Allein der Ablauf wird noch lange in Erinnerung bleiben: Statt um 9 Uhr, wie sonst üblich, versammelte sich die Presse der Welt um 9.30 im Berlinale-Palast. Doch konnte man zu dieser Vorführung auch an den Kassen Karten kaufen. Ein Novum also auch in der Zusammenstellung des Publikums, das am Ende begeistert Beifall klatschte; und dass, obwohl im Laufe des Tages die Zuschauerzahl bröckelte. Etwas verspätet bei einer ansonsten wie ein Schweizer Uhrwerk ablaufenden Berlinale begann eine Viertelstunde vor zehn das Screening – kurz vor 19 Uhr lief der Abspann, bevor das zahlreich aus der Ferne angereiste Filmteam die Bühne betrat. Die Stimmung war gut. Viele potentielle Nörgler, die nur auf „time is money“ gucken, hatte schon die angezeigte Zahl von 482 Minuten abgeschreckt. Auch sind am achten Tag manche internationalen Gäste nicht mehr vor Ort, „Variety“ und „Screen“ erschienen mit ihren Sonderausgaben gar nur bis zum sechsten Tag. So blieb Platz für private Cineasten und professionell mit Film Beschäftigte in einem Saal mit etwa zweitausend Plätzen. Wenige blieben am Anfang unbesetzt, einige mehr wurden nach der für 13.45 bis 14.45 anberaumten Mittagspause frei, wieder andere kamen nur nachmittags.
In einer Zeit, in der es schon Studien gibt, wie das Anschauen von kurzen Nachrichten und Videos am mobilen und unbeweglichen Bildschirmen unser ganzes Denken beeinflusst, wirkt es obsolet, selbstverliebt oder wie eine Gegenströmung í la Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“, wenn mehr als ein halbes Dutzend Stunden nur ein einziger Streifen geguckt wird.
Sämtliche Kurzfilme des diesjährigen Berlinale Shorts hätte man an einem Tag sehen können, wenn die 26 Filme denn an einem Tag hintereinander gezeigt worden wären.
Warum also alles so lange, hat man am Schnitt gespart? Nein. Sebastian Schippers siegreiche „Victoria“, ein Film aus einem Take, dauerte nur etwa zwei Stunden. Ist das Thema so groß oder so umfangreich? „Musste das sein?“ Ja. Die Freiheit ist ein großes Thema und die Unabhängigkeit von Völkern ist immer noch nicht durchgehend erreicht oder an der Basis nicht tragfähig, wie etliche postkoloniale Staatengründungen Afrikas und die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten beweisen. Die philippinische Geschichte ist hier unbekannt. Über jeden Bundesligaverein weiß sogar der Sportmuffel mehr als über die Aufstände in diesem Vielinselstaat, der sich südlich Chinas eher in die asiatisch-pazifische Region oder dem Rand des Stillen Ozeans einordnet.
Eine Region, die aber wichtiger wird: Verträumte Eilande, die man sonst nur in der Südsee vermutet, werden auf Pekings Geheiß zubetoniert und durch Aufschüttungen künstlich vergrößert. Viele Militärstandorte entstehen oder werden massiv ausgebaut. Das Südchinesische Meer oder Teile davon werden nicht nur von den beiden Chinas beansprucht, sondern auch von den westlichen und östlichen Anrainern. Orte wie die Spratly-Inseln, von denen viele nie etwas gehört haben, tragen unter anderem auch chinesische Namen. Wenn das kampferbrobte Vietnam auf den riesigen Subkontinent „Reich der Mitte“ stößt, mit dem größten Volk der Welt und der kopfstärksten Armee, ist der Ausgang durchaus ungewiss. Bei den bilateralen Scharmützeln der Jahre 1978/79 sa h Hanoi besser aus. Übung macht den Meister und schmale Staat Vietnam am Mekong hatten drei Jahre zuvor drei Dekaden Krieg siegreich beendet. Der Konflikt Ende der 70er wurde auch nicht dadurch verhindert, dass sich an der Front und Grenze zwei kommunistische Bruderstaaten gegenüberstanden: die Sozialistische Republik Vietnam und die Volksrepublik China. Die jüngste volkschinesisch Aufrüstung zeigt, wie aktuell und brisant das Thema ist. Rohstoffe auf und unterm Meeresgrund sind der Anlass. Allein unsere Handys und angeblich ach so smarten Smartphones verschlingen jährlich Unmengen seltener Erden.- Ein Grund mehr, über diese Weltgegend informiert zu sein, und jegliches Wissen baut auf Geschichte auf.
