Du sollst nicht töten (auch nicht Dich selbst)

Dieser Scherz war in den 50er Jahren allgemein bekannt. Nach 1967 trat  ein  anderer weniger lustiger Scherz an seine Stelle.

Er lautet: Viele Israelis bitten Gott um einen Staat, der jüdisch und demokratisch sein soll und der das ganze Land zwischen dem Mittelmeer und  dem Jordan einschließt. Das ist selbst für den Allmächtigen zu viel. Also bestimmte er, dass jeder Israeli zwei von den drei Möglichkeiten wählen muss: zwischen einem Staat der jüdisch und demokratisch ist, aber nur in einem Teil des Landes, oder einen Staat im ganzen Land, der jüdisch ist, aber nicht demokratisch, oder einen Staat im ganzen Land, der demokratisch ist, aber nicht jüdisch. Dem möchte ich noch eine vierte Möglichkeit hinzufügen: Ein jüdischer und demokratischer Staat im ganzen Land, aber erst wenn alle Araber vertrieben sind – etwa 5,5 Millionen zu jetzigen Zeit , die sich aber rasch vermehren.

Dies ist die Wahl, mit der wir uns heute wie vor fast 45 Jahren befassen müssen. Sie ist nur klarer geworden.

Für jede vorhersehbare Zukunft kann die vierte Alternative ausgeschlossen werden. Die Umstände, die 1948 zur Vertreibung von mehr als der Hälfte des palästinensischen Volkes aus dem Gebiet führte, das Israel wurde, waren einmalig, und  es ist unwahrscheinlich, dass sie sich in den nächsten Jahrzehnten wiederholen. Wir müssen uns also mit der gegenwärtigen demographischen Realität abfinden.

Die gegenwärtige Regierung ist entschlossen, jeden Frieden zu verhindern, der uns zwingen würde, einen Teil der besetzten Gebiete (22% des Palästina von vor 1948)  aufzugeben. Es gibt niemanden, der sie dazu zwingen würde.

Was bleibt?
Ein Staat im ganzen Land, der entweder undemokratisch oder  nicht jüdisch wäre.

Wie die Dinge stehen, wird die erste Möglichkeit realisiert werden oder realisiert sich von selbst. Da ist keine bewusste Entscheidung nötig, da diese Situation de facto schon besteht.

Dies bedeutet, um das populäre Schlagwort zu benützen: ein Apartheidstaat. In diesem liegt  jedes Machtinstrument in den Händen der jüdisch-israelischen Mehrheit (etwa 6,5 Millionen), mit begrenzten Rechten für die 1,5 Mill. Palästinenser, die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Palästinenser in der besetzten Westbank, in Ost-Jerusalem und im Gazastreifen, etwa 4 Millionen, haben gar keine Rechte – weder national , noch menschlich  oder zivil.

Der gegenwärtige Zustand der „temporären“ Besatzung kann  für immer dauern und ist deshalb ideal für diesen Zweck. Doch eine zukünftige israelische Regierung, eine noch nationalistischere könnte die offizielle Situation durch Annexion der Gebiete an Israel verändern. Das würde praktisch keinen Unterschied machen.
Wie viele Israelis es sehen, könnte diese Situation auf immer so bleiben. Der offizielle Slogan heißt: „Wir haben keinen Partner für Frieden.“

Aber kann das wirklich dauern? Die palästinensische Bevölkerung im Lande wächst rasant. Es wird nicht lange dauern, bis sie die Mehrheit bilden wird. Die Idealisten, die für die „Ein-Staaten-Lösung“ sind, glauben, der Apartheidstaat  verwandle sich langsam in einen „Staat für alle seine Bürger“.

Falls nach weiteren Jahrzehnten der Unterdrückung,  mit Bürgerkrieg, Brutalitäten und anderen Plagen sich dies verwirklichen würde, dann würde es sich schnell in einen palästinensischen Staat mit einer jüdischen Minderheit verwandeln, wie die Weißen im heutigen Südafrika. Es würde eine Negation des ganzen zionistischen Unternehmens sein, dessen Hauptzweck es war, einen Ort in der Welt zu haben, wo Juden eine Mehrheit sind. Die meisten jüdischen Israelis würden wahrscheinlich emigrieren.

Für einen Israeli wäre dies ein nationaler Selbstmord. Doch wäre es die unvermeidbare Folge, wenn der Staat seinen Kurs wie bisher fährt.

Wenn eine Person sich selbst töten will, wie es ihr Recht ist, hat sie viele Möglichkeiten, dies zu tun: vergiften, erschießen, aufhängen, vom Dach springen etc.. Als Staat hat Israel auch mehrere Optionen.

Abgesehen von der tickenden Bombe, (die „Ein-Staat-Lösung“)  hat Israel auch eine interne tickende Bombe, die sogar gefährlicher sein mag. Wie die erste Option, so ist auch die zweite  schon auf dem Weg. Wenn die erste Option wenigstens teilweise von äußeren Faktoren abhängt, ist die zweite ganz und gar hausgemacht.

Als Israel entstand, waren die orthodoxen Juden eine kleine Minderheit. Da Ben Gurion sie für seine Koalition benötigte, gewährte er ihnen einige Privilegien, die ihm  nicht zu teuer erschienen. Die Orthodoxen bekamen ihr eigenes vom Staat finanziertes Bildungssystem, und sie  waren vom Militärdienst befreit.

Etwa 60 Jahre später haben diese Privilegien gigantische Dimensionen angenommen. Um die im Holocaust verlorenen Leben  zu ersetzen und um die jüdische Bevölkerung zu vergrößern, ermutigte die israelische Regierung durch großzügiges Kindergeld das natürliche Wachstum. Da die Religiösen aller Schattierungen sich schneller vermehrten als die anderen Israelis (außer den muslimischen Arabern in Israel), ist ihr Teil der Bevölkerung sprunghaft  angestiegen.

