Es war nämlich auch eine kleine Hommage an Frankfurt, daß Alexander Kluge hier seinen neuen und ausgesprochen reflexiven Film vorstellte. Er selber hat in dieser Stadt gelebt, hat hier jetzt den Adornopreis erhalten, sein Verlag ist – schon fast – einmal in Frankfurt zu Hause gewesen und ein wenig zur Rührung führend war das schon, was Claudia Dillmann, Hausherrin, zur Begrüßung und an Kluge gerichtet, erzählte, was aber vielleicht auch damit zu tun hat, daß auch im Filmmuseum nichts bleibt, wie es war, ja fast kein Stein auf dem anderen stehen bleibt, weil ab jetzt kernsaniert wird und das Kommunale Kino sich übergangsweise andere Spielstätten suchen muß. Es lag also an diesem Abend durchaus etwas Geschichtsträchtiges in der Luft. Natürlich stellen sich nostalgische Gefühle ein, wenn man über die alten Klugefilme spricht, von der Macht der Gefühle und der Macht und Ohnmacht der Liebe, und der Ohnmacht die gesellschaftlichen Verhältnissen wirklich zu ändern – und auf einmal wurde Alfred Edel erwähnt und man zuckt zusammen, wie lange dieser nun schon tot ist. Einer, der besonders lebendig war und auch im richtigen Leben immer etwas von einem Fellini-Schauspieler an sich hatte. Dabei drehte er besonders gerne mit Kluge.
Ja, das waren gelehrte und lehrreiche Worte, die vor dem Film zur Erläuterung gesprochen wurden. Was das ist, der Realismus im Film? Die künstlerische Methode der sinnlichen Aneignung von Wirklichkeit. Das klingt so klar, wie banal. Wenn man dann aber im Film Interviews gesehen hat mit Helge Schneider oder noch viel schärfer mit Niklas Luhman, dann sieht man einen ganz unsinnlichen Soziologen, der so messerscharf zu formulieren verstand – leider ist der 1927 Geborene schon 1998 gestorben – , daß man Mühe hat, seinen absoluten Höhenflügen zu folgen, so schnell, so eloquent, so um die Ecke und absolut ins Schwarze treffend, hat er seine Kommentare zum Verhalten von Menschen und ihren Beweggründen formuliert. Wir dachten uns, allein das gesehen zu haben, wie innerhalb des Gesamtfilms immer wieder Einschübe mit seinen Interviews uns inellektuell und auch moralisch, da es um Bewertungen geht, herausfordern, das ist eine Lust, wobei wir wieder bei der Sinnlichkeit sind. Und das ist eben der Filmemacher Kluge, der Sentiment mit Rationalität paart. Und erzählt. Er erzählt mit verschiedenen, ganz unterschiedlich langen Kurzfilmen eine einzige Geschichte, die zusätzlich durch seine sanfte und beharrliche Erzählstimme eine Einheit erfährt, die einem suggeriert, daß dieser Film ein Ziel habe, wie das Leben auch eines haben soll.
Um was es überhaupt geht bei „Nachrichten vom Tausendfüßler“? Um alles oder nichts und vor allem um die Liebe, die er in schillernden Facetten und nadelgestreift so zeigt, wie sie ist, nicht faßbar. Im Buch spricht er offen von 166 Liebesgeschichten, aber was sind Zahlen, wenn es um Gefühlsqualitäten geht. Sagen wir es einfach so: Alexander Kluge hat aus seinen Kurz- und Minutenfilmen eine Auswahl getroffen, die mal inhaltlich unverbunden und dann doch wieder im Kontext von Liebe uns alles vor Augen führt, was Film bieten kann: Dokumentation, Schauspielerei, Schrift, Musik und Bilder , Tanz, Tiere, Menschen und das alles vermengt zum Melodram. Er habe ausdrücken wollen, sagt Kluge: „Alles, was Menschen, Gedanken und Bewegtbilder vermögen.“ Mit der Affenliebe geht es los, und ist dann mittendrinnen in „Der Liebesbeweis mit Niklas Luhmann“, der scharf analysiert, was man in den Augen des anderen ist, zu sein glaubt, aber zur Überzeugung kommt, daß man nicht wirklich wissen wolle, was der andere über einen denkt. Denn das hätte Konsequenzen. Er schlägt vor, doch lieber unschärfer in den Beziehungsverständigungsritualen zu sein, statt sich dauernd zu beobachten und zu beobachten, wie der andere uns beobachtet und was der andere erwartet zur – angeblich erwartet – zur Richtschnur unseres Handelns zu machen.
