Kelkheim/Taunus, Deutschland (Weltexpress). Dr. Kirsten Tönnies ist praktizierende Tierärztin in Kelkheim/Taunus und war beim Bundeschampionat im September 2015 in Warendorf Mitglied der Jury, die vor Ort die Tierschutzpreise des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) vergeben hat. Sie war als Aufsicht am Abreiteplatz „Reitpferde-/Ponys“ eingeteilt. Welche Eindrücke sie dort gewonnen hat, fasste sie am Tag danach zusammen in einem Offenen Brief an die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) als Veranstalter.
Bernd Paschel: Liebe Frau Dr. Tönnies, mit dem „Offenen Brief“ an die Reiterliche Vereinigung FN haben Sie anscheinend ins Nervenzentrum der FN getroffen. Mich interessiert jedoch weniger die FN als das, was Sie motiviert hat und was die Reaktion der FN bei Ihnen auslöst.
Trotzdem müssen wir dem Leser ein paar kurze Informationen zum Vorgang geben. Bei ausführlichem Interesse verweisen wir auf Links zu bestimmten Schriftstücken.
Was war Ihre Motivation bei diesem Brief?
Kirsten Tönnies: Lieber Herr Paschel, zunächst muss ich betonen, wie sehr mich Ihr Interesse freut und dass ich gerne alle Fragen beantworte. Meine Motivation 2015 resultierte daraus, dass ich seit Jahrzehnten die gleichen Probleme beim Abreiten beobachte. Die werden zwar immer mal wieder in der Pferdewelt kurz thematisiert; dazu zählen v. a. D. der Umgang mit den Pferden, die Art des Reitens und die Ausrüstung wie z. B. der Einsatz von Hilfszügeln. Aber trotz aller immer wieder aufkeimenden Kritiken ändert sich nach meinem Dafürhalten zu wenig im Sinne der Pferde, dabei wäre es hier eine Leichtigkeit.
Wir dürfen ja nicht vergessen, dass Reiten meist Hobby ist und Wettkämpfe zuerst einmal der eigenen Profilierung dienen. Nur, wenn man als einfacher Mensch auf den „nackten Kaiser“ in seinen angeblich „neuen Kleidern“ weisen möchte, macht es die Sache für Kritiker so schwierig, weil sich da herum ein Milliardenunternehmen etabliert hat, mit dem einem sofort hochprofessionell entgegengetreten wird. Ich kann aber unter dem Hobby- und Wettkampfaspekt schädigendes Verhalten gegenüber Tieren weniger tolerieren, als z. B. bei der Produktion von Lebensmitteln.
Aber um jetzt mal ganz konkret zu werden: Ich habe als sozusagen Beauftragte des Bundeslandwirtschaftsministeriums zunächst einfach nur versucht, die Aufgabe, die an alle ca. 18 Jurymitglieder gestellt worden war, ordentlich zu erfüllen. Wir hatten eine Einweisung und schriftliche Vorgaben, die besagten, worauf wir alles achten und bei welchen Kontrollen wir auch anwesend sein sollten.
Ich hatte dann von Tag zu Tag immer mehr das Gefühl, dass wir eher als Deckmäntelchen im Sinne des Veranstalters fungieren sollten, als dass tatsächlich eine ehrliche Beurteilung der Reiter von uns erwartet wurde. Als ich z. B. den Vorgaben gemäß bei der Materialkontrolle dabei sein wollte, erklärte man mir, dass das nicht vorgesehen sei. Medikamentenkontrollen habe ich nie gesehen. Wenn ich Einwendungen hatte, wie z. B. zur Technik, die Weite des Nasenriemens nicht fälschlich seitlich im Weichteilgewebe, sondern richtiger Weise auf dem knöchernen Nasenrücken zu prüfen, führte das zu Abwehr und Aggression mir gegenüber, anstatt zum Austausch von Argumenten. Wir hatten alle einen Richter zur Seite gestellt bekommen, der uns bestimmte Leute „nahe bringen“ sollte. Dazu hob er bestimmte Reiterinnen oder Reiter hervor, die aber gar nicht besonders schonend mit ihren Tieren umgingen. Ein Beispiel auf dem Foto (siehe unten): Dieser Kandidat wurde gegen meinen Widerstand vom Platzrichter „durchgedrückt“. Den dagegen von mir favorisierten Reiter beurteilte er als „zu brav“. Damit meinte er, dass das Pferd nicht genug „rangenommen“ wurde. Dass das aber bei sonst gleichem Verhalten ja gerade die tiergerechtere Vorgehensweise ist, wollte er nicht diskutieren. Damit missachtete er aber genau die Aspekte, die bei der Auswahl der Kandidaten für den Tierschutzpreis wichtig gewesen wären. Er erklärte, dass der Gewinner eines Tierschutzpreises möglichst unter den vorderen Platzierten zu finden sein sollte, damit es die richtige Wirkung hätte. Damit vermischte er aber zwei Aspekte, die gerade nicht vermischt werden durften, wollte man die Preisauszeichnung ernst nehmen. Aus meiner Sicht war das sogar eine Täuschung der Zuschauer, die ja ihrem eigenen Eindruck misstrauen, wenn eine Jury Entscheidungen gefällt hat, die sie selbst gar nicht nachempfinden können. Als Folge wird grobes Verhalten gegenüber den Pferden als gut beurteilt und zu Hause auch noch in bester Absicht nachgemacht. Der Geschäftsführer des Vereines Xenophon e.V., der sich für den Erhalt und die Förderung der klassischen Reitkultur einsetzt, war übrigens mit mir zusammen an beiden Vormittagen eingeteilt. Er konstatierte wiederholt unter uns, dass ich Recht hätte. So wurde z. B. stressbedingtes Kauen und Lippenspielen von den Anwesenden zuerst falsch als „abkauen“ beurteilt. Ein anderer Reiter putschte sein Pferd durch ständiges Rannehmen mit harter Hand und Sporeneinsatz immer wieder auf, bis es kurz davor war, in die Luft zu gehen, dann klopfte er es am Hals.
Bernd Paschel: Und was soll das bewirken?
Kirsten Tönnies: Mal abgesehen davon, dass das Klopfen hier wohl eher für die Zuschauer gedacht war und dem Pferd im jungen Alter wenig hilft, weil es nicht als Belohnung verstanden wird, will der Reiter im Ergebnis das Pferd durch solch ein Vorgehen ausdrucksstark und in Folge dessen mit kadenziertem Gang präsentieren. Das gibt dann höhere Wertnoten. Das junge Tier war am Ende aber so verunsichert, dass es sich nicht mehr in den Ring traute. Wir standen dabei und diskutierten natürlich das Verhalten des Paares. Immer wieder gab es solche oder ähnliche, aus verhaltensorientierter Sicht hoch problematische Szenen, zu sehen.
Darüber kamen wir immer wieder ins Diskutieren. Dabei äußerte der Richter z. B. die Meinung, dass junge Pferde beschlagen werden müssten, weil sie sich nach dem Aufstallen sonst die Hufe an den Boxenwänden abschlagen würden. Ich wollte solche tierschutzwidrigen Äußerungen nicht unkommentiert stehen lassen. Später wunderte sich der Geschäftsführer von Xenophon e.V. über meinen offenen Brief, weil ich doch immer ruhig geblieben sei und er die Diskrepanzen gar nicht so ernst aufgefasst hätte.
Bernd Paschel: Was war denn der konkrete Auslöser?
Kirsten Tönnies: Am Nachmittag fiel mir am Abreiteplatz für das Springen das Pferd mit einem metallenen Zungenstrecker tatsächlich durch seinen leidenden Gesichtsausdruck auf. Weil ein Präsent für den Sieger fehlte, hatte man diese Prüfung aus der Tierschutzwertung herausgestrichen. Die eigentlich dafür eingeteilten KollegInnen fand ich später im VIP Zelt. Ich besprach dort dann den Zungenstrecker. Niemand kannte dieses Modell und man zeigte sich nach meinen Erklärungen empört. Am Abend waren wir mit ca. 15 Leuten von der FN zum Essen geladen. Auch in dieser hochkarätigen Runde aus Tierärzten, Richtern und der Vertreterin des Bundeslandwirtschaftsministeriums hatte bis dato niemand jemals einen solchen Zungenstrecker gesehen. Nicht einmal auf dem Wochen später stattgefundenen Nachtreffen mit der FN, u. a. mit dem Generalsekretär Sönke Lauterbach, Christoph Hess und Herrn Thies Kaspareit kannte einer der Anwesenden diese Art eines Zungenstreckers in Anwendung, wie sie auf Nachfrage gestehen mussten. Trotzdem nahmen die Verantwortlichen die Reiterin in Schutz.
