Berlin, Deutschland (Weltexpress). Nachfolgend dokumentieren wir im WELTEXPRESS den Offener Brief von Jochen Lengemann an Alexander Gauland.
Lieber Alexander,
seit nunmehr fast sechzig Jahren sind wir in Höhen und Tiefen Weggefährten gewesen – anfangs auf engen Bahnen, in den letzten Jahren zunehmend zuerst nur räumlich, dann auch sonst immer weiter voneinander entfernt.
Ich erinnere mich gern an unsere gemeinsame Studienzeit in Marburg und die Jahre unserer Mitgliedschaft und intensiver, durchaus auch konkurrenzgeprägter Arbeit im Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Du begrüßtest damals begeistert den Sieg Fidel Castros und seiner Revolution in Kuba.
Gleichzeitig bekanntest Du Dich dazu, ein Konservativer in der britischen Tory-Tradition des 19. Jahrhunderts zu sein. Du tratst damals verklausuliert für eine Abwendung vom Westen ein und für eine Art Rückversicherungsvertrag mit der Sowjetunion – in meinen Augen eine wirre Idee.
Für mich, den durch sein Jahr in den Vereinigten Staaten stark geprägten jungen CDU-Mann, ging das alles nicht zusammen. Aber: Unsere Diskussionen empfand ich immer als spannend, und sie bewegten sich immer auf einer gemeinsamen Grundlage.
Ende der 60er-Jahre – da warst Du ja noch nicht Mitglied der CDU – gehörte ich zu den jungen Wilden in der hessischen CDU. Später, in den 70er- und 80er-Jahren galt unser Landesverband als der rechte Flügel der Bundespartei. Ja, früher war rechts woanders!
Im April 1987 – Du warst inzwischen CDU-Mitglied – gewannen wir gemeinsam die Landtagswahl und stellten die erste CDU-geführte Landesregierung in der hessischen Nachkriegsgeschichte. Ministerpräsident wurde Dein langjähriger Förderer Walter Wallmann. Du wurdest Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei, ich zum zweiten Mal in meiner Karriere Präsident unseres Parlaments.
Die Nähe in dieser Zeit war dann von durchaus anderer Art als zur Zeit unseres Studiums – sie war mehr räumlich. Vom Präsidentenstuhl aus konnte ich öfter bemerken, dass Du – hinter dem Ministerpräsidenten sitzend – den linksliberalen „Independent“ lasest, nicht, wie vielleicht zu erwarten war, den „Daily Telegraph“ oder die „Times“.
Für uns beide brachten diese Jahre auch schwere Stunden, für Dich mit der sogenannten Affäre Gauland, die Dir später sogar sicher ungewollten literarischen Ruhm durch Martin Walser einbrachte, für mich mit meinem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Amt.
Später, in den 90er-Jahren – Du warst mittlerweile Herausgeber einer ehemaligen SED-Bezirkszeitung in Potsdam, ich Minister in Thüringen – habe ich einen Teil Deiner Veröffentlichungen wahrgenommen, einige auch gelesen.
Bei allen Meinungsverschiedenheiten, die ich in Einzelfragen wahrnahm, habe ich Dich immer als abwägenden Charakter und nie scharfmacherisch formulierenden Autor kennengelernt und als solchen durchaus geschätzt. In diesen Jahren kehrten wir beide zu unseren frühen Wurzeln zurück und bemühten uns, unseren Beitrag zum Wiederaufbau der neuen, alten Länder in Mittel- und Ostdeutschland zu leisten.
Vor 25 Jahren, im Winter 1992, vollzog ich meinen Rückzug aus der Politik. Seitdem habe ich mich politisch nur im privaten Umfeld geäußert. Meine große Leidenschaft galt schon immer der Geschichte des Parlamentarismus, und ich wollte forschen, Vergessenes ausgraben und für die Nachwelt konservieren. Du kehrtest in die Politik zurück – allerdings anders, als ich es mir jemals hätte träumen können.
