In der vergangenen Woche wurde ihm eine sehr lehrreiche Lektion erteilt. Nachdem die israelischen Fernsehzuschauer Dutzende von herzlichen Begegnungen zwischen Netanjahu und Nicholas Sarkozi gesehen haben, bekamen sie eine Ahnung von der Realität, und zwar in Form eines Austausches von Ansichten zwischen den Präsidenten der USA und Frankreich.
Sarkozi: „Ich kann ihn (Netanjahu) nicht ausstehen, er ist ein Lügner!“
Obama: „SIE haben die Nase voll von ihm? ICH muss mich täglich mit ihm befassen!“
Dies kam, nachdem durchgesickert war, was Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, ihrem Kabinett gesagt hatte: „Jedes Wort, das aus Netanjahus Mund kommt, ist eine Lüge.“
Dies macht die Sache mehr oder weniger einstimmig.
Bevor ich weiter schreibe, muss ich etwas über die Beteiligung der Medien an dieser Affäre sagen.
Der Dialog wurde live einer Gruppe leitender französischer Medienleute weitergegeben, weil irgendwer vergessen hatte, das Mikrophon abzuschalten. Ein Glücksfall, von dem Journalisten träumen.
Doch keiner der anwesenden leitenden Journalisten veröffentlichte ein Wort davon. Sie hielten es bei sich und erzählten es nur ihren Kollegen, die es wieder ihren Freunden erzählten. Einer von diesen erzählte es einem Blogger, der es veröffentlichte.
Warum? Weil die leitenden und anwesenden Journalisten Freunde und Vertraute der Leute waren, die an der Macht sind. So bekommen sie ihre Knüller. Der Preis ist, dass sie jede Nachricht unterdrücken, die ihre Sponsoren verletzen oder beschämen könnte. Dies bedeutet praktisch, dass sie die Lakaien derjenigen werden, die an der Macht sind – und verraten so ihre elementare demokratische Pflicht als Diener der Öffentlichkeit.
Ich kenne dies aus eigener Erfahrung. Als Herausgeber eines Nachrichtenmagazins sah ich es als meine Pflicht (und Vergnügen) an, dieses verabredete Schweigen zu brechen. Tatsächlich wurden uns unsere besten Knüller von Kollegen anderer Veröffentlichungen gegeben, die sie aus demselben Grund nicht verwenden konnten.
Glücklicherweise ist es jetzt mit dem Internet überall fast unmöglich, Nachrichten zu unterdrücken. Gesegnet seien die Internetgötter!
Ein paar Wochen, nachdem Yitzhak Rabin 1992 (zum 2.Mal) zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, traf ich Yassir Arafat in Tunis.
Er war natürlich neugierig, über die Persönlichkeit des neu gewählten israelischen Führers mehr zu erfahren. Da er wusste, dass ich ihn immer wieder einmal traf, fragte er nach meiner Meinung über ihn.
„Er ist ein ehrenhafter Mensch,“ antwortete ich und fügte hinzu, „so weit das ein Politiker eben sein kann.“
Arafat brach in Lachen aus und alle, die noch im Raum waren, einschließlich Mahmoud Abbas und Yasser Abed Rabbo.
Seitdem Sir Henry Wotton vor etwa vierhundert Jahren sagte, dass „ein Botschafter ein ehrenhafter Mann sei, der um seines Landes Willen zum Lügen ins Ausland geschickt wird,“ wird allgemein vermutet, dass Diplomaten und Politiker lügen mögen – und nicht nur im Ausland. Einige tun es nur dann, wenn es nötig ist, einige tun es oft, einige, wie Netanjahu tun es regelmäßig.
Obwohl man allgemein die Verlogenheit annimmt, ist es für einen Führer nicht gut, als notorischer Lügner hingestellt zu werden. Wenn Führer sich persönlich treffen, privat und unter vier Augen, wird angenommen, dass sie einander die Wahrheit sagen, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Einiges persönliche Vertrauen ist von großem Vorteil. Wenn ein Führer dies verliert, verliert er einen kostbaren Aktivposten.
Winston Churchill sagte von einem seiner Vorgänger, Stanley Baldwin, dass „der rechte ehrenhafte Gentleman zuweilen über die Wahrheit stolpert, aber immer schnell weitergeht, als ob nichts geschehen wäre.“ Einer unserer Minister sagte über Ariel Sharon, dass er manchmal versehentlich die Wahrheit sage. Leute fragten, wie konnte man wissen, wann Richard Nixon log: „Ganz einfach: Wenn er seine Lippen bewegt.“
Rabin war grundsätzlich ein ehrenhafter Mann. Er hasste die Lügen und vermied sie, so weit er konnte. Im Grunde blieb er ein Mann des Militärs und wurde nie ein wirklicher Politiker.
Der letzte Donnerstag war – nach dem hebräischen Kalender – der 16. Jahrestag seiner Ermordung.
An dieses Ereignis wurde in israelischen Schulen durch Reden und in besonderen Unterrichtsstunden gedacht. Was diese Bürger von morgen darüber lernten, war, dass es sehr böse ist, einen Ministerpräsidenten zu ermorden. Und das war es denn auch schon.
Kein Wort davon, warum er getötet wurde. Sicher auch nichts über die Gemeinschaft, zu der der Mörder gehörte oder welche Hass- und Hetzkampagne den Mörder dazu brachte.
Das Erziehungsministerium ist jetzt fest in den Händen eines Likudministers, eines der extremsten. Aber dieser Trend beschränkt sich nicht auf das Bildungswesen.