Doch abends dann die Überraschung: Auf den Philippinen wird der Film wohl gar nicht gezeigt. Auf der Pressekonferenz macht Auslandskorrespondentin Alia Lira-Hartmann den Vorschlag, diesen Film für Bildungszwecke zu nutzen, Vorführungen in Schulen und Volkshochschulen zu planen. Eine gute Idee, findet das Pressekorps und applaudiert. Dann die Überraschung: „Auf den Philippinen ist eine Aufführung zur Zeit so gut wie aufgeschlossen“, heißt die Antwort. „Die Regierung in Manila hat daran kein Interesse“.
Nun, in Europa und Amerika wird auf einen Schwarzweißfilm über die Geschichte eines recht kleinen Landes kein größeres Publikum warten. Wenn dann jemand mitkriegt, wie lang der Film ist, erstickt das vielleicht vorhandene Interesse möglicherweise gleich im Keim.
Dabei ist der Film gar nicht so schlecht. Groß- und Kleinhandlungen verweben sich. Während die erste Hälfte die Atmosphäre schafft, passiert in der zweiten mehr. Gewalt schafft Ereignisse, und was Gewalt erschafft, weiß Wilhelm Reich.
Vieles passiert m Dschungel. Nebel wabert durch das Dickicht. Ist es Rauch? Plünderer schleichen über das Schlachtfeld. Eine Gitarre wird erbeutet, von Leichen gefleddert. Der Dieb – von Uniformierten erschossen. Die Gitarre – ins Feuer geworfen.
Das es heiß ist und nass auf den Philippinen, erfährt man hautnah. Auch die Hitze wird spürbar. Alle scheinen auf der Flucht. Das große Thema für das kleine Deutschland jetzt, aber nicht neu.
Und Strände und Küsten gibt es dort, das ist der Vorteil eines Archipels. Man sucht leere Strände? Go Philippines!
Und ein Thema, das fast beherrschend im Vordergrund ist: Verrat. Treason. Verschwörung. Coup. Die betörnnd-berauschend schönen einheimischen Frauen, die schönsten der Welt, plaudern nachts. Später sterben Soldaten, die sich sicher wähnten. Und Zivilisten. Männer, Frauen, Kinder. Eine ganze Stadt wird von den Spaniern abgebrannt. Im Film stehen die Aktien noch gut für sie. Doch alle Gewalt hat keine Dauer: Die USA übernehmen und machen Kolonialerfahrungen, die sie schnell vergessen werden wollen. Doch Imelda Marcos Schuhsammlung beweist: hundert Jahre später war noch nicht alles gut m Paradies, wo es so schön sein könnte ohne Waffen und Hass. Die Liebe ist schon da.
Die Deutschen Wissen auch von Verrat, in den 30ern zum Beispiel. Eine Geschichte der DDR ohne Verrat zu schreiben, wäre Klitterung. Staatssicherheit. Ein schönes Wort. Wer möchte nicht, dass der Staat sicher ist? Auch die Spanier wollen es. Doch um welchen Preis, welches Leid.
Die Deutschen sind das Land der Forscher, nirgendwo sonst kaum gibt es so viele Bücher. Der Welt größte Buchmesse ist in Frankfurt am Main. Karol Sauerland schrieb „Dreißig Silberlinge – das Phänomen Denunziation“.
Lav Diaz‘ Film veranschaulicht das, erzählt aber auch von Versöhnung und Vergeben.
Eine Geschichte der Philippinen ohne Christentum wäre auch lückenhaft. Diaz schuf ein mächtiges Epos, eine Odyssee auf dem Weg zu Freiheit, die ich wollte. Eine philippinischen, und einer universellen.
Andächtig kommt der Bauer näher, um zwei großen Männer, einer ein großer Verräter, bei der Rezitation eines Gedichte zu lauschen.
Die Kraft der LYRIK wird hier hautnah erlebbar. Eingangs wird ein Revolutionär hingerichtet. Freiheitskämpfer. Er ist auch Arzt und auch Dichter. Der Verlust des Dichters scheint das Land am härtesten zu treffen.