steckten, wurde sofort als Giangiacomo Feltrinelli identifiziert. Als man ihn am Morgen fand, war er bereits etwa 15 Stunden tot.
Der Tod des Verlegers wurde von dem die Untersuchung leitenden Mailänder Polizeikommissar Luigi Calabresi, der später als Agent der CIA entlarvt wurde, als Unfall bei einem Sprengstoffanschlag dargestellt. Calabresi hatte bereits nach dem Attentat im Dezember 1969 in Mailand die zu den Faschisten führenden Spuren beseitigt und über 300 Personen aus Kreisen der Anarchisten und der außerparlamentarischen Linken als an dem Anschlag Beteiligte verhaftet. Genauso ging Calabresi bei Feltrinelli vor. Dabei sprach von Anfang an alles dagegen, dass es sich um einen Unfall handelte. Feltrinelli, der sich bedroht fühlte, hätte niemals einen solch abenteuerlichen Anschlag begangen und ihn als militärisch erfahrener Partisanenkommandeur obendrein derart stümperhaft ausgeführt. Auffällig war auch, dass das Gesicht des Toten keinerlei Verletzungen aufwies und er ein Foto seiner Frau und seines Sohnes bei sich trug, was seine rasche Identifizierung glaubhaft machen sollte. Als kurze Zeit später zwei angebliche Begleiter Feltrinellis entdeckt wurden, verdichteten sich die Hinweise, dass der Verleger einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Es handelte sich bei beiden um Faschisten, die in eine linksradikale Gruppe eingeschleust worden waren. An ihren Schuhen befanden sich Schlammspuren des Ackers von Segrate.
Zum 40. Todestag Feltrinellis ging aus einem Bericht des Mailänder „Coriere della Sera“ vom 14. März 2012 hervor, dass der Carabinieri-General Giovanbattista Palumpo, der der faschistischen Putschloge P2 angehörte, und bereits 1963/64 an den Planungen eines faschistischen Putsches des Befehlshabers des Carabinieri-Korps, General Giovanni De Lorenzo, beteiligt war, persönlich die Verfolgung der faschistischen Attentäter des Anschlags in Segrate verhinderte.

„Ein Revolutionär ist gefallen“

Aber diesen Spuren ging Calabresi nicht nach. Der „Unfalltod“ des Verlegers war Anlass für eine neue Hexenjagd auf Anarchisten und andere Linksradikale, vor allem aber – da er sich „zufällig“ wenige Wochen vor den Parlamentswahlen ereignete – auf die IKP. Ziel war, ihr eine Wahlniederlage zu bereiten, was jedoch nicht gelang, ihre Stimmen stiegen von 26,9 (1968) sogar auf 27,2 Prozent an.

Die linksradikale Potere operaio (Arbeitermacht) [5] schrieb in ihrer Zeitung: „Ein Revolutionär ist gefallen“ und gab bekannt, dass Feltrinelli den neuen Gruppi d’Azione Partigiani (GAP) [6] angehörte und den Nom de Guerre Osvaldo führte. Die Zeitung betonte, dass er nicht, wie die „Unità“ über den Abtrünnigen ihrer Partei schrieb, „tragisches Symbol eines Scheiterns“, Sinnbild intellektuellen Aufbegehrens gegen das System der Ausbeutung und Unterdrückung, gekennzeichnet von den anarchistischen Zügen der 68er Bewegung war, sondern ein konsequenter Antifaschist, so wie er Anhänger der antikolonialen Befreiungskämpfe war.

Anmerkungen:

[1] Carlo Feltrinelli: Das Leben meines Vaters, München/Wien 2001 (deutsche Ausgabe).
[2] Ein informatives Buch über Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneten Kampf in Italien. Verlag Schwarze Risse, Berlin 1994.
[3] Regieanweisungen aus den USA. Das Feldhandbuch „Field Manual 30-31B zur Ausschaltung »nicht freundlich gesinnter Regierungen“.
[4] „Panorama“, Mailand, Nr. 622/1978.
[5] Zusammen mit Lotta Continua (Ständiger Kampf) einflussreichste, von Antonio Negri Ende der 68er Jahre mit begründete Apo-Organisation (beide Zehntausende Mitglieder).
[6] Während der Resistenza überwiegend aus Mitgliedern der IKP bestehende Partisanengruppen, die vor allem in den Städten operierten. Richtiger Name „Gruppi di Azione Patriotica“.

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