Der achtjährige Rudi ist mit seinem älteren Bruder Willy und ihrer Mutter Elfriede auf der Flucht. Von Schlesien nach Sachsen und zurück, ein Wirbel schnell gefällter Entscheidungen treibt die kleine Familie hin und her. Dabei war die Welt bis vor kurzem noch ganz in Ordnung. Vater August brachte aus dem ersten Weltkrieg einen kaputten Arm mit nach Hause, die „Knoche“. Er arbeitet als Irrenwärter in der Heilanstalt und schämt sich, seinem älteren Sohn eine Hitlerbüste zu kaufen. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Die Russen rücken näher. Der Krieg geht verloren, die Büste landet in der Wäschemangel im Keller. Familie Rachfahl ist die letzte deutsche Familie des Ortes, die der schlesischen Heimat den Rücken kehrt. Eine Reise ins Ungewisse beginnt. Vom Vater vorübergehend getrennt, ziehen Mutter und Söhne von Verwandten zu Bekannten. Den Bombenangriff auf Dresden und das anschließende Inferno erleben sie buchstäblich am Rande mit, im nahen Cossebaude. Bald treffen sie auch wieder mit August zusammen und die Odyssee setzt sich fort”¦
Theodor Buhls Roman erzählt konsequent aus der Perspektive des Jungen. Ein Jahr voller Wirren und Schrecknisse, nebenbei kommentiert durch die Älteren – und zurück übertragen in die Welt des Jungen. Das ist neu und überraschend, hier wird nicht aus der Sicht des Heutigen berichtet. Buhl gelingt das Kunststück, sich vollkommen in die Kinderseele seines Protagonisten einzufühlen, er lässt die Dinge unerklärt, die Rudi unerklärlich waren. Die Ereignisse schlagen sich als Seelenhusten nieder, oder werden in Kurzsätze gebannt, die Welten enthalten. Frauen sitzen am Tisch. „Wo mag der Kurt sein? Wo mag August sein?“
Vollends grauenhaft ist die Szene, die Rudi bei Reichenau erlebt, ein Flüchtlingstreck sucht nächtlichen Unterschlupf, die Russen kommen. Das Holz der Tür splittert, die Frauen und ein vierzehnjähriges Bauernmädchen, bei denen der Junge schläft, kreischen”¦ „Nimm mich!! Nimm mich!! Sie ist doch noch ein Kind!!` – und ohne daß man etwas sehen könnte, hört, wie sie weiter unters Bettgestell will – kriechend und an den Sprungfedern zerrend unter der Mutter – und wie sie dicht neben mir sich den Körper herausziehen an den Beinen und sich um den schreienden Kopf unterm Bett nicht kümmern”¦“
Rudi schlussfolgert, dass die Armee der Russen aus geisteskranken Gliedmännern bestand, wie er sie aus der Irrenanstalt kannte – „nur daß die Rotarmisten keine Wärter bei sich hatten und bewaffnet waren – die waren nicht nur geisteskrank, die schossen auch, wenn sie den Anfall kriegten.“ Einige Seiten weiter begegnet der Leser dann einem Russen, der sich ganz anders verhält – ein russischer Major hilft der Familie in unangenehmer Situation und sammelt ihre verstreuten Sachen mit auf! „Da ist mir der Russe an sich wieder eingefallen – der, von dem Fritz in Plagwitz immer angefangen hatte in der Küche: der hier war ganz bestimmt an sich. Der bot August auch noch eine Papirossy an zum Abschied”¦“
Der Titel dieses berührenden und wunderbaren Romans verbindet die beiden Helden der erschütternden Monate, die hier durchlebt werden müssen. Winnetou ist August und umgekehrt. Der Held Karl Mays wird zum Vater, der aus jeder Situation etwas macht, einen Ausweg findet. Nach zwei Dritteln des Romans beschließt August, seinen Jungs Bücher zu besorgen, damit sie nicht verblöden. Rudi schnappt sich einige Karl May Bände und bildet sich weiter, entflieht dem Dauerwarten.
„Vom Winnteou kam ich bald nicht mehr los”¦ Schon daß ihm alles selbst passiert war, was er schrieb. Wenn man, die Beine angezogen, auf dem Küchensofa hockte und der das wilde Maultier, das er gerade eingefangen hatte, bändigte – ihm aus allen Poren schwitzend seine Schenkel an die Rippen preßte – eine Pferderippe muß sich biegen, das macht Todesangst: das konnte man so deutlich vor sich sehen, daß man unwillkürlich mitgepreßt hat auf dem Sofa. Bis man blau war im Gesicht vom Luftanhalten.“
Theodor Buhl hat sich mit Schreiben Zeit gelassen und ist doch nach all der Zeit sehr nahe an sein kindliches Ich herangetreten, schmerzhaft nah. Wie der Verlag mitteilt, arbeitete der 1936 in Bunzlau/Schlesien geborene Buhl als Lehrer und schrieb seit dem Ende der Achtziger Jahre an diesem Stoff. Das hat sich gelohnt! Die fesselnde Direktheit seiner kurzen Sätze macht das Erleben des Gelesenen unmittelbar und unvergesslich. Wir sind dankbar für den langen Atem und den splitternd schockierenden Roman, der eine breite Leserschaft finden wird und muss!
Theoder Buhl: Winnetou August, Roman, 320 Seiten, Eichborn, 2010, 19,95 €