Diese Woche, am Vorabend der ersten Runde der offiziellen Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autorität, tat Netanyahu zwei interessante Dinge: Er gab Pläne für einige große neue Siedlungsprojekte bekannt und beschuldigte die Palästinenser der Hetzpropaganda gegen Israel.
Nehmen wir zuerst die Siedlungen. Wie von den israelischen Diplomaten gegenüber ihren amerikanischen Kollegen erklärt und von allen israelischen Medien wiederholt wurde, hatte der arme Netanyahu keine andere Wahl. John Kerry zwang ihn, 104 palästinensische Gefangene als eine „vertrauensbildende“ Maßnahme zu entlassen. Nach solch einem folgenschweren Zugeständnis musste er seine extremistischen Kollegen im Likud und im Kabinett beschwichtigen. 1000 neue Wohneinheiten in den Besetzten Gebieten (einschließlich Ostjerusalem) waren da das Mindeste.
Die Vereinbarung, Gefangene zu entlassen, löste einen wahrhaften Hexensabbat aus. Sämtliche Zeitungen und TV-Nachrichten wurden mit Blut überflutet – dem Blut an den Händen der palästinensischen Mörder. „Mörder“ war ihre unabdingbare Bezeichnung. Nicht „Kämpfer“, nicht Militante“, noch nicht einmal „Terroristen“. Einfach nur „Mörder“.
Alle Gefangenen, die entlassen werden, wurden bereits schon verurteilt, bevor das Oslo-Abkommen unterzeichnet worden war, was bedeutet, dass sie mindestens 20 Jahre im Gefängnis verbracht haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie an zukünftigen blutigen Aktivitäten teilnehmen werden, dürfte demzufolge äußerst gering sein.
Einige Familien der Opfer von Terroranschlägen, für die diese Männer verurteilt worden waren, veranstalteten stürmische Proteste mit blutverschmierten Händen und Fahnen. Die Medien wetteiferten miteinander im Veröffentlichen von Bildern mit weinenden Müttern (Das Fernsehen liebt weinende Frauen), die Fotos ihrer getöteten Söhne schwenkten und grausame Beschreibungen der Angriffe abgaben, bei denen sie getötet worden waren. (Einige davon waren tatsächlich grausam.)
Trotzdem war Netanyahu vor nicht allzu langer Zeit eine Vereinbarung eingegangen, bei der über 1000 Gefangene im Austausch gegen einen gefangenen israelischen Soldaten entlassen wurden. Das bedeutet, dass ein einziger Soldat zehnmal wertvoller ist als die Chancen auf Frieden.
Die aktuelle Entlassung grenzte ans Groteske. Um in der Morgenpresse Fotos des stürmischen Empfangs der Gefangenen durch ihre Familien zu vermeiden, fand die aktuelle Entlassung erst nach Mitternacht statt. Das erinnert einen an die Bibelstelle, wo David um Saul trauert, der in der Schlacht gegen die Philister erschlagen worden war: „Sagt nichts in Gath, verbreitet es nicht in den Straßen von Askelon (beides Philisterstädte), so dass die Töchter der Philister nicht frohlocken, so dass die Töchter der Unbeschnittenen nicht triumphieren.“ (II Samuel 1)
Zeugt all dieses von einer friedlichen Atmosphäre am Vorabend der Friedensstiftung? Nun ja, da muss noch mehr folgen.
An dem Tag, an dem die neuen Siedlungsprojekte bekannt gegeben wurden, sandte Netanyahu John Kerry ein wütendes Protestschreiben wegen der andauernden palästinensischen „Hetzpropaganda“ gegen Israel. Dieses Sendschreiben könnte die Jury des Guinessrekordes für Chutzpa interessieren.
Der Hauptbeweis für Mahmoud Abbas Perfidie in Netanyahus Schreiben ist ein Text, in dem ein niedrigerer palästinensischer Beamte für einen palästinensischen Staat „von Rosh Hanikra bis Eilat“ plädiert. Rosh Hanikra (Ras Naqura auf Arabisch) liegt an der Grenze des Libanon, so dass dieser palästinensische Staat das gesamte Israel einschließen würde. Des Weiteren waren bei einer Fußballveranstaltung in Ramallah anti-israelische Parolen zu hören.
