Denn das war wieder einmal so eines dieser Art: Vorwärts, Unioner, kämpfen und siegen. Nach einem 0:2-Rückstand bereits innerhalb der ersten sechs Minuten rackerten sich die Eisernen noch zu einem 3:2-Sieg.
Ein lieber Freund und ganz eiserener Unioner musste am vergangenen Sonnabend dieses kaum zu ertragende Leid erfahren. Irgendwo in einer stickigen Bude inmitten der tobenden Hauptstadt war er dazu verdammt, mehr oder weniger begabten Schreiber-Lehrlingen die Geheimnisse des Geisterschreibens beizubringen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dabei etwas Vernünftiges rausgesprungen ist, mal abgesehen von dem Honorar, dass meinem ansonsten an Bleistift und Hungertuch nagenden Autorenkollegen samt seiner Familie für die nächsten Wochen die morgendliche Schrippe und das Dach über dem Kopf sichert.
„Na ja“, milderte er im voraus mein Mitleid ab, „mein Blocknachbar wird mich aktuell vom Spiel informieren.“ Welch ein Masochist. Wahrscheinlich liegt sein smartes Mobiltelefon vorn auf dem Lehrerpult, nach sechsundzwanzig Sekunden macht es leise „Pling“ und mit einem Auge liest der Gute: „Stuff macht Stuss – Pauli führt 1:0.“ Der eine oder andere seiner Schüler wird ein leichtes Erbleichen auf dem Gesicht ihrer Lehrkraft erkennen. Okay, es sind ja noch 90 Minuten zu spielen, beruhigt er sich. Nur fünf Minuten später die nächste Hiobsbotschaft: „Wieder Stuss von Stuff – 0:2.“ Nun sammeln sich schon Tropfen kalten Schweißes am Brillenrand meines verehrten Kollegen. Sicherheitshalber setzt er sich und überlegt, ob er nicht eine zusätzliche Pause einlegt. Aber ein Schluck aus der Wasserflasche muss genügen. Er hört die jetzt ganz deutlich den Gesang, der von den Tribünen schallt. Das Jubeln der braun-weiß gewandeten im Gästeblock und den trotzigen Gesang aus 20 000 eisernen Kehlen, der pausenlos und immer stärker über die Wipfel der Bäume der angrenzenden Wuhlheide über die Stadt wabert. Kämpfen und siegen, dass gilt jetzt auch für ihn. Aus seinem Arbeitsplatz wird ein Kampfplatz für Union. Das Lehrthema wird etwas variiert. Die Ghostwriter-Novizen solen sich in die Haut eines Veteranen versetzen, der sein bewusstes Leben lang jedes Wochenende seinem geliebten Fußballverein folgt, sämtliche Tribünen der Stadien zwischen Köpenick und Sandhausen, Bochum und Ingolstadt oder Aalen und Köln kennt. Der in rot-weißem Bettbezug schläft und jedes seiner Enkel als Vereinsmitglied hat einschreiben lassen. „Strafstoß für uns“, meldet der kleine blaue Bildschirm. „Tusche,“ denkt er sofort oder war ihm der Spitzname des Union-Kapitäns gar laut über die Lippen gesprungen? Immerhin schauen einige Schüler etwas irritiert. „Tor, Tor, Tor“, blinkt das Telefon. Es ist die 36. Spielminute. Da geht noch was, weiß er jetzt und verkündet: „Kleine Rauchpause, 15 Minuten.“
Er ruft seinen Informanten im Stadion an. Aber keine Reaktion. Wahrscheinlich hört der nichts in dem Lärm dort. Klar, jetzt ist die Hölle los. Die rennen nun wie verrückt an. Tschauner, im Pauli-Tor hat jetzt garantiert die Hände voll zu tun. Nach zehn Minuten neues vom Liveticker im Telefon: „Halbzeit. 1:2, aber wir sind dran. Obwohl – die Paulianer sind kreuzgefährlich, vor allem über links mit Bartels. Stimmung Wahnsinn. Irre Choreografie zu beginn auf allen Tribünen.“
Weiter im Seminar. „Ihr müsst von eurem Haupthelden immer mehr wissen, als ihr dann für seine Biografie aufschreibt“, hört er sich sagen. „Jedes kleine Detail sagt euch etwas über die Person. Also fragen und nachfragen. Aber Vorsicht, immer daran denken, das Fragen auch verletzen können.“ Hoffentlich ist es endlich vorbei, denkt er dabei und schaut auf sein Smartphon. Das ist still. Nein, 56. Minute: „Ausgleich!!! 2:2 durch Adam. Nemez hat wieder eingeköpft. Alles tobt.“ Der letzte Satz – völlig überflüssig, denkt er. Ich bin doch dabei, singe mit, brülle mir die Seele raus. Und ich weiß – jetzt können wir es schaffen, müssen es ganz rumbiegen.
„Terodde kommt für Kreilach 67. Minute.“ Wusste ich doch, Neuhaus setzt jetzt voll auf Sieg. So muss es sein bei uns. Der persönliche Nachrichtendienst gestaltet sich fortan mitteilsamer. Die Meldungen häufen sich von zahlreichen Chancen. Die Konzentration des Seminarleiters schwindet bedenklich. Ein freudiges Gefühl breitet sich immer stärker in ihm aus. „3:2, Simon Terodde mit dem Kopf.“ Es ist die 86. Minute des Spiels. Beinahe wär der Empfänger der Nachricht aufgesprungen. Mühsam hält er sich am Stuhl fest. Bald darauf ist das Spiel zu Ende. „Sieg, Sieg, Sieg“, jubelt das Telefon. Der verhinderte Unioner weiß zuletzt gar nicht mehr wie er das Seminar zu Ende geführt hat. Erst in seiner Stammkneipe an der Ecke, wo er sich mit seinem Stadionkumpel trifft, ist die Welt halbwegs wieder im Lot. Es wurde noch ein langer Abend. Zum Glück kommt ja bald das Honorar.