Männer gab es kaum noch, denn die starben als Kanonenfutter in den deutschen Armeen an der Front, waren verhungert oder in Kriegsgefangenschaft. Ich kann mich noch gut erinnern, dass noch in den 60er Jahren der eine oder andere Vater als Krüppel, als Kranker oder einfach als gebrochener Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte und wir Kinder konnten kaum verstehen, wie das alles zusammen hing. Es gab also kaum Männer, die beim Aufbau des Landes helfen konnten und so mussten diese eben importiert werden. Wir spielten in und neben Ruinen, zerbombten Häusern, leerstehenden Fabriken. Diese Ruinenlandschaft gehörte noch lange nach Kriegsende zum täglichen Bild in Deutschland. In genau diesen "Bruchbuden" ließen sich die ersten "Gastarbeiter" nieder. Sie kamen aus Griechenland, Italien, Spanien und dann immer öfter aus der Türkei, waren anspruchslos und bescheiden und kamen nur zum Arbeiten. Ob man das einsehen will: Diese Männer und auch Frauen, die nach Deutschland kamen, waren maßgeblich an dem "German Wirtschaftswunder" beteiligt.
"Gastarbeiter" – was für ein komisches Wort, fand ich schon damals. Einen Gast lässt man nicht arbeiten und ein Arbeiter ist kein Gast. Aber der Begriff des Gastarbeiters sollte ja auch nicht so wörtlich genommen werden, sondern sollte klarstellen, dass diese Arbeiter nur vorübergehend zum Arbeiten da waren und schnell wieder ausgetauscht werden sollten. Was dann passierte, kann ich hier nicht aufklären. Nur so viel: Niemand kümmerte sich darum, ob diese arbeitenden Gäste nun blieben oder gingen, ob sie ihre Familien nachholten oder nicht, ob sie die deutsche Sprache beherrschten oder nicht. So lange sie arbeiteten, billige Arbeitskräfte waren, so lange sie sich in sogenannten "Ghettos" aufhielten, lebten sie irgendwie am deutschen Alltag vorbei. Sie fanden einfach kaum Beachtung. Beachtung fanden sie erst, als türkische Viertel in den Großstädten entstanden, als ihre Kinder in die Schulen und Universitäten drängten und vor allem, als Moscheen gebaut wurden. Da auf einmal verstanden die Deutschen, dass sie bereits seit Jahrzehnten türkische Nachbarn hatten, die ihnen so jedenfalls nie aufgefallen waren. Und jetzt? Jetzt sind sie da! Manche haben sich integriert, manche nicht. Manche haben sich sogar assimiliert und manche sind schon längst wieder in ihre Heimat zurück gekehrt. Unterscheiden tun sie sich für die deutsche Gesellschaft von den Italienern, Griechen und Spaniern, die ebenfalls in der Bundesrepublik blieben, einzig aufgrund ihrer Religion. Und die wiederum ist erst nach dem Sturz des Shahs von Persien und der iranischen Revolution durch den Ayatollah Chomeni in den Fokus geraten. In dieser Zeit machte der Islam einen Schritt hin zum Fundamentalismus gesponsort von den saudischen Wahhabiten in allen Teilen der Welt und vor allem gerne bei Moslems in der Diaspora. Die Türkei ist und bleibt ein säkularer Staat, in dem Staat und Religion getrennt sind. Das sollte auch von denjenigen nicht vergessen werden, die das gerne schon einmal durcheinander bringen.
Doch kommen wir zurück auf die Integration, die in vielen Fällen gelungen und in manchen eben fehlgeschlagen ist. Ich will mich nicht an dem leidigen Thema abarbeiten, dass ein Teil der türkischen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss, ohne Berufausbildung und ohne wirklich gut der deutschen Sprache mächtig zu sein, Probleme mit der Integration hat. Ich sehe nämlich jede Menge deutscher Jugendlicher, die weder einen Hauptschulabschluss noch eine Berufsausbilding haben und der deutschen Sprache nicht wirklich mächtig sind, obwohl sie keine andere Sprache kennen. Und genau genommen sind dann auch diese Jugendlichen nicht integriert, denn sie finden in der Gesellschaft keinen Platz. Ich denke also, dass es sich hier offenbar eher um ein soziales Problem sowie eines des deutschen Bildungssystems und unwidersprochen – des Elternhauses handelt. Diejenigen türkischstämmigen Deutschen, die erfolgreich Schule, Universität und Beruf abgeschlossen haben, werden erst gar nicht erwähnt. Und das sind nicht wenige. Diejenigen, die wegen schlechter Leistungen oder Versagens auffallen, wurden vernachlässigt, und zwar vom Staat ebenso wie von ihrer Familie. Wenn sie dann irgendwelchen Islamisten oder Salafisten in die Hände fallen, die sie von der Straße holen, dann kann man nicht davon sprechen, dass die Religion ihres Herkunfts-Landes, bzw. die ihrer Familie etwas damit zu tun hätte. Aus der Gesellschaft ausgegrenzte Jugendliche, auch Erwachsene, lassen sich oft auf Extremisten jeglicher Coleur ein. Insgesamt ist zu sagen, dass hier wie überall Verallgemeinerungen ohnehin nicht greifen.
