Vergangenheit und Gegenwart existieren in Michael Thalheimers Inszenierung von Anfang an nebeneinander. Das zeigt sich auch in den Kostümen von Katrin Lea Tag. König Gunther (Ingo Hülsmann) präsentiert sich archaisch in Kettenhemd und Fellmantel. Seine Männer sind unauffällig modern gekleidet, Hagen, der Intrigant, erscheint in schwarzer Hose und schwarzem Hemd.
Die Männerhorde, verbunden durch Treue bis in den Tod, wird zusätzlich zusammengeschweißt durch Hagens heimtückischen Mord an Siegfried. Totschlag und Gewalt sind für Gunther und seine Kumpane rühmliche Taten, nur offen und ehrlich muss es dabei zugehen. Zum Planen und Denken scheint, außer Hagen, ohnehin keiner in dieser Truppe fähig zu sein.
Wenn es darum geht, Spaß zu haben, ist Ehrlichkeit allerdings nicht so wichtig. Als Gunther von der unbezwingbaren Brunhild erfährt, verkündet er sofort großmäulig, dass er diese Frau haben muss. Weil Gunther jedoch gegen Brunhild keine Chance hätte, kommt Hagen auf die Idee, dass Siegfried helfen könnte, der starke Held, unverletzbar durch sein Bad im Drachenblut und noch dazu im Besitz einer Tarnkappe. Unter deren Schutz hatte Siegfried sich bei Brunhilds Burg schon einmal umgesehen, um festzustellen, dass Brunhild ihm nicht gefällt.
Mittlerweile hat Siegfried sich in Gunthers Schwester Kriemhild verliebt und sie sich in ihn. So wird Siegfried mit dem Versprechen geködert, er dürfe Kriemhild heiraten, wenn er Gunther zum Sieg über Brunhild verhilft.
Das Vorhaben gelingt. Brunhild verlässt ihre Burg mit ihrem vermeintlichen Bezwinger Gunther. Ihre Stärke jedoch hat Brunhild noch nicht verloren. Erst durch sexuelle Einvernahme ist die zu überwinden. Superman Siegfried muss also noch einmal in Aktion treten, damit die Hochzeitsnacht ein Erfolg für Gunther werden kann. Mit großem Gelächter und heftigem Besäufnis beschließt das Trio Hagen, Gunther und Siegfried den nächsten Coup, der ebenfalls gelingt.
Thalheimers Regie bringt die von Hebbel dichterisch verbrämte Geschichte auf den Punkt: Es geht um die Männerphantasie von der starken Frau, die durch Vergewaltigung zur untertänigen Dienerin gemacht wird.
Natali Seelig als Brunhild erscheint zunächst als furchtlose Wilde, den Elementen gebietend, unerschütterlich ihrer eigenen, scheinbar grenzenlosen Macht vertrauend.
Olaf Altmann hat eine variable Bühne kreiert. Spielfläche ist eine Schräge, die sich bei Szenenwechseln in zwei übereinanderliegende Ebenen verwandelt.
Ganz oben, in einsamer Größe, thront Brunhild auf ihrer Burg. Nur Frigga leistet ihr Gesellschaft. Jürgen Huth gestaltet die Amme als geheimnisvoll düstere Priesterin, triefend vom Blut geopferter Tiere, denn Frigga ahnt drohende Gefahr, die Brunhild in ihrer unbekümmerten Selbstüberschätzung nicht wahrhaben will.
Als Besiegte an Hof der Burgunder kuscht Brunhild vor Gunther, windet sich schmeichelnd zu seinen Füßen. Ihr luftiges Feengewand erscheint hier wie die Kostümierung einer Prostituierten. Die stolze Brunhild bewegt sich jetzt wie ein gefangenes Tier, das nach einem Fluchtweg sucht oder nach einem Opfer, an dem es sich festbeißen kann.
So kommt es zu dem Streit zwischen Brunhild und Kriemhild, bei dem Brunhild erfährt, dass Siegfried sie bezwungen und dann Gunther überlassen hat. Rächen kann Brunhild sich nicht, denn durch die Vergewaltigung ist sie ihrer übernatürlichen Kräfte beraubt. Sie tritt in Hungerstreik, um zu erzwingen, dass Siegfried getötet wird.
