Zweitens, weil wir überzeugt waren, dass diese spezielle Gruppe von Immigranten unser Land in die richtige Richtung stoßen würde.
Diese Leute – so sagten wir uns – sind 70 Jahre lang in einem international eingestellten Geist erzogen worden. Sie haben gerade eine grausame Diktatur gestürzt. Sie müssen begeisterte Demokraten sein. Viele von ihnen sind keine Juden, sondern nur Verwandte (manchmal entfernte Verwandte) von Juden. Also haben wir hundert Tausende säkulare, internationalistische und nicht nationalistische neue Bürger, genau das, was wir brauchen. Sie würden ein positives Element dem demographischen Cocktail, das Israel ist, hinzufügen.
Außerdem: da die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft im Land (dem sog. „Yishuv“) zum großen Teil aus Immigranten des zaristischen und früh revolutionären Russland bestand, würden sich die neuen Immigranten sicher leicht mit der allgemeinen Bevölkerung mischen.
So dachten wir wenigstens.
Die gegenwärtige Situation ist genau das Gegenteil.
Die Immigranten aus der früheren Sowjetunion – im Jargon zusammengefasst als „die Russen“ – haben sich überhaupt nicht mit den anderen vermischt. Sie sind eine gesonderte Gemeinde, die in einem selbstgemachten Ghetto lebt.
Sie sprechen weiter russisch. Sie lesen ihre eigenen russischen Zeitungen, alle fanatisch nationalistisch und rassistisch. Sie wählen ihre eigene Partei, die von dem in Moldawien geborenen Evet (jetzt Avigdor) Lieberman angeführt wird. Sie haben praktisch keinen Kontakt mit andern Israelis.
In ihrem ersten beiden Jahren im Lande wählten sie hauptsächlich Yitzhak Rabin von der Labor-Partei, aber nicht, weil er Frieden versprochen hat, sondern weil er ein General und für sie ein hervorragender Mann des Militärs war. Von da ab haben sie die extreme Rechte gewählt.
Die sehr große Mehrheit von ihnen hasst Araber, weist den Frieden zurück, unterstützt die Siedler und wählt rechtsgerichtete Regierungen.
Da sie jetzt fast 20% der israelischen Bevölkerung ausmachen, ist dies ein wichtiger Faktor, der Israel nach rechts stößt.
Warum um Himmelswillen?
Da gibt es mehrere Theorien, wahrscheinlich sind alle von ihnen richtig.
Einmal hörte ich von einem hochrangigen russischen Funktionär: „Während des Sowjetregimes waren Juden sowjetische Bürger wie alle anderen auch. Als die Union aus einander brach, zog sich jeder in seine eigene Nation zurück. Die Juden wurden in einem Vakuum gelassen. Also gingen sie nach Israel und wurden dort israelischer als all die anderen Israelis. Selbst die Nicht-Juden unter ihnen wurden israelische Super-Patrioten“.
Eine andere Theorie lautet: „Als der Kommunismus in Russland zusammenbrach, trat der Nationalismus (oder die Religion) an seine Stelle. Die Bevölkerung blieb bei ihrer totalitären Haltung, mit Verachtung für Demokratie und Liberalismus und dem Verlangen nach einem starken Führer. Es gab auch einen weit verbreiteten Rassismus der „weißen“ Bevölkerung der nördlichen Sowjetunion gegenüber den „dunklen“ Völkern des Südens. Als die russischen Juden (und Nichtjuden) nach Israel kamen, brachten sie diese Haltung mit sich. Sie ersetzten die verachteten Armenier, Tschetschenen und all die anderen durch Araber. Diese Einstellung wird täglich von den russischen Zeitungen und TV-Stationen in Israel genährt.
Ich bemerkte diese Haltung, als ich 1990 das erste Mal die Sowjetunion während der Ära von Mikhail Gorbachows Glasnost besuchte. Ich konnte es vorher nicht besuchen, weil mein Name regelmäßig von jeder Liste von Leuten gestrichen wurde, die häufig eingeladen wurden, um den Ruhm des sowjetischen Vaterlandes zu sehen. Ich weiß nicht, warum. (Seltsam genug ist, dass ich auch von der Liste der in die US-Botschaft am 4. Juli eingeladenen Würdenträger gestrichen wurde; und einige Jahre hatte ich große Schwierigkeiten, ein amerikanisches Visum zu erhalten. Vielleicht weil ich gegen den Vietnamkrieg demonstriert hatte. Ich muss einer der wenigen Leute in der Welt sein, die darauf stolz sein können, dass er auf der schwarzen Liste von beiden stand, von der CIA und dem KGB.)
Ich flog nach Russland, um ein Buch über das Ende des kommunistischen Regimes in Ost-Europa zu schreiben. (Es wurde auf Hebräisch unter dem Titel „Lenin lebt nicht mehr hier“ veröffentlicht). Rachel und ich liebten Moskau sehr, aber wir brauchten nur wenige Tage, um den ungezügelten Rassismus rund um uns staunend zur Kenntnis zu nehmen. Dunkelhäutige Bürger wurden mit nicht verhüllter Verachtung behandelt. Wenn wir auf den Markt gingen und mit den Verkäufern scherzten, alles Leute aus dem Süden, mit denen wir sofort Kontakt hatten, dann distanzierte sich der nette, ernst dreinschauende russische Übersetzer ganz offen.
