Nach ihrem schnörkellosen Roman „Pink Hotel“ (2012 auf deutsch) legt der Diogenes-Verlag hiermit den Erstling der inzwischen dreißigjährige Britin auf. Es ist ebenfalls eine Teenager-Geschichte. Und das funktioniert, Stothard scheint die Gedankenwelt einer schlaksigen Charlotte Gainsbourg aus dem Zementgarten in die Jetztzeit zu tragen, in mehreren Romanen vor uns auszubreiten. Uns immer wieder über die Scherben zertrümmerter Kindheitsträume zu jagen, die wehtun. Sich einprägen.
Isabel und Rocco sind Geschwister, eigentlich erwachsen genug, um das Verschwinden der Eltern aus dem gemeinsamen Haus kompensieren zu können. Die Autorin spielt mit Synonymen – das Haus ist eine Haut für die fragile Gemeinschaft seiner Bewohner, dessen Konstrukt ohne die fehlenden Organe kollabiert.
„Früher war das Haus stabil genug gewesen, um Streit oder das Aufeinanderprallen verschwitzter Körper auszuhalten. Weder erste noch letzte Male machten ihm etwas aus. Aber jetzt schien es zerbrechlich wie trockenes Laub.“
Isabel, die Erzählerin, erinnert sich an kürzlich und ferneres Erlebtes. Immer um Rocco kreisend, seine Wut, seine Schönheit. Seine Fragen. Die ersten Male. Tauben vor dem Dachfenster, der Kramladen der Eltern, Allianzen der Generationen, Wunden und Waffen. Bis alles kaputt geht.
„Rocco zündete sich eine Zigarette an und betrachtet mich darüber hinweg. Ich wollte, dass er sich neben mich setzte, mit mir die Wärme seiner Zigarette und seines Körpers teilte. Wenn ich acht gewesen wäre und er zehn, wenn das alles nicht passiert wäre, hätte er sich zu mir auf die kalten Dielen gesetzt, seine Zigarette mit mir geteilt und mich berührt. Doch selbst jetzt, wieder vereint, spürten wir die Wunden noch.“
Fazit: Der schaurig schönen London-Erstling Anna Stothard ist eine zeitlose, traumhafte und bildstarke Erzählung einer brutal endenen Kindheit in London-Camden Town.
* * *
Anna Stothard, Isabel & Rocco, Roman, Aus dem Englischen von Jenny Merling, 230 Seiten, Diogenes Verlag, 2014, ISBN-10: 3257300271, 14, 90 € (D)