Peter Moltzen ist eigentlich ein sympathischer Siegfried, ein naiver Junge mit Lust am Drauflosschlagen, überrascht über die Macht und den Reichtum, die ihm zugefallen sind. Er ist ein verlässlicher Freund, und außerdem stellt er seine Fähigkeiten gern unter Beweis. Mit seinen infantilen Kicher- und Lachanfällen erweist dieser Siegfried sich als Mensch mit äußerst bescheidenen Geistesgaben. In Kriemhild ist er ernstlich verliebt, und mit ihr geht er mit rührender Zärtlichkeit um. Kriemhild gegenüber ist ihm das Abenteuer mit Brunhild peinlich, während er wegen Brunhild kein schlechtes Gewissen hat.
König Gunther ist ratlos, nachdem sein Geheimnis verraten ist und Brunhild Siegfrieds Tod fordert. Wieder einmal findet Hagen Tronje eine Lösung. Sven Lehmanns Hagen ist ein unterkühlter Diplomat, der mit klarem Verstand das Notwendige erkennt.
So selbstverständlich wie Siegfried seine Körperkraft, nutzt Hagen seine Intelligenz. Ihm ist klar, dass Siegfried sterben muss. Der nützliche Idiot kann jederzeit zur Gefahr werden, und in fairem Kampf ist der „gehörnte“ Siegfried nicht zu schlagen.
Hagen hat kein Unrechtsbewusstsein, als er Kriemhild über die einzige ungeschützte Stelle an Siegfrieds Körper ausfragt. Hagen tut das Vernünftige ohne zu schmeicheln oder sich zu verbiegen, und er erledigt auch zuverlässig die Aufgabe, Siegfried zu töten.
Kriemhild ist isoliert in der Männergesellschaft am Hof der Burgunder. Lediglich ihre Mutter (Gabriele Heinz) steht ihr zur Seite, und die rät zu fügsamem, traditionell weiblichem Verhalten.
In Marius von Mayenburgs Inszenierung von Hebbels „Nibelungen“, an der Schaubühne, die im September 09 Premiere hatte, ist Eva Meckbach als Kriemhild eine mit bedingungsloser Leidenschaft um Rache kämpfende Frau.
Maren Eggert dagegen gestaltet eine Zerrissene. Auch diese Kriemhild versinkt in unendliche Trauer um Siegfried, auch sie fordert ihr Recht und Rache für den Mord, aber manchmal scheint sie unsicher.
Ebensowenig wie Peter Moltzens Siegfried ein Held ist, ist Maren Eggerts Kriemhild eine Heldin. Vielleicht würde sie ihre Forderungen aufgeben, wenn ihr nicht alles zufiele, was für ihre Pläne notwendig ist. Ihren geliebten Bruder Giselher (Moritz Grove) möchte sie retten. Seine Angst bewegt sie, aber das Ungeheuerliche, das von Kriemhild in Bewegung gesetzt wurde, ist nicht mehr zu steuern. Wenn Rüdeger (Michael Schweighöfer) um die Rettung seiner Seele fleht, bleibt Kriemhild dagegen ungerührt. Sie selbst hat ihre Seele längst aufgegeben.
Bernt Wrede hat das Stück mit bedrohlich grummelnden Saitenklängen unterlegt, Musik, die Wagner ahnen lässt. Die großen Monologe sind angelegt wie Opernarien. Siegfrieds Abenteuerbericht, Brunhilds Zornausbruch und Kriemhilds Klage werden in so rasendem Tempo gesprochen, dass, trotz hervorragender Artikulation, die Inhalte kaum aufnehmbar sind. Wichtiger als sie sind die dramatischen Sprachmelodien.
Am Schluss der geschickt auf drei Stunden zusammengekürzten Trilogie verzögert sich die bis dahin temporeiche Vorstellung. Das Sterben der in Blutströmen lachend in den Tod tanzenden Burgunder geschieht mit quälender Langsamkeit, so zeitraubend, wie vor langer Zeit vielleicht gestorben wurde. Heute lässt sich das viel schneller und sauberer erledigen.
„Die Nibelungen“ von Friedrich Hebbel hatte am 26.03. Premiere im Deutschen Theater Berlin. Weitere Vorstellungen: 01., 02., 25. und 29.04.2010.