Und nun also: die Schönheit. Obwohl der Zeitgenosse ganz andere Existenzfragen wahrnimmt: Hunger, Krankheiten, Wassermangel, Versiegen der fossilen Energiequellen, Klimaerwärmung, Krieg und latente nukleare Bedrohung. Nach langem Zögern hat die Bundesregierung einen Armutsbericht erstellt – mit erschreckenden Erkenntnissen. Kein Anlass für das Museum, sich Themen wie Armut und Gesundheit oder (ja, auch) Armut und Schönheit zuzuwenden. Vogel findet seine Themen trotzdem sehr zeitgemäß.
Ziel der Ausstellung sei »eine kritische Bestandsaufnahme des heutigen Schönheitsdiskurses«, so die Autoren. Die Schönheit sei heute »zu einem fast überall diskutierten Thema geworden, einerseits als verführerisches Versprechen eines glücklichen Lebens und andererseits als Wunschtraum, dessen Unerreichbarkeit für viele zum Problem zu werden droht.«
Was aber ist schön? Die Kuratorinnen Doris Müller-Toovey und Sigrid Walter verraten schon im Flyer zur Ausstellung die Antwort: »Schönheit wird heute von den meisten Menschen als individuelle Differenz und bunte Vielfalt gelebt.« Wer ist schön? »Schön ist ein Mensch, den wir schön finden.« Wie viele Schönheiten gibt es? »Es sind so viele, wie es Menschen gibt.«
Die verschiedenen Aspekte des »Schönheitsdiskurses« werden in fünf Abteilungen illustriert. Dabei folgt die Ausstellung ihrer selbst vorgezeichneten Sicht. Was schön ist oder als schön betrachtet wird, wie Schönheit des Menschen »gemacht«, das heißt manipuliert werden kann, wie Maßstäbe für Schönheit gesetzt werden und wer und wofür Schönheit braucht. Es geht immer um das äußere Erscheinungsbild des Menschen, um Figur, Gesicht, Haar etc., und um die Frage, wie bedeutsam ein »schöner« Anblick für den einzelnen sein kann. Einerseits für sein Selbstwertgefühl, aber mehr noch für seine Anerkennung und für den Erfolg. Wie wichtig die äußere Erscheinung, sprich Schönheit, bei der Bewerbung um einen Job und für die Einstellung durch den Arbeitgeber ist, belegt eine Untersuchung: sie berichtet, dass viele Chefs die Erscheinung höher werten als Wissen und Erfahrung des Bewerbers und insbesondere einer Bewerberin. Ein Wissenschaftler erläutert in einem Video, wie subjektiv die äußere Erscheinung wirkt: »Hübsche Kinder werden weniger streng bestraft. Lehrer geben hübschen Schülern bessere Noten. Schöne Menschen verdienen mehr Geld und schöne Verbrecher erhalten niedrigere Strafen als andere. Schönheit ist undemokratisch.«
Schönheit oder der Anspruch darauf kann diskriminierend sein oder ausgenutzt werden. In den USA ist es verpönt oder gar verboten, einer Bewerbung ein Porträtfoto beizulegen. Es soll vermieden werden, dass Nicht-Weiße von vornherein aussortiert und benachteiligt werden. In Deutschland ist es gang und gäbe, wobei noch niemand dagegen vorgegangen ist, obwohl die Folgen in der Gesellschaft eben von nationalistischen oder rassistischen Vorurteilen geprägt sein können. Hier könnte sich die Ausstellung positionieren – sie tut es aber nicht.