Ich fand es absurd, dass mir die beiden Platz-Verantwortlichen nach der Entdeckung am Abreiteplatz immer noch erklären wollten, warum die Reiterin trotzdem für den Tierschutzpreis in Frage käme.
Am Sonntag hatte ich das Abreiten einer der späteren Preisträgerinnen, die auch in einem von der FN gedrehten Werbefilme zu Wort kommt, beobachtet. Obwohl sie mit Abstand die Beste war, wurde vom Richter versucht, jemand anderes zu nominieren. Über die Formulierungen der Laudatio kamen wir wieder so ins Diskutieren, dass er damit drohte, mich vom Gelände entfernen zu lassen und bereits ankündigte, dass derjenige, der mich geholt hätte, Konsequenzen zu spüren bekommen würde. Auch nach dieser wiederholten Eskalation konnte ich eine Beruhigung der Situation herbeiführen. In der Mittagspause entschloss ich mich dann, höher geordnete Stellen aufzusuchen. Im Büro der Turnierleitung fragte ich zweimal nach einem Verantwortlichen, z. B. Herrn Lauterbach und Herrn Kaspareit, mit denen ich sprechen wollte. Beim zweiten Mal wurde ich dann an einen jungen Mann verwiesen. Dem schilderte ich insbesondere das Problem mit dem Zungenstrecker. Er schaute mir bei dem Gespräch nicht einmal ins Gesicht und reagierte so gelangweilt bzw. leicht genervt, dass ich nach kurzer Zeit meinen Versuch ergebnislos beendete.
Am Nachmittag warteten wir erneut auf die Siegerehrungen, als ich zufällig hörte, wie die Richter vor mir sich über den Tierschutzpreis abwertend als „Kuschelpreis“ lustig machten. Nach meinen Erfahrungen in diesen 2,5 Tagen konnte ich außer dem Tierarzt der FN, dessen kurze Kommentierungen am Abreiteplatz ich mitbekommen und als sehr treffend empfunden hatte, niemanden finden, der auch nur im Ansatz bereit war, sich mit den fachlichen Problemen aus Sicht der Pferde zu befassen.
Auf der Heimfahrt hatte ich im Stau vier Stunden Zeit zum Nachdenken. So sehr ich grübelte, entdeckte ich keine Möglichkeit, wie ich innerhalb des Systems sinnvoll etwas bewirken könne. Mir ist aus politischer Arbeit in der Tierärzteschaft die mangelnde Effizienz von Logik gegenüber ökonomischen Interessen sehr gut bekannt. Deshalb kam mir immer mehr die Erkenntnis, dass ich hier innerhalb des Systems nur etwas ändern kann, wenn es Druck von außen gibt. So kam ich auf die Idee mit dem offenen Brief. Währenddessen entwickelte ich ein Messgerät, um die Weite des Nasenriemens kontrollieren zu können, das ich spaßeshalber double F-Saver oder auch F&F-Saver nannte. Dabei standen die beiden F für englisch Finger des Kontrolleurs und Face, also das Gesicht des Pferdes, die beide durch die Anwendung geschützt werden sollten.
Am nächsten Morgen schrieb ich dann den Offenen Brief, weil ich keine andere Möglichkeit entdecken konnte, irgendwie Gehör zu finden und ich zufällig auch noch die Zeit dazu hatte.
Bernd Paschel: Es kam ein langes „Antwortschreiben“ von FN-Generalsekretär Soenke Lauterbach.
Wenn ich mal hinter das Geschriebene sehe, haben Sie die FN-Oberen schwer ins Straucheln gebracht. Wie ich viele meiner männlichen Artgenossen kenne, haben nicht wenige große Probleme, wenn eine blonde attraktive Frau – wenn ich mir diese Beschreibung erlauben darf – fachlich kompetent und sachlich, wie auch konsequent, einem Machtkampf mit Männern nicht ausweicht, gerade Männern gegenüber, die lieber vertikal kommunizieren.
Wären Ihre Aussagen unwahr und vorsätzlich diffamierend gewesen, hätte die FN gegen Sie wegen Rufschädigung gerichtlich vorgehen müssen. Ist diesbezüglich etwas erfolgt?