Nach Deinem Wechsel zur AfD fuhren bei mir erstmals automatisch Antennen aus, als ich Dich – nur im Bild, ohne Ton – am Rande einer der Pegida-Demonstrationen in Dresden im Fernsehen sah. Später hast Du ja wohl gesagt, Du hättest Dich da „informieren“ wollen. Es folgten Deine Aussagen über den deutschen Nationalspieler Jérôme Boateng und dass ihn kein Deutscher als Nachbarn haben wolle. Meine Enkelinnen sind bis heute entsetzt.
Dann, vor einiger Zeit schon, Deine Äußerungen zur Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Ich weiß, ein Zitat François Mitterrands. Um solchen Quatsch zu verifizieren, ist Dir kein Zitat zu dumm – ja, auch große Männer sagen wirres Zeug.
Alexander Gauland, heute ein schrecklicher Vereinfacher und Verallgemeinerer, ebenso wie Du früher manche Linke bezeichnetest? Ja, Du bist kein echter Rechter. Du bist auch kein Linker. Du bist einfach ein mit allen Mitteln Aufmerksamkeit haschender Tabubrecher – und: Du bist ein anderer, als Du in jungen und auch noch in schon reiferen Jahren warst.
Und dann Dein den Alexander Gauland von heute entlarvendes, wohlkalkuliertes, hasserfülltes Geschrei angesichts Deiner triumphierend lärmenden Parteifreunde: „Diese Bundesregierung, wie immer sie aussieht, sie kann sich warm anziehen, wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel jagen!“
Weißt Du eigentlich, was Du da gesagt hast? Vor Euch hertreiben, eine solche Ankündigung wäre Euer gutes Recht gewesen; aber „jagen“ – das hat immer etwas mit „erlegen“ zu tun. Das ist für mich nichts anderes als Auf- und Verhetzung der Leute im Saal und der Millionen an den Bildschirmen.
Und es kam schlimmer: „Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“ Das ist nichts anderes als Ausdruck völkischen Denkens. Was glaubst Du eigentlich, wer Du bist? Euer Volk? Dein Volk? Du besitzest kein Volk. Du bist weder der Kaiser noch der Führer. Und selbst die besaßen nie das Volk.
Nein, Deine schottischen Jacketts können es nicht verdecken: Der Alexander Gauland von heute spricht nicht mehr in der Sprache der britischen Tories, sondern in einer Sprache, die Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind in das „Wörterbuch des Unmenschen“ aufgenommen hätten. Ja, das Denken des Alexander Gauland von heute scheint von Größenwahn und Hybris geprägt.
Waren Deine Theorien zu Kuba, der Sowjetunion und Dein angeblicher britischer Konservatismus vielleicht am Ende nur wohlkalkulierte Verkleidungen und Tabubrüche, um Dich interessant zu machen? Wenn ich Dich heute erlebe, liegt der Verdacht nahe.
Ich dachte immer, es sei Konsens zwischen uns gewesen, dass Politik das Bohren dicker Bretter sei, nicht das Beantworten komplizierter Fragen mit populistischen Parolen. Ich sah uns im Einklang, dass man als Mitglied einer Partei in dieser um Mehrheiten ringt, um seine Ideen umzusetzen und um gestalten zu können.
Du hast Dich anders entschieden, und ich mich ganz offenbar in Dir geirrt. Wie groß muss Deine Enttäuschung über Deine Ablehnung in der CDU gewesen sein – die ich so nie gesehen habe –, dass Dir heute so der Geifer aus den Mundwinkeln läuft, wenn Du sie und die Bundeskanzlerin angreifst.
Mir kommt es fast so vor, dass Du, nach all den Jahren in den hinteren Reihen, endlich mal im Vordergrund stehen wolltest. Ich hatte Dich anders gesehen – in meiner Erinnerung warst Du ein anderer. Ich habe mich getäuscht.
Schade um den konservativen Intellektuellen Alexander Gauland. Der lebe wohl! Zeitgenossen immer, ja, dem kann man nicht entfliehen – Weggefährten nimmermehr.
gez. Jochen Lengemann
P.S.: Nach 25 Jahren Schweigens in der politischen Öffentlichkeit habe ich mich durch Deine offenbar gewordene politische Entwicklung in der letzten Zeit verpflichtet gefühlt, nicht nur Dir zu schreiben, sondern dies auch der Öffentlichkeit mitzuteilen.