Der Lebensentwurf dieser Sozialutopie nach stalinistischem Muster nannte sich die „Diktatur des Proletariats“. Geschäftsführende Partei dieser Diktatur war die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Partei gebrauchte Losungen wie „Alles für das Wohl des Volkes“. Es wurden Synonyme für die DDR verwendet wie „Arbeiterparadies“. Und damit nie wieder jemand aus einem Paradies vertrieben werden konnte, errichtete der allgegenwärtige SED-Staat am 13. August 1961, bei schönstem Sonnenschein, ringsum seine Hauptstadt einen Schutzwall. Das war die Berliner Mauer. Wer jetzt fand, dass sich ein Leben in diesem „Paradies“ nun eigentlich nicht mehr lohne, brauchte nur einen Fluchtversuch zu wagen. Die unheiligen Erzengel an den Grenzen des Paradies wurden täglich mit Schießbefehl und scharfer Munition (jedes Magazin 60 Schuss) „vergattert“, die Unbeflecktheit des Schutzwalls zu gewährleisten.
Eine zuverlässige Gesamtzahl der Toten an der innerdeutschen Grenze gibt es bis heute nicht, doch darf gesagt sein, es sind viele. Erschlossen dagegen sind die Tötungen an der Berliner Mauer. Die Zahl ist dreistellig. Beleuchtende Statements nach dem Untergang dieses SED-Staates sind inzwischen Legion. "Die DDR war ein überflüssiges Experiment" ist eines. Es stammt von Dirk Mecklenbeck, einem der „Mauerkrieger ". Diese Bezeichnung fasst eine Gruppe „junger Ausgereister aus der Hallenser Heavy Metal – und Punk-Szene“ zusammen, die „von West-Berlin aus das zunehmende Aufbegehren gegen die politischen Verhältnisse in der DDR unterstützen“ und „Zeichen der Solidarität nach Osten setzen und gegen die Gleichgültigkeit derjenigen protestieren, die sich im Westen mit der Mauer arrangiert“ hatten. Der Klappentext des von den Herausgebern Ole Giec und Frank Willmann sorgfältig zusammengestellten und kommentierten Bandes, „Mauerkrieger. Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989“, fokussiert wieder ein faszinierendes Stück Neuland innerhalb der Aufarbeitungsliteratur über die zweite deutsche Diktatur.
Rückblick. „Das realsozialistische Experiment muss weitergehen", stand auf dem Flugblatt eines Westberliner FU – Professors, vorgelegt einer kleinen Runde im „Café Limit“, in der Moabiter Waldstraße, im Herbst ’89 , als die Bürger der DDR ihren Staat soeben entmachteten. Die DDR verkaufte Menschen gegen Valuta und wurde immer süchtiger nach diesem Handel. Das kapitalistische Erfolgsrezept, in Investigationen zu investieren, wurde überhaupt nicht verstanden, außer wenn es um Geheimdienste und deren Machenschaften ging. Die Wirtschaft ging den Bach runter. Der Kontrollwahn nahm zu. Für sein Misslingen machte der suchtkranke Staat am Ende das Volk verantwortlich. Das gab es schon einmal, für das eigene Versagen das Volk vorzuschieben: der Mann hieß Hitler, aufgeschrieben wurde es im Bunker, so steht’s in dessen Testament. Das Aller-Böseste aber für den SED-Staat war der Westen, die Bundesrepublik, der andere deutsche Teilstaat, der, wie die DDR, nach Hitlers Niederlage entstand, nur eben kapitalistisch orientiert. Dessen Einfluss auf die DDR-Jugend wurde von Polizei und Geheimdienst als größte Gefahr gesehen. Der Westen wurde verboten – und war um so attraktiver. Und nur wer attraktiv ist, gewinnt.