Kirsten Tönnies: (lacht) Eine sehr berechtigte Frage: mehrfach wurde mir von verschiedenen Seiten geraten, dass ich mir unbedingt einen guten Anwalt nehmen müsse. Diese Menschen waren wirklich besorgt. Tatsächlich kam aber GAR NICHTS! Mit dem Schreiben von Herrn Lauterbach wurde auch klar, dass ich nur die Wahrheit geschrieben hatte. Es ist schon verrückt, denn ich schrieb ja nichts Neues. Es ging auch gar nicht darum, dass das, was ich geschrieben habe, nicht wahr ist. Es ging darum, dass ich es öffentlich gesagt hatte! Zuerst wurde mir noch vorgehalten, dass ich keine Beweisfotos hätte. Dabei hatte ich das Ganze ja nicht absehen können und deshalb auch gar keine Fotos gemacht. Bezüglich der zugeschnürten Mäuler musste ich mir aber keine Sorgen machen, denn nach kurzer Zeit gab es von Besuchern „Beweismaterial“ im Internet. Die Aufregung kochte wohl eher deshalb ein bisschen hoch, weil ich ja nur beschrieb, was im Prinzip schon Unzählige andere zuvor beschrieben hatten. Neu war eigentlich nur, dass das jemand aus den eigenen Reihen formuliert, immerhin stand ich vor Ort auch für das Bundeslandwirtschaftsministerium. Und jetzt kommen wir zu einem zentralen Problem von allgemeiner Gültigkeit.
Bernd Paschel: Nämlich?
Kirsten Tönnies: Sie kommen in solche Positionen meist nur, wenn sie systemtreu sind und auf keinen Fall aufsteigend, also Vorgesetzte kritisieren. Das gilt natürlich nicht nur hier, das gilt generell. Erst Recht unter Tierärzten: Ein Zitat eines Bundestagsabgeordneten gefällig? „Die Armee ist ein konservativer Haufen – nur die Tierärzte sind noch konservativer“. Menschen, die Karriere machen (wollen), dürfen nicht zu viel kritisieren, zumindest nicht die Führungsebene. Wie es trotzdem ab und zu kritisch denkende und sich äußernde Menschen in hohe Positionen schaffen, ist mir deshalb auch nicht ganz klar.
Bernd Paschel: Sie haben in „Welt24.de“ und „Wir sind Tierarzt.de“ Unterstützung bekommen. Das war doch sehr erfreulich?
Kirsten Tönnies: Was ich mitbekommen habe, hat mich natürlich sehr erleichtert und erfreut, in mehrfacher Hinsicht. Es kamen tatsächlich so viele Nachfragen, dass ich nach 1 Woche erst einmal ein paar Tage die Praxis geschlossen habe. Da ich nicht in allgemeinen sozialen Netzwerken unterwegs bin, nicht aus Überzeugung, sondern schlicht aus Zeitmangel, habe ich nur die Anrufe und Briefe mitbekommen. Dass darunter auch eine ganze Reihe positiver Zuschriften von Tierärztinnen und Tierärzten waren, die z. T. sogar in etablierten Positionen sind, hat mich freudig überrascht und mir Hoffnung gemacht. Man kann die Aufmerksamkeit nutzten und versuchen, richtig etwas zu bewegen.
Bernd Paschel: Ein typisches Argument unter der Gürtellinie war, dass Sie mit einem Offenen Brief PR für sich machen wollten.
Kirsten Tönnies: Im ersten Moment hat mich das tatsächlich getroffen. Mir wurde dann aber von „erfahrener Seite“ versichert, dass das ein typischer Standardversuch ist, wenn es der Gegenseite an Argumenten fehle und man „politische Ziele“ verfolge. Das passte hier auch, weil es tatsächlich von einem Kollegen kam, der ursprünglich am Abreiteplatz Springen eingeteilt aber nicht vor Ort gewesen war. Wir sind im selben Verband, der TVT „(Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz e. V.)“ und in dem kriselt es derzeitig gewaltig.
„Sie kennen sich im Reiten nicht aus“, kam übrigens auch als Argument.
Bernd Paschel: Das können wir leicht entkräften mit Ihren trefflichen Pferdebildern.
Ist Ihre Kleintierpraxis jetzt voller?