Die orthodoxen  Familien haben gewöhnlich 8-10 Kinder. Diese gehen alle in religiöse Schulen, wo sie ausschließlich religiöse Texte lernen und keinerlei  nützliche Fertigkeiten, die man in Berufen einer modernen Gesellschaft benötigt. Sie brauchen sie nicht, da sie überhaupt nicht arbeiten, sondern ihr ganzes Leben dem Studium des Talmud widmen. Sie müssen ihre Studien der toten Texte nicht unterbrechen, weil sie auch  keinen Militärdienst machen müssen.

Wenn dies  in den frühen Tagen des Staates auch  nur Randerscheinungen waren, führen sie jetzt zu einer rapiden nationalen Notsituation. Von Anfang an haben sich fast alle Regierungskoalitionen auf die religiösen Parteien verlassen, weil keine Partei je die Mehrheit in der Knesset gewonnen hat. Fast alle Regierungsparteien mussten ihre religiösen Partner  mit wachsenden Subventionen für Kinder und Erwachsene bestechen und ermutigten so das Wachstum einer Bevölkerung, die weder Militärdienst macht noch Arbeit verrichtet.

Die Abwesenheit der Orthodoxen in der Arbeitswelt hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf die Wirtschaft, was von  internationalen Finanzinstituten  bestätigt wird. Ihre Abwesenheit in der Armee – wie auch die Abwesenheit der arabischen Bevölkerung, die aus verständlichen Gründen nicht eingezogen wird – bedeutet, dass bald fast die halbe männliche Bevölkerung nicht als Soldat dient. Dies zwingt alle anderen drei volle Jahre zu dienen und dann noch viele Jahre  Reservedienst zu leisten.

Sehr bald werden  fünfzig Prozent  aller Erstklässler in Israel  aus orthodoxen Familien kommen. Ihr Leben wird ohne Arbeit, ohne Steuern zu zahlen und ohne Militärdienst verlaufen – all dies wird von den Steuern der kleiner werdenden Anzahl von Nicht-Orthodoxen finanziert.

Vor kurzem verlangten die Säkularen nach einer  wachsenden Unruhe zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen in Bet-Shemesh – 25km westlich von Jerusalem –  die Stadt  solle geteilt werden, in eine orthodoxe Stadt und eine säkulare. Der Innenminister – selbst ein Führer einer Orthodoxen Partei – hat dies rundweg abgelehnt. Er erklärte offen: da die Orthodoxen  weder arbeiten noch Gemeindesteuern zahlen, können sie auch  eine eigene Stadt nicht erhalten. Sie benötigen die Säkularen zum Arbeiten und Zahlen.

Diese groteske Situation besteht im ganzen Staat. Man kann sich ausrechnen, wann das ganze Gebäude zusammenbricht. Internationale Finanzinstitute wie auch israelische Experten sagen eine Katastrophe voraus. Doch unser politisches System macht eine Veränderung unmöglich. Die Position der religiösen Parteien ist  einfach zu stark.
Das ist eine andere  Methode des Selbstmordes.

Ein dritter Weg ist weniger dramatisch. Israel wird schnell zu einem Staat, in dem normale Leute  nicht mehr leben wollen.

In seinem monumentalen Werk über die Kreuzfahrer vertrat der verstorbene britische Historiker Steven Runciman die Auffassung, dass der Kreuzfahrerstaat nicht durch eine militärische Niederlage zusammenbrach, sondern weil zu viele seiner Bewohner zusammenpackten und nach Europa zurückgingen. Obwohl viele von ihnen zur 4.  oder sogar 8. Generation der Kreuzfahrer gehörten, hatte der Kreuzfahrerstaat für sie seine Attraktion verloren. Der Zustand  eines ständigen Krieges und die innere Stagnation trieb sie weg. Der Staat brach zusammen, da immer mehr weggingen als sich ihnen anschlossen.

Die Kreuzfahrer hatten das Empfinden, dass sie mehr zur Christenheit gehörten als zum lokalen Königtum von Jerusalem. Heute glauben  selbst viele Israelis,  sie seien vor allem Juden, die zu einem weltweiten Volk gehören, und die nur in zweiter Linie sich als Israelis fühlen.

Das macht die Auswanderung leichter.
Ein Staat ohne Demokratie, ohne Gleichheit, der sich selbst  zu einem endlosen Krieg verurteilt hat, der von religiösen Fanatikern dominiert wird, in dem eine Kluft zwischen  bitter Armen und einer handvoll von unglaublich Reichen von Jahr zu Jahr breiter wird  – solch ein Staat wird  für intelligente junge Leute immer weniger  attraktiv erscheinen, die leicht woanders ein besseres Leben finden  und trotzdem die jüdische Identität bewahren können.

Auch dies ist ein nationaler Selbstmord.

Ich bin von Natur aus kein Prophet von Pessimismus. Ganz im Gegenteil.

Wir können all diese Gefahren leicht abwenden. Aber zunächst müssen wir sie erkennen und sehen, wohin sie uns führen.
Ich bin davon überzeugt, dass die israelische Nation  den Willen zum Überleben hat. Aber um zu überleben, muss sie aus ihrer apathischen Benommenheit aufwachen und den Kurs ändern – sich dem Frieden zuwenden, der sich auf die Zwei-Staaten-Lösung gründet, den Staat und die Religion  von einander trennen und eine neue  soziale Ordnung aufbauen.

In der jüdischen Religion ist Selbstmord eine Sünde. Es wäre Ironie, wenn zukünftige Historiker schlussfolgern müssten,  der „jüdische Staat“ habe Selbstmord begangen.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 23.02.2012 erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

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