Und mal ehrlich, wo produzierte die "Zone" außer Schlaglöcher mal was Eigenes? DeDeRon? War Perlon. Das ist traurig, aber es gibt keinen Traurigkeitsbonus. Traurig lohnt sich kein Leben. Das Volk der DDR dachte westlich. Die DDR-Bonzen lebten westlich. Und hielten am Westverbot für das Volk fest. Eine Niedertracht mit Folgen. West-Mode und West-Musik dominierten den Osten. Ins Land geschmuggelte Broschüren mit Berichten und Abbildungen des vermeintlichen Lebensgeschmacks der Westjugend hatten Konjunktur. Wer sich das im Osten zu eigen machte, lief nun Gefahr, mit dem kruden Vorwurf des „antisozialistischen Verhaltens“ konfrontiert zu werden und wanderte auch schnell mal in den Knast. Der Staat kriminalisierte, was ihm nicht geheuer war. Das verdeutlichen beeindruckend die im „Ðœauerkrieger“ – Buch vorgestellten Lebensläufe.
Raik Adam besucht einen evangelischen Kindergarten, anstatt jene auf sozialistische Früherziehung ausgerichtete staatliche Kinderschmiede zu besuchen. Von den Eltern bekommt er das Zwei-Gesichter-System des SED-Staates erklärt: das ehrliche für zu Hause, das schummelnde für die Öffentlichkeit. Zuhause, privat, laufen im im Radio und im Fernsehen nur Westsender. Die Westverwandtschaft schickt zudem reichlich Jeans und T-Shirts. In der Schule spielt einmal ein Lehrer im Vollrausch verbotene Platten der Rolling Stones. Ob die LP’s der Rolling Stones in der DDR tatsächlich verboten waren, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Das DDR-Label „Amica“ brachte zumindest 1983 eine Auswahl der bekanntesten frühen Stones-Hits heraus. Auch schickte der Rezensent selbst etliche Plattenpakete mit Stones-Scheiben in den Osten und alle kamen unversehrt bei den Adressaten an. Andererseits hieß der beim RIAS von Osthörern häufigst gewünschte Titel „Street Fighting Man“. Und der RIAS war Feindsender Nummer 1. Und so eine durchaus sympathische Eskapade wie die des betrunkenen Lehrers, konnten im Osten eine Vita frühzeitig dicht machen und eine weitere Karriere ausschließen. Oder man diente sich sich durch noch größeres Anpassen dem SED-Staat. Etwa als Spitzel, der verhasstesten Spezies auf Erden. Für derlei Dienste erweisen sich die vier Helden des Buches als völlig ungeeignet. Sie standen auf Amerikanische Literatur (seit der 1950ger-Generation unangefochtene Nr.1: Jack Kerouacs „On The Road“), gründeten eine eigene Punk-Band, sprühten Graffiti a la „Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin.“ Jeder im Osten wusste, wie der Staat sein eigenes Volk betrog. Aber sagt man das laut, klebten einem schon die Häscher an den Fersen. Die Mehrheit verhielt sich still, noch. Die "Mauerkrieger" gehörten nicht zu dieser Mehrheit.
Heiko Bartsch ist seit den gemeinsamen Tagen im evangelischen Kindergarten Adams Kumpel. Nach der Scheidung der Eltern fällt Bartschs Erziehung größtenteils den Großeltern zu. Der Großvater gehört zu den nach dem Krieg enteigneten Hallenser Unternehmern. 1979 reisen die Großeltern in den Westen auf Besuch und kehren nicht zurück. Nun werden die Freude zur Familie. Auf dem Schwarzmarkt in Polen gekaufte Symbole wie das Victory – Zeichen sind Zaubersymbole und Ðœutmacher in einem.
Gundor Holesch könnte es besser haben. Für ihn könnte sich ein Leben in der DDR absolut lohnen. Er stammt aus einer Akademikerfamilie, die voll auf Parteilinie liegt und den Haushalt „antiseptisch“ sauber hält. Ab der Grundschule schon zeigt er Interesse fürs Fotografieren, aber eben auch dafür, mit seinen Kumpels „abzuhängen“ (sic). Zudem schwärmt er wie Raik Adam und Heiko Bartsch für Heavy-Metal und Punk. Hinzu kommt sein Faible für westliche Motorräder. Seine Fotomotive findet er auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Köckern, gelegen an der Transitstrecke zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik. Der Verkauf der Fotos findet auf Flohmärkten und unter Freunden statt. Zur Krönung gründet er zusammen mit René Boche eine eigene Band. Punk, versteht sich. No Future, die Pose der Verdammten, ätzende Musik Mehr "auf allem herumtrampeln" ging nicht. Der Staat wartete auf seine Chance zurückzuschlagen.