Vorurteilsbelastet zu argumentieren, ist ein Hobby der Spießer, ist es schon immer gewesen. So wie die Deutschen für die amerikanischen GIs "Krauts" (also Sauerkrautfresser) waren, so sind die Türken für noch immer viele Deutsche zurückgebliebene islamistische Dörfler, die mit Plastiktüten als Gepäck und abgelaufenen Schuhen kommen, um niedrigste Arbeiten für kleinen Lohn zu verrichten. Die Türkei ist schon lange nicht mehr die Türkei, die sie vor 50 Jahren war. Das ist nicht nur oft eine Überraschung für die deutsche Vorurteilspflege, sondern auch für diejenigen Türken, die seit Jahrzehnten im Ausland leben. Die Türkei steht inzwischen an 17. Stelle des weltweiten Wirtschaftswachstums und ist wahrscheinlich nicht mehr lange ein Schwellenland. Schon heute wandern mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei ab als umgekehrt.
Konnten sich früher deutsche Rentner noch für kleines Geld im türkischen Süden ein Wohneigentum zulegen und ihren Alterssitz zumindest für die kalten Wintermonate dorthin verlegen, müssen sie heute schon deutlich mehr dafür ausgeben. Dass viele Deutsche, die in der Türkei leben auch nach 20 oder 30 Jahren kein Türkisch sprechen, hat damit zu tun, dass sie sich selbst als GAST empfinden, also das Gegenteil von "Gastarbeiter". Wo da jedoch genau der Unterschied liegt, kann ich bis heute nıcht sehen, außer vielleicht der Tatsache, dass die meisten von ihnen ihre Euros in der Türkei ausgeben, die sie von Deutschland mitbringen. Aber das wiederum ist ein eigenes Thema, für das heute an dieser Stelle kein Platz ist.
Deutschland, die Türkei und Europa
Das NATO-Mitglied Türkei wartet seit mehr als 50 Jahren auf die Mitgliedschaft in der damaligen EWG, jetzt EU und wird mit immer neuen Bedingungen für die Verhandlungen auf Distanz gehalten, enttäuscht und gedemütigt. Vorgeschoben werden nicht vorhandene demokratische Verhältnisse, Islamismus und allgemeine Rückständigkeit. Doch die Türkei entwickelt sich unaufhaltsam zu einem politisch wie wirtschaftlich wichtigen Faktor in Nahost und in der Welt. Dass das Land sich inzwischen um gute Kontakte mit seinen arabischen Nachbarn bemüht, ist nur ein logischer und folgerichtiger Schritt, der in Europa mit Sorge beobachtet wird. Außerdem wird der Türkei die Situation des geteilten Zyperns als Hinderungsgrund für eine Mitgliedschaft in der EU vorgeworfen. Als im Mai 2004 der "Annan-Plan" nicht etwa von den türkischen, sondern von den griechischen Zyprioten abgelehnt wurde, die griechische Republik Zypern dann einige Wochen später als Mitglied der Europäischen Union aufgenommen wurde, sagte der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer bereits, dass eine Zurückweisung der Türkei dem Land nur die Wahl zwischen einer "orientalischen-islamischen und großtürkischen Perspektive" gelassen werde. Er fürchtete dabei allerdings, dass die Türkei damit zu einem instabilen Faktor werden könne. Doch danach sieht es zur Zeit nicht aus. Die Türkei steht wirtschaftlich gut da und weist hohe Wachstumsraten und eine deutliche Dynamik auf, während das EU-Mitglied Griechenland gerade als Pleite-Staat von sich Reden macht und die Europäische Union insgesamt in diesen Tagen vor großen Problemen steht. Und ganz anders als man in Deutschland denken mag, sind türkische Familien sehr daran interessiert, ihre Kinder gut ausbilden zu lassen. Und auch da pirscht die Türkei nach vorne. Türkische Universitäten erobern sich weiterhin immer bessere Plätze im internationalen Higher- Education-Ranking auf der Weltliste. Auch das ist ein bisher gut gehütetes "Geheimnis" all jener, die der Türkei noch immer einen Platz auf den hinteren Bänken zuweisen möchten.
Vielleicht ist es ein Unkenruf wenn ich hier sage, dass eventuell der Tag kommen könnte, dass die EU die Türkei bitten wird, endlich Mitglied zu werden, denn das Land ist inzwischen selbstbewusst genug, bereits laut mit dem Gedanken zu spielen, auf die Mitgliedschaft zu verzichten. Ich kann aus eigener Erfahrung und langen Jahren in der Türkei den deutsch-türkischen Jugendlichen nur raten, in beiden Kulturen und Sprachen ihre Heimat zu finden, einen Ausbildungsweg zu suchen, der beides miteinander verbindet und diesen Vorteil für einen erfolgreichen beruflichen Weg zu nutzen. Deutschland und die Türkei sind wirtschaftlich und historisch bereits so eng miteinander verbunden, dass es gilt, dieses Band weiter zu stabilisieren, das für beide Seiten so unendlich wertvoll und ebenso reich an Zukunft ist.