Auf der DVD sind es insgesamt 21 Kurzfilme und der zweite davon ist ein Ausschnitt von 1916, als die Frauen noch die schwarzumrandeten Augen und einen tragischen Blick hatten, egal was sie taten oder was passierte, eher als Grundausstattung der neuen Gattung Stummfilm, wie diese Frau in „Intolerance. Vom Kampf der Liebe durch die Jahrtausende“ von D.W.Griffith. Kennt heute noch jemand außer uns diesen legendären Filmmann, der das Kino zum Erzählen brachte, der die Menschen wie aufgezogene Puppen durchs Bild jagte, der über 450 Filme drehte, von denen die allermeisten noch erhalten sind, wie dieser. Allerdings hat Alexander Kluge von den 197 Minuten Länge des Stummfilms nur kurz die schöne Lillian Gish von dem Babylonier verehren lassen. Uns ist es so gegangen, wäre im Nachbarkino der gesamte Film gelaufen, wir wären rübergegangen, denn was diese Ausschnitte beim Zuschauer auch bewirken, ist eine ungeheure Sehnsucht nach Kino, einfach eine Sehnsucht, es möge eine Emotion weitergehen, die nun in den Episodenfilmen aus Prinzip abgeschnitten wird.
Aber haben wir das gerade mitvollzogen, sind wir flugs im neuen Thema drinnen, vertiefen uns , ja, wir haben es einfach mit dem sagenhaften Redner Luhmann, schon müssen wir erneut Abschied nehmen, empfinden das als Verlust, daß das nicht weitergeht, da oben auf der Leinwand, sondern der nächste Hammer kommt. Denn diese Kleinigkeiten, die so harmlos und locker uns vor Augen kommen, kriegen auf einmal Pferdefüße und schlagen aus, ja stinken sogar. Hin und hergeschüttelt werden wir. Und dann die Wortspiele, die Suche nach Reimworten zu ’Liebe` bis ’Getriebe` und die Musik nicht zu vergessen, die mal Rossini ist mal modern klimpert oder rabaukt.
Das Buch dagegen ist viel umständlicher – immerhin braucht Kapitel I „Im Dickicht der Umständlichkeit " bis Seite 114, um zu beantworten, ob das Labyrinth eine geeignete Metapher für die Liebe sei. Da aber passiert es uns, daß wir auf einmal beim Lesen einen Haken spüren, zurückblättern, die Irritation erst nicht finden, dann auffinden und klären können und glücklich sind, weil wissend geworden, daß wir denken, oje, dies Glücksgefühl der eigenen Erkenntnis hätte uns kein Film vermittelt. Ja, ist das so? Oder ist der individuelle Akt des Lesen nicht vergleichbar mit Filmeanschauen, weil man dort nicht zurückschauen kann, wie man im Buch zurückblättert. Und wenn man das Filmwerk im eigenen DVD-Gerät stecken hat und zurückspulen kann? Nein, es ist einfach etwas anderes, wenn die Technik dazwischen steht, denn nichts geht über diese Schnelligkeit des Zurückblätterns, an dem sich sicher auch noch alle Kindlebesitzer die Zähne ausbeißen werden, weil man nicht hinkriegt, wie es eidetische Vertreter im Nu können, die Seite wiederzufinden, wo der eine Ausdruck oder das andere Wort standen.
Nein, um Konkurrenz von Buch und Film geht es nicht, schon gar nicht um eine innerhalb der Gattungen des Kluge-Kosmos, aber es geht beim Umgang mit dem Buch vom „Labyrinth der zärtlichen Kraft“ und dem Film mit den „Nachrichten vom Tausendfüßler“ sehr viel um uns und unsere Erfahrungen. Und so haben wir festgestellt, daß wir zweimal den Film ganz durchgeschaut haben, etwa fünfmal, um etwas wiederzusehen, in Ausschnitten aber, und daß wir mit 597 Seiten des Buches „Das Labyrinth der zärtlichen Kraft“ immer noch nicht fertig sind, weil es zu diesen Büchern gehört, die durch das Ausbreiten von Reflexionen die eigene Assoziationen so in Gang setzen, daß man nebenbei durch eigene Aufzeichnungen gleich einen Begleitband verfaßt hat, mindestens einen.
In diesem Sinne wünschen wir für das Buch und den Film viel Ausdauer und viel Vergnügen. Alles zu seiner Zeit.
Alexander Kluge, Das Labyrinth der zärtlichen Kraft, Suhrkamp Verlag 2009 und gleichnamiger Film, vorgeführt am 10. September im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main und dem Buch als DVD beigefügt.