René Boche wächst ohne Vater auf. Die Mutter ist Journalistin und hat immer wenig Zeit. Von einer Lehre als Fertigungstechniker wird er aus „pädagogischen Gründen“ vom Staat in eine Lehre als Tischler „zwangsumgesetzt“. Während der Ausbildung erhält er finanzielle Unterstützung durch die Mutter. Was im Staat geschieht, gefällt ihm nicht. Er hat andere Pläne und stellt im Jahr 1984 einen Antrag auf Übersiedlung in den Westen. Doch anstatt ihn in den Westen zu entlassen, zieht ihn der Staat in die Armee ein. René Boche leistet seine Grund Wehrdienst und hält das schikanöse Leben in der nationalen Volksarmee (NVA), wie übrigend auch Heiko Bartsch, fest.
Die Walze zur Zerschlagung der Punk-Bewegung in der DDR rollte seit dem Jahr 1980 im großen Maßstab über die DDR hinweg. Immer mehr Spitzel werden in die bunte Szene eingeschleust. Für den Staat musste stets neues Wissen her: Gibt es Kontakte in den Westen zu ähnlichen Gruppierungen? Alle Namen, Äußerungen, Absichten. Nach außen hin soll die DDDR demokratisch dastehen, doch muss der SED-Staat alles in der Hand haben. Das ist die innerste Parole. Wolfgang Leonhard hielt Wortlaut und Herkunft in seinem Buch „Die Revolution frisst ihre Kinder“ fest. Der SED-Staat entzieht den rebellierenden Jugendlichen endgültig sein Vertrauen, als ihm auch noch deren Reisen zu den Montagsgebeten nach Leipzig bekannt wird. Die Nikolaikirche ist dem SED-Staat wie der Westen verhasst. Er reagiert mit dem Einzug der Personalausweise und erteilt den berüchtigten vierblättrigen „PM 12“. Der PM 12 ist sozusagen letzte Warnung und erste Stufe der Kriminalisierung (Niederhaltung) vermeintlich entgegensteuernder Bürger. Wer mit einem PM 12 außerhalb seines Wohnkreises, seiner Stadt, kontrolliert wird, hat schlechte Karten, seinen Weg unbehelligt fortzusetzen. Und den Ausweise bei sich zu führen, ist im SED-Staat Pflicht.
Auslandsfahrten sind mit einem „PM 12“ völlig unmöglich. Das Schild-und Schwert der SED, das Ministerium für Staatssicherheit, wartete auf seine Chance, die Jugendlichen einzubuchten. Und dies ist ihm beinahe auch gelungen.
Ein weiterer im Bunde, Dirk Mecklenbeck, wird ebenfalls eingezogen. Auch er leistet nur seinen Grundwehrdienst. Auch er lehnt die großzügigen Angebote des SED-Staates für länger Dienende ab. Er will sich das Vertrauen dieses Staates nicht verdienen. Und als er im März 1986 auf Urlaubsfahrt an einer Grenzübergangsstelle von der DDR in die Tschechoslowakei (Tschechien und die Slowakei bildeten damals einen gemeinsamen Staat) mit dem Vorwurf auf Vorbereitung zur Flucht (in den Westen) festgenommen wird, hängt an der Stasi-Angel wirklich ein kleiner fetter Fisch.
Denn an jenem Tag wird Dirk Mecklenbeck in der Tschechoslowakei von seinem Cousin Raik Adam erwartet, der wenige Wochen zuvor in den Westen, nach West-Berlin, ausreisen durfte. Bei diesem Treffen will Dirk Mecklenbeck an Raik Adam die Briefe mit Heiko Bartsch NVA-Auszeichnungen übergeben. Sie sollen im Westen veröffentlicht werden. Daraus wird nichts. Dirk Mecklenbeck wird auf der Fahrt verhaftet. Die Briefe hat er bei sich. Verurteilungen stehen in solchen Fällen bisher außer Frage. Doch nach einer Woche Untersuchungshaft kehrt Dirk Mecklenbeck in seiner Kaserne zurück. Wie konnte das geschehen?
