Die geheime Liebe übersteigt jeden Willen – Die Wiederentdeckung eines mystischen Buches

Diese Zeilen wurden etwa um 1290 geschrieben! Sie sind dem Kapitel 103 des Buches „Der Spiegel der einfachen und zunichte gewordenen Seelen“ der Marguerite Porete entnommen, einer Begine, die zwanzig Jahre später für ihre ketzerische Schrift ihr Leben qualvoll auf dem Scheiterhaufen beendete.
Aber nun etwas ausführlicher; Marguerite Porete, wahrscheinlich um 1250 in der nordostfranzösischen Stadt Valenciennes geboren und aufgrund ihrer außergewöhnlich hohen Bildung sicherlich eine Patriziertochter, war mit einem Herrn Poré oder Porreau verheiratet. Vielleicht, so genau kann es nicht rekonstruiert werden, wie vieles andere vage bleibt in diesem ungewöhnlichen Leben. Aus den Akten des Prozesses, der auch eine Beurteilung ihres „Seelenspiegels“ durch eine einundzwanzig-köpfige Theologen-Kommission enthält, geht hervor, dass die Autorin eine Begine war.

Beginen entsprangen einer Frauenbewegung aus dem niederen Adel und dem städtischen Patriziat, die gegen Ende des 12. und zum Anfang des 13. Jahrhunderts zu einer relativ autonomen Lebensweise fanden. Sie lebten in eigenen Häusern und verdienten ihren Lebensunterhalt selbst, nahmen kein Ordensgelübde auf sich, unterstanden aber dennoch dem Schutz der Kirche. Ihre Häuser waren durch ein schlichtes weißes Kreuz gekennzeichnet. Einige Beginen führten ein Wanderleben und verdienten dabei mitunter ihren Lebensunterhalt gar als Prostituierte, welche Demonstration des freien Willens! In Mitteleuropa wird die Zahl der eigenwilligen Damen auf eine Million geschätzt, das machte drei bis vier Prozent der Bevölkerung aus. Mechthild von Magdeburg war eine der prominenten Vertreterinnen ihrer neuen spirituellen Verbindung, die in mittelalterlicher Frauenmystik gipfelte.

„Der Spiegel der einfachen Seelen“, wie das Buch Poretes heute in neuer und kommentierter Übertragung aus dem Altfranzösischen genannt wird, will ein mystisches Lehrbuch sein, eine Anleitung und Hinführung zu einem Leben aus der reinen göttlichen Liebe heraus. In seiner sehr informativen Einleitung bezeichnet der Übersetzer Bruno Kern das Werk als „mystagogisch“ und ordnet es der „Speculum-Literatur“ zu, also den (höfischen) Sitten – und Verhaltenscodizes, auch Jungfern- oder Fürstenspiegel genannt. So entspricht der Text denn auch der höfischen Minnelyrik und konnte nach seiner Bannung und Verbrennung nebst Verfasserin nie ganz getilgt werden. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Autorschaft Poretes nachgewiesen, der Seeelenspiegel nahm jedoch auch anonym einen enormen Einfluss auf die spätere Mystik, namentlich Meister Eckhart. Und manch adlige Dame, wie die Schwester des französischen Königs Franz I. – Marguerite von Navarra, war ein flammender Fan der Liebesbotschaft Poretes.

In 139 Kapiteln von jeweils circa einer Seite lässt die Autorin die Seele, die Liebe und die Vernunft in Dialog treten. Ein sinnliches, ein berauschendes Zeugnis beseelter Liebe und freien Willens einer beeindruckend mutigen Frau von vor 700 Jahren!

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Marguerite Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen, Mystik der Freiheit, Aus dem Altfranzösischen neu übersetzt von Bruno Kern, 221 Seiten, marixverlag Wiesbaden, 2011, 10,- €

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