Wo es nötig oder vorteilhaft sein kann, schön zu sein oder durch Figur, Kleidung, Styling Eindruck zu machen, sind natürlich Macher gefragt. Die »Schönheitsindustrie« bietet sich mit einem riesigen Potential an: Kosmetikindustrie, Bekleidungsindustrie, Modegestalter, Friseure und Stylisten, und schließlich die Schönheitschirurgie. Vorgeschaltet sind die Modemacher und die Medien, die heute mehr denn je die Maßstäbe für Schönheit und Attraktivität setzen. Sie kreieren die Leitbilder, nach denen sich »die Welt« richtet und deren Nachahmer sie mit Kleidung, Accessoirs, Kosmetik und anderen Hilfsmitteln ausstatten. In ihrer Macht liegt die Gestaltung der Mode und der Wechsel der Idole. Schönheit wird, wie die Presseinformation sagt, nicht mehr nur Gegenstand der Betrachtung, sondern sie wird scheinbar für jeden verfügbar. Und die Menschen bringen dafür Opfer. Das Bedürfnis nach angenehmem Aussehen wird zum Zwang nach Anpassung an die jeweilige Schönheitsnorm.
Diesem Komplex widmet die Ausstellung sehr viel Raum. Der »Schönheitsdiskurs« schafft die Atmosphäre, in der die Bilder, die jedem aus den Medien geläufig sind, beim Betrachter viele Assoziationen wecken und eine lange Verweildauer garantieren.
Die Ausstellung fragt, ob es Idealmaße für Schönheit gibt. Seit Euklid sucht die Wissenschaft den Goldenen Schnitt in Kunst und Architektur. Gezeigt wird eine Projektion »schöner« Gesichter aus der Kunstgeschichte und aus der Szene moderner Stars. Der amerikanische Schönheitschirurg Stephen Marquardt berechnete Schönheit nach den Maßen des Goldenen Schnitts. Aus dem Verhältnis von Nasenbreite zur Mundbreite errechnete er die Formel für eine »Maske der Schönheit«. Die Ausstellungsbesucher dürfen sich vergleichen, ob sie in die Schablone passen oder nicht.
Was geschieht mit Menschen, die schön sein wollen und nicht die Idealmaße haben, sowohl physignomisch als auch figürlich? Plastische Chirurgie, Hormon- und Botox-Behandlungen zeigen scheinbare Auswege. In Deutschland lassen sich jährlich 800 000 Frauen und immer mehr Männer operieren. Das geht bis zu qualvollen Beinverlängerungen. Ein Videofilm der Französin Orlan zeigt den Selbstversuch zur Korrektur des Körpers und des Gesichts bis zum Erbrechen. Das kann abschrecken.
Pro und Kontra werden von Wissenschaftlern erläutert. Aber wer braucht den Goldenen Schnitt? Nimmt die Gesellschaft diesen Maßstab an, fällt jeder durch das Raster, der ihren Erwartungen nicht gerecht wird, der nicht gesund, leistungsfähig, wohlproportioniert und »schön« ist. Durch das Raster fallen Kranke, Behinderte, Dicke, »Häßliche«. Wer will sie? Wohin mit ihnen? Kein Gedanke, nicht einmal eine Andeutung bei den Machern der Ausstellung, dass dies die Vorstufe zum Rassismus und zur Euthanasie werden kann. Die Nazis haben massenhaft Vermessungen gemacht, um das Idealbild des »arischen« Menschen zu finden – und umgekehrt, was das »Jüdische«, das »Fremdartige« kennzeichnet. In der Ausstellung »Tödliche Medizin«, die 2007 auch im Hygiene-Museum Dresden zu sehen war, wurden die Untaten der Nazis und ihre Folgen gezeigt. Jedoch mit Fragezeichen. Opferorganisationen haben dem Museum damals Inkonsequenz vorgeworfen, sogar Geschichtsfälschung. Abermals muss man feststellen, dass das Hygiene-Museum bei sich selbst nichts gelernt hat – oder von anderen zu lernen nicht fähig war.
Schönheit ja oder nein, gut oder schlecht – völlig ausgeklammert ist die Frage: was macht den Menschen schön? Was machen Intelligenz, Charme, Güte, Bewegungen, Blicke, Worte für die Erscheinung des Menschen aus? Wie gestaltet er selbst durch Bewegung, Sport und Tanz sein Selbstbewußtsein und seine körperliche Ausstrahlung? Was ist Lebensqualität? Was verschafft dem Menschen Freundschaft, Liebe, Achtung in der Gesellschaft? Was macht es aus, ob er hungrig oder satt ist? Muß er »schön« sein? Gab es seit der Antike, wie die Ausstellung zeigen soll, nur die Suche nach idealen Proportionen oder auch das Wachsen eines humanistischen Ideals des kreativen, produktiven, allseits gebildeten Menschen? Menschlich ist, jeden zu achten, egal wie sein Äußeres oder seine Proportionen beschaffen sind. Worin besteht der Wert des Menschen? Mehr Fragen als Antworten. Viele Menschen interessiert: sind Tätowierung, Tattooing und Piercing zu empfehlen oder nicht? Darüber ist Aufklärung zu vermissen.