Kirsten Tönnies: Wegen dieser Sache? Nein – auch wenn ich ein paarmal darauf angesprochen wurde. Da ich eigentlich tagtäglich die Nutztierhaltung in meiner Praxis zum Thema mache, hat diese Einlage die Alteingesessenen eher überrascht. Da sind kleine Artikel in der Lokalpresse zu passenden Themen schon eher im Sinne von Schleichwerbung wirksam, worauf Sie ja anspielen. Sie können dann von ca. fünf Patienten mehr in der Folgewoche ausgehen. Da ich aber sowieso gerne eher weniger machen würde, wäre das in meinem Sinne sogar kontraproduktiv. Vielleicht erhöht es aber die Glaubwürdigkeit, denn zunächst bringt es nur viel Zeitaufwand und kein Geld, das ist den meisten wohl klar. Das wäre dann ein ideeller Gewinn. Gibt es dazu evidenzbasierte Untersuchungen in der Psychologie? Aber zurück zum Thema. (lacht)
Bernd Paschel: Es ging unter anderem auch um den zu stramm verspannten Nasenriemen, der laut Regel 2 Finger breit Luft haben muss. Zwei Finger sind eine vage Distanz. Wie dick oder dünn sollen die Finger sein?
Kirsten Tönnies: Lieber Herr Paschel, danke für mein Lieblingsthema! Die Weite des Nasenriemens. Ich hatte mich damals über die Zurückhaltung des Vereins Xenophon etwas gewundert, nachdem ich mit dem Geschäftsführer zwei Tage lang voll auf einer Linie war und er mehrfach meinte, ich müsse unbedingt mehr machen, weil ich ein so gutes Auge hätte. Später kristallisierte sich heraus, dass sich am Nasenriemen die sonst durchaus pferdefreundlichen Gemüter spalten. Zuletzt hatten wir zur 10-jährigen Veranstaltung von Xenophon auf der Anlage von Klaus Balkenhol das Thema während der Vorführungen – Ergebnis war: Auf gar keinen Fall will man jemanden, der DAS kontrolliert! Es wird dazu gerne auf das schwedische Reithalfter verwiesen, das man wegen seiner Flaschenzugtechnik noch leichter zu fest zuziehen kann. Letztlich kann man aber jeden Nasenriemen genauso straff anziehen. Das lenkt von den Realitäten ab. Über diese Diskussion lesen Sie später natürlich nichts in der Pferdepresse! Im April war ich auf einem Seminar von Xenophon e. V. in Hessen. Der Nasenriemen des S-Dressurpferdes sei nicht zu beanstanden, lautete die Beurteilung des wirklich hochklassigen Lehrers, auf der Suche, warum das Pferd das „Gebiss nicht wirklich annahm“, wie es die Reiter formulieren. Meine Prüfung ergab, dass kaum ein Blatt unter den Nasenriemen passte.
Immer wieder kommen die gleichen Ausreden. Leider gilt oft: „Zuschnüren, so fest man kann“ (Zitat Springreiter, Ausbildung Reitabzeichen). Mir ist das Thema deshalb so wichtig, weil die Folgen für die Tiere anhaltend und unausweichlich sind, ganz egal, wie sehr sich die Pferde auch anstrengen und wie vorbildlich sie sich auch verhalten. Im Gegensatz zu Sporen oder Gebiss kann ein Pferd dem Schmerz des Nasenriemens, der die Gefäße staut, die Nervenleitung ertauben lässt und im Genick zieht, nicht entkommen. Deshalb halte ich es für eines der wichtigsten Themen in dem Bereich überhaupt. Das Verrückte, die FN hat in Folge der Geschichten aus dem Sommer eine Umfrage durchgeführt, auf die über 20 000 Rückmeldungen kamen, 99,9 % kannten die 2 Fingerregel! Um aber von ihrem klugen Inhalt abzulenken, wird von Diskutanten gerne auf die unpräzise Lage- und Dickebeschreibung der zwei Finger gezielt. Das sind aber Detailfragen, die am Ende stehen.
Bernd Paschel: Das ist ja erschreckend, wie dort mit konstruktiven Beiträgen umgegangen wird. Für mich sind mittlerweile Wettkampf, Konkurrenzkampf und Profitdenken sprichwörtlich „auf dem Rücken der Pferde“ die Wurzeln allen Übels.
Brauchen wir das als zivilisierte Menschen noch?