Der im Buch abgebildete Auszug eines Vernehmungsprotokolls jener Haft-Woche gibt darauf zumindest die eine Antwort, dass die deutliche Nichtbereitschaft, selbst in dieser ausweglosen Situation, dem SED-Staat Rede und Antwort zu verweigern, sprich auch dann nicht Verrat zu üben, versetzte nunmehr den Staat in eine ausweglose Situation. Die Situation – kippt.
„[…] Frage: Hat ihr Cousin [Raik Adam] ausländische Stellen, Einrichtungen oder Personen im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Übersiedlungsabsichten nach der BRD eingeschaltet? Antwort: Mein Cousin hat irgendwie entweder weitläufige Verwandtschaft in der BRD und auch zwei seiner ehemaligen Schulfreunde wohnen seit etwa einem Jahr in Westberlin. Ober er aber im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Übersiedlungsabsichten nach der BRD diese Personen mit einbezogen hat, oder über diese Personen staatliche Stellen der BRD mit einbezog, entzieht sich meinen Kenntnissen. […]“
Eine weitere Antwort ergibt sich womöglich auch aus der Verunsicherung der SED-Organe, seit dem offiziellen Kurswechsel Gorbatschows. Zwar wurde als äußerstes Zeichen des Nichteinverständnisses mit einer „Perestroika“ (Umgestaltung) in der DDR das beliebte sowjetische Wissensmagazin „Sputnik“ verboten, andererseits wurde auch Heiko Bartsch nicht verhaftet. Vor Gorbatschows war das undenkbar! In der Sowjetunion war ein zweites "Tauwetter" ausgebrochen und so manches Tabus flog über Bord. Solschenizyns Meistererzählung über das stalinistische Gulagsystem, „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, wurde gedruckt. In der DDR gab für den Besitz und/oder die Vervielfältigung des Buches weiterhin einige Jahre Knast.
Das alte DDR-System verharrte in alten Zeiten und zementierte sich. An seine alten Feinde war es gewohnt. Die neuen Feinde aber meldeten erst gar keine Widerspruch an. Ihr eigener, ganz anderer Lebensentwurf war es – der Widerspruch schlechthin. Alles half nichts, keine Änderung in Sicht. Schließlich will der SED-Staat die Jungens leise loswerden. Nach Raik Adam erhielten auch die anderen Freunde die Ausreisepapiere. Sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen, war der DDR-Organe innigster Wunsch. Vielleicht. Denn die Bundesrepublik bezahlte auch für dies sogenannten legal Ausgereisten die gleiche Summe, wie für die Freigekauften aus den DDR-Knästen. Pro Kopf fast 100.000 DM. Ein "Gott-sei-Dank und-Schwamm-Drüber“ gibt in dieser Geschichte aber nicht. Für die ausgereisten Hallenser geht der Kampf gegen das DDR-System in West-Berlin erst richtig los.
Radikalisiert durch die (hier nicht weiter wiedergegebenen) Schikanen des DDR-Systems und den Schock über den Jubel in der DDR-Presse über den brutalen Massenmord auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, werden nun Aktionen gegen die Mauer durchgeführt. Durch die "Mauerkrieger", wie sich die Jugendlichen von nun an nennen, werden mittels Molotow – Cocktails Wachtürme in Brand gesteckt, Grenzzäune nach der Art von Papierschneidearbeiten "verschönert", will sage, zerstört – und kein Mensch soll und kein Mensch wird dadurch in Gefahr gebracht. Und bald darauf, am 04. November 1989, ist die Mauer auch schon Geschichte. Sicher auch Weltgeschichte.
Alle Hintergrunde und Beweggründe werden von den Herausgebern faktenreich dargestellt. Sie enthalten dem Leser nichts vor. Denn auch Ambivalenz und Teilhabe der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) an den Aktionen in West-Berlin gegen die Mauer werden gründlich erörtert. Das Buch baut sich logisch auf und liest sich wie das Skript eines rasanten Films. Wenn Mut, Engagement und hohes Handwerk Preise gewinnen könnten, dann bitte einmal alle an "Mauerkrieger". Eine herausragende Lektüre.
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Ole Gic, Frank Willmann (Hg.), Mauerkrieger, Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989, Verlag Ch. Links (VÖ: 24. Februar 2014), ISBN: 978-3-86153-788-5, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,90 Euro
Anmerkung:
*Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Gallimard 1942