In Israel ist es praktisch unmöglich, ein Bild von Rabin zu bekommen, wie er Arafat die Hand schüttelte. Rabin und König Hussein? Es gibt so viele Postkarten, wie man sich nur wünschen kann. Aber Rabins Frieden mit Jordanien war ein unbedeutendes Ereignis, so wie der Frieden zwischen den USA und Kanada. Das Oslo-Abkommen jedoch war ein historischer Wendepunkt.
Nur die Leute, die als „extreme Linke“ gebrandmarkt werden – eines der schlimmsten Schimpfworte in diesen Tagen – wagen die deutliche Frage über den Mord zu stellen: Wer? Warum?
Es gibt ein stilles Übereinkommen, dass die einzig verantwortliche Person Yigal Amir, der aktuelle Mörder, Sohn jemenitischer Juden, ein früherer Siedler und Student einer religiösen Hochschule war.
Hätte er ohne den Segen eines oder mehrerer Rabbiner gehandelt ? Höchstwahrscheinlich nicht.
Amir wurde durch monatelange Hetze gedrängt, das zu tun, was er tat. Eine noch nie da gewesene Kampagne von Hass beherrschte die Öffentlichkeit. Poster zeigten Rabin in der Uniform eines SS-Offiziers. Religiöse Gruppen verurteilten ihn mit mittelalterlichen Riten zu Tode. Demonstranten schrieen vor Rabins Privathaus: „Mit Blut und Feuer/ werden wir Rabin entfernen!“
Bei der unrühmlichsten Demonstration mitten in Jerusalem wurde ein Sarg mit der Bezeichnung „Rabin“ vorbeigetragen, während Netanjahu in Gesellschaft mit andern rechten Führern von einem Balkon herunterschaute.
Und noch aufschlussreicher: nicht eine einzige bedeutende Stimme der religiösen oder rechten Seite erhob sich gegen diese mörderische Kampagne.
Durch allgemeines stillschweigendes Übereinkommen wurde nichts von alledem in dieser Woche erwähnt. Warum? Weil es nicht nett gewesen wäre. Es würde „die Nation spalten“.
Ehrenhafte Bürger tun so etwas nicht.
Rabin selbst kann nicht ganz von Schuld freigesprochen werden. Nachdem er den unglaublich mutigen Akt der Anerkennung der PLO (und dadurch des palästinensischen Volkes) vollbracht und Arafat die Hand geschüttelt hat, fuhr er nicht schnell fort, um einen nicht rückgängig zu machenden Schritt des Friedens zu machen, sondern zögerte, zauderte, hielt sich zurück und erlaubte, den Kräften des Krieges und Rassismus sich neu zu gruppieren und zurückzuschlagen.
Als der Siedler Baruch Goldstone aus Kiryat Arba sein Massaker in der Machpelahöhle (Abrahams-Moschee) beging, hat Rabin die günstige Gelegenheit versäumt, das Nest faschistischer Siedler in Hebron auszuräuchern. Er schrak davor zurück, sich mit den Siedlern anzulegen. Die Siedler schraken aber nicht davor zurück, ihn zu ermorden.
Was geschah als nächstes? In dieser Woche wurde ein wichtiges Dokument öffentlich. Es deckt auf, dass am Tag des Mordes, als Netanjahu mit dem amerikanischen Botschafter Martin Indyk sprach. Netanjahu, der sich an seine Rolle bei der Hetzkampagne erinnerte, offensichtlich in Panik war. Er gestand dem Botschafter, dass, wenn jetzt sofort Wahlen statt finden würden, der ganze rechte israelische Flügel ausgelöscht würde.
Aber Shimon Peres, der neue Ministerpräsident, rief nicht zu einer sofortigen Wahl auf, obwohl einige Leute (auch ich) ihn öffentlich drängten, dies zu tun. Netanjahus Einschätzung war ganz richtig – das Land war empört, dem rechten Flügel wurde allgemein die Schuld für den Mord gegeben, und wenn Wahlen stattgefunden hätten, wäre die Rechte für viele, viele Jahre an den Rand gedrängt worden. Die ganze Geschichte Israels würde eine andere Wendung genommen haben.
Warum weigerte sich Peres dies zu tun? Weil er Rabin hasste. Er wollte nicht als der gewählt werden, „der Rabins Testament vollstreckt“, sondern auf Grund seiner eigenen Verdienste. Leider hatte die Öffentlichkeit nicht dieselbe hohe Meinung von seinen „Verdiensten“.
Während der nächsten paar Monate beging Peres nur jeden denkbaren (und undenkbaren ) Fehler. Er genehmigte das Töten eines ranghohen Hamasmilitanten, was zu einer Flut von tödlichen Selbstmordanschlägen im ganzen Land führte. Er griff den Libanon an, was zu dem Kafr-Kana-Massaker führte, und musste sich schmachvoll daraus zurückziehen. Und dann rief er zu vorzeitigen Wahlen auf. In seiner Wahlkampagne wurde Rabin nicht einmal erwähnt. So schaffte er es knapp, von Netanjahu besiegt zu werden.
Ich schrieb einmal, dass Peres seine schwerste Beleidigung nur wenige Minuten vor dem Mord erlitten habe. Amir wartete unten an der Tribünentreppe mit seiner schussbereiten Pistole in der Hand. Peres kam die Stufen herunter, und der Mörder ließ ihn vorbeigehen, wie ein Fischer einen kleinen Fang verächtlich wieder ins Meer wirft. Er wartete auf Rabin.
Der Rest ist Geschicht.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 12.11.2011. Alle Rechte beim Autor.