Furchtbar, einfach furchtbar! Kerry sollte vor Wut von seinem Sitz aufspringen. Wäre da nicht die Tatsache, dass fast alle führenden Likudmitglieder kundtun, dass das gesamte historische Palästina zu Israel gehört und Naftali Bennet, ein Pfeiler der Regierungskoalition Netanyahus gerade verkündet hat, dass die Palästinenser einen palästinensischen Staat „vergessen“ könnten.
Ganz zu schweigen von einem gewissen Daniel Seaman, dem ehemaligen Direktor des Ministeriums für Erklärung (Das ist der richtige Name. Ich habe ihn nicht erfunden. Israelis machen keine Propaganda, Gott bewahre!) Seaman wurde gerade für Netanyahus eigenes Ministerium berufen, um „Erlärung“ im Internet zu betreiben. Diese Woche hat er eine Mitteilung im Internet gepostet, die an Sa’eb Erakat, den Chef der palästinensischen Delegation für die Friedensgespräche gerichtet war, in der er ihn aufgefordert hat, „zu gehen und sich selbst zu f..k..“. Zusätzlich zu der theologischen Erklärung der Kirche von Schottland, dass die Juden keinen Sonderanspruch auf Palästina haben, postete dieser die Antwort: „Wir geben keinen (Obszönität) auf das, was Sie sagen.“
Dieses Genie für Öffentlichkeitsarbeit ist nun im Begriff, eine geheime Gruppe von israelischen Universitätsstudenten aufzubauen, die dafür bezahlt werden, die internationalen sozialen Medien mit Erklärungsmaterial der Regierung zu überfluten.
Was die Fußballfans angeht, im Fußballstadium von Betar, der Jugendorganisation des Likud, füllen die Parolen: „Tod den Arabern!“ bei jedem Spiel die Luft.
Also, wofür läuten die Glocken? Nicht für Frieden, wie es scheint.
Eins der Probleme dabei ist, dass absolut niemand weiß, was Netanyahu tatsächlich will; vielleicht noch nicht einmal er selbst.
Der Premierminister ist nun der einsamste Mensch in Israel. Er hat keine Freunde. Er traut niemandem und niemand um ihn herum traut ihm.
Seine Kollegen der Führungsriege des Likud verschmähen ihn ziemlich offen, weil sie ihn für einen Mann ohne Prinzipien halten, der kein Rückrat besitzt und der bei jedem Druck nachgibt. Anscheinend war das auch die Meinung seines verstorbenen Vaters, der einst erklärt hatte, dass Binyamin zwar ein guter Außenminister sein könnte, aber sicherlich kein Premierminister.
In der Regierung steht er ziemlich alleine da. Die vorherigen Premierminister hatten jeweils eine Gruppe von Ministern, die ihnen nahestanden und die sie beraten haben. Golda Meir hatte ein „Küchen-Kabinett“. Netanyahu hat keinen. Er berät sich mit niemandem. Er verkündet seine Entscheidungen und das ist es dann.
Bei seinen vorherigen Amtszeiten hatte er in seinem Amtssitz wenigstens eine Gruppe von Vertrauten. Diese Beamten wurden von seiner Frau Sarah herausgeworfen, einer nach dem anderen.
Daher ist dieser einsame Mann, wie ein Kommentator uns diese Woche in Erinnerung brachte, ohne jegliche Unterstützung irgendeiner Gruppe von zuverlässigen Beratern, Experten und Vertrauten, völlig auf sich selbst gestellt, dazu aufgefordert, das Schicksal Israels für die kommenden Generationen zu entscheiden.
Dies wäre nicht so gefährlich, wenn Netanyahu ein Charles de Gaulle wäre. Bedauerlicherweise ist er es nicht.
De Gaulle war einer der überragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Kalt, distanziert, überheblich, von den anderen Weltführern verabscheut, fasste dieser extrem rechte General den historischen Entschluss, das Land Algerien – viermal größer als ganz Frankreich) aufzugeben.