Meine Freunde und ich haben uns jeden Freitagabend seit etwa 50 Jahren getroffen. Als die Russen begannen zu kommen, traf sich unsere Runde in Tel Avivs Cafe Kassit, dem Treffpunkt von Schriftstellern, Künstlern und ähnlichen Leuten.
Eines Tages bemerkten wir, dass sich eine Gruppe junger russischer Immigranten ihre eigene Tafelrunde geschaffen hatte. Voller Sympathie – aber auch Neugierde- schlossen wir uns zuweilen ihnen an.
Am Anfang funktionierte dies ganz gut. Einige Freundschaften wurden geschlossen. Aber dann geschah etwas Seltsames. Sie distanzierten sich von uns, indem sie uns klar machten, dass wir für sie nur unkultivierte nahöstliche Barbaren seien, nicht wert, mit ihnen, die mit Tolstoi und Dostojewskij aufgewachsen seien, zu kommunizieren. Dann verschwanden sie überhaupt aus unserm Blickfeld.
Ich wurde letzten Freitag daran erinnert, als eine ungewöhnlich hitzige Diskussion an unserm Tisch ausbrach. Wir hatten einen Gast, eine junge „russische“ Naturwissenschaftlerin, die die Linke anklagte, dass ihre Gleichgültigkeit und ihre gönnerhafte Haltung gegenüber der russischen Gemeinde diese veranlasst habe, sich den Rechten zuzuwenden. Eine renommierte Friedensaktivistin reagierte wütend: sie behauptete, dass die Russen schon mit einer fast faschistischen Haltung hierhergekommen seien.
Ich stimmte mit beiden überein.
Israels Einstellung gegenüber neuen Immigranten ist immer etwas seltsam gewesen.
Führer wie David Ben-Gurion hat die zionistische Einwanderung behandelt, als wäre es nur ein Transportproblem. Sie gaben sich außerordentlich viel Mühe, um Juden aus aller Welt nach Israel zu bringen, aber als sie dann hier waren, ließen sie sie sich selbst versorgen. Materielle Hilfe wurde gegeben, eine Wohnung wurde bereit gestellt, aber fast nichts wurde getan, um sie in die Gesellschaft zu integrieren.
Dies traf auch für die Masseneinwanderung der deutschen Juden zu, die in den 30erJahren kamen, die orientalischen Juden in den 50erJahren und die russischen in den 90ern. Als die Masse der russischen Juden die USA bevorzugten, setzte unsere Regierung die amerikanische unter Druck, ihre Tore ihnen vor der Nase zu schließen, so waren sie praktisch gezwungen, hierher zu kommen. Als sie kamen, ließ man sie sich in Ghettos versammeln, statt sie dahin zu bringen, sich unter uns zu verteilen und zu leben.
Die israelische Linke war keine Ausnahme. Als einige schwache Bemühungen, sie ins Friedenslager zu ziehen, erfolglos blieben, wurden sie alleine gelassen. Die Organisation Gush Shalom, zu der ich gehöre, verteilte einmal 100 000 Kopien unserer Vorzeigeveröffentlichung („Wahrheit gegen Wahrheit “, die Geschichte unseres Konfliktes auf Russisch) Als wir nur eine einzige Antwort erhielten, waren wir entmutigt. Offensichtlich interessierten sie sich einen Dreck für die Geschichte dieses Landes, von der sie nicht die geringste Ahnung haben.
Um die Bedeutung dieses Problems zu verstehen, muss man sich die Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wie sie tatsächlich ist, vor Augen halten. (Ich habe mehrere Male darüber in der Vergangenheit geschrieben). Sie besteht aus fünf Gruppierungen von fast gleicher Größe:
a) Juden europäischen Ursprungs, genannt Ashkenasim, zu denen die meisten der kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Elite gehören. Die Linke ist fast vollkommen dort konzentriert.
b) Juden orientalischen Ursprungs, oft (fälschlicherweise) Sephardim genannt, aus arabischen und muslimischen Ländern. Diese „Misrahim“ sind die Basis des Likud.
c) Die religiösen Juden, die die ultra-orthodoxen Haredim einschließen, sowohl Ashkenazim als auch Orientale, sowie auch national-religiöse Zionisten, die die Führung der Siedler einschließt.
d) Die arabisch-palästinensischen Bürger, die vor allem in drei großen geographischen Gruppen leben.
e) Die „Russen“.
Einige dieser Gruppen überschneiden sich am Rande, aber das Bild ist eindeutig. Die Araber und viele der Ashkenasim gehören zum Friedenslager, alle anderen gehören geschlossen zum rechten Flügel.
Deswegen ist es absolut dringend, wenigstens Teile der orientalischen Juden, die religiösen und – ja – die „Russen“ zu gewinnen, um eine Mehrheit für Frieden zu gewinnen. Meiner Meinung nach ist das im Augenblick die bedeutendste Aufgabe des Friedenslagers.
Am Ende der wütenden Debatte an unserm Tisch versuchte ich beide Seiten zu beruhigen.
Es ist nicht nötig, sich darüber zu zanken, wie die Schuld zu verteilen sei. Es gibt genug Schuld für alle.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen: Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 02.05.2013. Alle Rechte beim Autor.