Kirsten Tönnies: Ich liebe Pferde und finde den gesamten Umgang mit ihnen extrem gewinnbringend, den Pferderücken als einen der besten Orte der Welt. Ich finde, dass Reiten eine der schönsten Arten ist, sich zu bewegen, vielleicht vergleichbar mit Surfen oder Skifahren. Pferde können für mich wie lebende Kunst sein, ähnlich wie Musik. Ich habe auch nichts gegen den sportlichen Vergleich, im Gegenteil. Profitdenken, solange es anderen nicht schadet, ist mir auch Recht. Aber die immer noch zu sehenden Auswüchse auf öffentlichen Veranstaltungen, die das Befinden der Pferde schlicht ignorieren, kann ich in unserer modernen Zeit nicht mehr widerspruchslos tolerieren. Das geheime Abreiten ohne Publikum ist die Krönung pädagogischen Versagens. Theoretisch haben wir sogar ganz gute, schriftliche Vorgaben. Leider haben wir zu viele Leute in verantwortlichen Positionen, die aus strategischen Gründen verkünden, was die Leute hören wollen, sich dann aber nicht um die Einhaltung ihrer eigenen Vorgaben kümmern. Pferde können ja bei tiergerechtem Umgang auch Freude an viel Bewegung, sogar an komischer Bewegung empfinden. Mein Shetty legt sich z. B. beim Spaziergang durchaus einmal hin und geht dann ins Sitz, weil er beschäftigt werden will.
Das WIE ist entscheidend und unter den Voraussetzungen Konkurrenzkampf und Profitdenken eben oft nicht akzeptabel. In dem Zusammenhang möchte ich noch vor der Illusion warnen, dass die Tiere unter Angst keine Höchstleistung bringen. Sie tun es, genauso wie Menschen.
Bernd Paschel: Was bleibt nach 1 ½ Jahren in Ihrem Inneren gefühlsmäßig zurück?
Kirsten Tönnies: Bei der Frage muss ich aufpassen, dass ich das nicht mit meinem erschreckten Erstaunen über die Berufspolitik der Tierärzte vermische. Ich sehe Menschen in Machtpositionen, die ihre persönlichen Interessen rücksichtslos verfolgen und damit durchkommen. Aussitzen ist dabei ein wichtiges Stilmittel, kalt stellen ein weiteres.
Bernd Paschel: Ist es Zufall, dass die FN nach der Veranstaltung ihren Tierarzt nach über 20 Dienstjahren entlassen hat?
Kirsten Tönnies: Nein, das ist kein Zufall, sondern u.a. eine Folge der Ereignisse. Wie es der Richter in den Diskussionen angekündigt hat.
Bernd Paschel: Ist es Zufall, dass einer der wenigen fortschrittlichen Funktionsträger der FN Christoph Hess mittlerweile ausgeschieden ist?
Kirsten Tönnies: Das weiß ich leider nicht. In dem Nachgespräch meinte er “ Schade, dass Sie nicht in meiner Truppe waren, wir hätten uns bestimmt gut verstanden“ und hat mein Nasenriemenmessegerät mitgenommen. Die Vertreterin des BMEL, Frau Dr. Karin Schwabenbauer ist übrigens auch Tierärztin.
Bernd Paschel: Ist der Tierschutz überhaupt beim BMEL am richtigen Platz oder geht es in Wahrheit nur um eine Marketingstrategie zur Verbesserung des öffentlichen Ansehens?
Kirsten Tönnies: Die gesamte Tiermedizin wäre besser woanders aufgehoben, dann hätten wir nicht unzählige, ungelöste Dilemmata. Viele glauben, dass das BMEL etwas mit Tierschutz im Sinn hätte. Wenn 110 kg Schwein auf 0,75 m² gehalten werden dürfen, ist das Wort Tierschutz aber wohl völlig fehl am Platze. Echtes Wohlbefinden der Tiere steht im BMEL ganz weit hinten, der Begriff Wohlbefinden wurde inflationär und tatsächlich als Marketinginstrument missbraucht. In diesem Zusammenhang sind übrigens der Deutsche Tierschutzbund und Pro Vieh aus der „Inititative Tierwohl“ ausgestiegen. Und in Warendorf ging es nach meinen Erfahrungen eben auch vorwiegend um das Ansehen der Veranstaltung, weniger um den pferdegerechten Umgang. Zur Frage nach meinem Resümee: Ich bin den Menschen und besonders auch Fachleuten sehr dankbar, dass sie sich so zahlreich eingemischt haben. Wenn die Veränderungen auch nicht sofort passieren, so bestimmt auf lange Sicht! Erkenntnisse lassen sich auf Dauer nur schwer ignorieren, darauf hoffe ich.
Bernd Paschel: „Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen“ (Konfuzius). In diesem Sinne vielen Dank für Ihren Mut zum offenen Dialog und eine Karotte für Herbert, der mir besonders gefallen hat.
Kirsten Tönnies:Vielen Dank zurück und sicher auch von Herbert.