Zur Erinnerung, Algerien war offiziell keine Kolonie, kein besetztes Land, sondern ein Departement des eigentlichen Frankreichs. Über ein Jahrhundert lang hatte es unter französischer Herrschaft gestanden. Über eine Million Siedler sahen es als ihre Heimat an. Trotzdem fasste de Gaulle die einsame Entscheidung, es aufzugeben, wodurch er sein eigenes Leben in ernste Gefahr gebracht hat.
Seitdem sehnen sich die israelischen Linken nach einem „israelischen de Gaulle“, der die Arbeit für sie erledigt, gemäß dem alten hebräischen Sprichwort, dass „die Arbeit des Rechtschaffenden von anderen getan werden wird“ – unter anderen versteht man scheinbar Menschen, die nicht ganz so rechtschaffen sind.
Selbstverständlich gibt es dabei einen Unterschied. De Gaulle wurde von seinen konservativen Verbündeten, den Kapitänen der französischen Wirtschaft, unterstützt. Diese besonnenen Kapitalisten sahen, wie die Deutschen im Begriff waren, die Wirtschaft von Europa, das sich gerade im Einigungsprozess befand, zu übernehmen, wohingegen Frankreich dabei war, seine Ressourcen durch einen teuren, völlig nutzlosen Kolonialkrieg in Nordafrika zu verschleudern. Sie wollten ihn so schnell wie möglich loswerden und de Gaulle war ihr Mann.
Netanyahu ist mit den israelischen Wirtschaftskapitänen so eng verbunden, wie de Gaulle es mit den seinigen war, aber unsere Kapitäne geben keinen Pfifferling um Frieden. Diese Haltung könnte sich ändern, wenn die Delegitimierung Israels zu einer wirtschaftlichen Bürde wird.
In diesem Zusammenhang: Der Boykott, der von der Europäischen Union gegen Produkte aus den Siedlungen verhängt wurde, könnte ein Omen der Zukunft sein.
Übrigens findet die Anhörung der Petition, die von Gush Shalom und von mir persönlich beim Obersten Gerichtshof gegen das neue Gesetz, das jeden Befürworter des Boykotts gegen die Siedlungen unter Strafe stellt, erst im kommenden Februar statt. Der Gerichtshof schreckt offensichtlich davor zurück, dieses heiße Eisen anzufassen. Aber er erwies uns ein einzigartiges Kompliment: „Avnery versus Knesset“ wird von neun obersten Richtern angehört, von fast der gesamten Richterschaft des Gerichtshofes.
Also, ist dieser „Friedensprozess“ nun ernst zu nehmen? Was will Netanyahu?
Will er in die Geschichtsbücher eingehen als der „israelische de Gaulle“, der weise Zionistenführer, der dem 120 Jahre alten Konflikt ein Ende setzt?
Oder ist er nur ein anderer cleverer Mann, der einen taktischen Zug macht, um eine Auseinandersetzung mit den USA zu verhindern und den Delegitimierungsprozess zumindest vorläufig aufzuhalten.
So wie es jetzt aussieht, kann de Gaulle in seinem Himmel entspannen. Kein Konkurrent in Sicht.
Es gibt nicht das leiseste Anzeichen einer Friedensorientierung. Genau das Gegenteil. Unsere Regierung braucht den neuen „Friedensprozess“ als Nebelschleier, hinter dem der Siedlungsbulldozer pausenlos im Einsatz ist.
Die Regierung verurteilt den EU-Boykott, weil er „dem Friedensprozess schadet“. Sie weist alle Forderungen im Hinblick auf das Einfrieren der Siedlungen zurück, weil diese „den Friedensprozess behindern“. Es scheint so, als ob die Investition von hundert Millionen in die Siedlungen, die unter jedem denkbaren Friedensabkommen geräumt werden müssen, den Frieden begünstigen.
Also, gibt es Hoffnung? Es ist Zeit, nochmals das jiddische Sprichwort zu zitieren: „Wenn es Gottes Wille ist, kann sogar ein Besenstiel schießen!“
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde ins Deutsche übersetzt von Inga Gelsdorf i.A. v. Ellen Rohlfs/Uri Avnery. Unter www.uri-avnery.de. erfolge die Erstveröffentlichung unter Angabe des Datums 17.08.2013. Alle Rechte beim Autor.