Schönheit oder was als schön empfunden wird, wird auch mit Sprachbeispielen und Musik demonstriert, mit Reizen, die das Gehör wahrnimmt. Der Besucher darf »Ohrwürmer« genießen – aus Johann Sebastian Bachs »Kunst der Fuge« oder die Arie der Violetta aus der Oper »La Traviata« von Verdi, »Yesterday« von den Beatles oder ein Thema aus der Filmmusik zu »Star Wars« von John Williams. Stücke, mit denen die Menschen millionenfach berieselt werden. Hier ist bereits die gebotene Auswahl das Problem. Was man beispielsweise in der Musik von Schönberg, Strawinsky, Schostakowitsch oder Hans Werner Henze, Siegfried Matthus und Friedrich Schenker entdecken kann, wird nicht diskutiert. Erreicht man die Fans von Heavy Metal, von Rap- oder Punk-Musik? Das Hören-Lernen aus der Vielfalt der überlieferten Weisen und Kompositionen vieler Musikergenerationen überall auf der Welt bleibt ausgespart. .Auf eine Gelegenheit zur Bildung oder einer Ahnung davon, was man an Schönem entdecken kann, verzichten die Autoren bedauerlicherweise.
Ein weiteres Defizit: Welche Schönheitsideale haben Menschen verschiedener Völker und unterschiedlicher Hautfarbe? Was ist in ihren Augen schön? Die Ausstellung »Was ist schön?« ist letzten Endes die Ausstellung vom schönen weißen Menschen. Im Museum vom Menschen! Mit Erschütterung erlebt der Besucher Bilder vom Schönheitswettbewerb »Miss Landmine« in Angola. Die Gewinnerin erhält als Preis eine Prothese. Genügt das, um mit dem massenhaften Schicksal der Behinderung fertig zu werden?
Gekippt wird die Exposition vom schönen Menschen unwillentlich in ihrer letzten Abteilung: In zehn Videos von Gabriele Nagel werden Menschen vorgestellt, die Teile ihres Berufslebens oder ihrer Freizeit nach ihrer eigenen Idee von Schönheit gestalten. Sie befassen sich mit Street Art, Schlangen, Mathematik, Puppenspiel. Modelleisenbahnen, der Ästhetik von Nudeln und anderem. Nicht sie wollen schön sein, sondern schön soll sein, was sie machen. Oder es wird für sie schön. Der Geigenbauer Felix Kraft aus Berlin betrachtet eine Violine, das Werk seiner Hände: »Ich empfinde sie als schön, wenn ich mich in sie verliebt habe.« Aus Liebe wird Schönheit.
Man könnte bezweifeln, ob das Museum über die wissenschaftliche Kompetenz verfügt, ein Ausstellungskonzept im Vorfeld zu diskutieren und ein relativ ausgewogenes Resultat der Öffentlichkeit zu zeigen. Eine Konferenz nach der Eröffnung wird nichts ändern. Auch das Begleitbuch kann nicht korrigieren, was nicht schlüssig ist.
Im Begleitprogamm finden Freunde zueinander. Auch die Bundeswehr ist wieder mit von der Partie. Ihre Themen: »Mythos Lili Marleen: Schönheit -Sehnsucht -Todesnähe« und »Der Glanz der Uniform – warum die Mode vom Militär fasziniert ist«. Der Erfolg ist todsicher.
Was ist schön? Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden bis 02.01.2011.
Erstveröffentlichung in gekürzter Fassung in junge Welt vom 21.04.2010.