Der Nocebo-Effekt – Das Gegenteil vom Placebo-Effekt, das wenig bekannte Phänomen

Fallbeispiel (entnommen KV H-aktuell, Nummer 3/2013): Ein 26 jähriger Proband einer Antidepressivastudie hatte zuhause ein Behältnis mit der täglich einzunehmenden Studienmedikation. Weil seine Freundin ihn verlassen hatte, wollte er sich umbringen und schluckte die verbleibenden 29 Tabletten auf einmal. Darauf hin bekam er Todesangst, der Blutdruck sagte ab und konnte auch zunächst nicht in der Klinik stabilisiert werden. Was er nicht wusste: die eingenommenen Tabletten waren wirkstoffsfrei. Als sich dies im Krankenhaus herausstellte, hatte er innerhalb kürzester Zeit keine Beschwerden mehr und war – zumindest körperlich – kerngesund – ein klassischer Nocebo-Effekt.

Dieses Beispiel zeigt, dass alleine die Wirkung der Annahme bzw. die Erwartungen, die tödliche Dosis eingenommen zu haben, lebensbedrohliche Komplikationen hervor rufen können und den Blutdruck absinken lassen, und die Annahme, dass die Medikamente wirkstoffsfrei sind, ihn sich stabilisieren lassen. Die Annahme, die Erwartung, die Vorstellung, der Glaube oder die Fantasie entfalten diese Wirkung.

Wenn nun Patienten die Beipackzettel von Medikamenten lesen, wobei eine ellenlange Nebenwirkungspalette aufgeführt ist, und sie an diese Nebenwirkungen glauben, dann treten alleine schon durch das Lesen die Nebenwirkungen auf – ein Schreckgespenst. Die Folge ist, dass laut Studien 50 % der Patienten die Medikamente gar nicht einnehmen und wegwerfen. Diese Medikamente sind ihnen viel zu gefährlich. Da kann der Arzt und mit ihm im Verbund die Pharmaindustrie noch so viel reden. Es ist eine Folge der Rechtsprechung, daß auf mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werden muss. Das sehen aber viele Patienten nicht. Sie meinen die Nebenwirkung treten tatsächlich auf.

Angenommen, wenn nur die Medikamente verkauft werden, die tatsächlich genommen werden, also etwa die Hälfte, würde die pharmazeutische Industrie, ein immens wichtiger Wirtschaftszweig innerhalb des Gesundheitswesens, zusammenbrechen. Also müssen sich die Patienten zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft und ihrer Gesundheit – zumindest vermeintlich – den ungeheuren Luxus leisten, ihre Pillen einfach wegzuwerfen. Manchmal werden unterschiedslos sogar lebensnotwendige Medikamente fort geworfen, und dann schadet man sich selbst. Solch paradoxe Wirkungen und Nebenwirkungen zeigen sich im Gesundheitswesen.

Laut obigem Artikel spielt die Wahl der Worte eine immense Rolle bei der Auslösung des Nocebo-Effektes. Es wird empfohlen, der Arzt solle Ausdrücke vermeiden wie "Sie brauchen keine Angst zu haben" oder "ich hole noch schnell etwas aus dem Giftschrank" oder "10 % der Patienten haben die Nebenwirkung", stattdessen sollte er sagen "die meisten Patienten vertragen das Mittel gut". Über mögliche Nebenwirkungen sollte der Arzt erst gar nicht sprechen. Es ist sozusagen ein erlaubtes Verschweigen. Das macht aber manchen Patienten besonders Angst, weil sie nicht wissen, wo sie dran sind und das Unbekannte ihnen besonders Angst macht. Ein pessimistisch dreinblickeder Arzt wird weniger Erfolg haben als einer mit einer positiv, optimistischen Ausstrahlung. Auch das Internet ist oft ein angstmachender Raum.

Die Angst spielt bei vielen Krankheiten und deren Behandlungen eine tragende Rolle, erstreckt sich auch auf die Medikamentennebenwirkung und lässt die Bedrohungen überdimensional erscheinen (Katastrophisierung). Ich hatte schon in früheren Artikeln darauf hingewiesen, dass derjenige Arzt der beste ist, der bei einem diffusen, völlig unerklärbaren Krankheitsbild eine klare, eindeutige, unanfechtbare Diagnose trifft und eine erfolgsversprechenden Behandlungsplan aufstellt. Nämlich dann ist der Patient beruhigt, die Verspannungen sind gelöst und der (Selbst) Heilungprozeß kann sich entfalten. Magie und Suggestion spielen eine tragende Rolle. Nur wird der nächste Patient diesen Arzt als Scharlatan ansehen. Für ihn ist ein guter Arzt derjenige, der ihm offen reinen Wein einschenkt, auch seine Behandlungsgrenzen zugibt. Aber das kann der Arzt nicht wissen, wenn er seinen Patienten nicht kennt und in der 5 min-Therapie einer übervollen Sprechstunde ist das kaum möglich.

Neben der Angst spielen unterdrückte Aggressionen bei sämtlichen Krankheitsgeschehen eine Rolle, unterdrückt deswegen, um die äußere Harmonie zum Umfeld zu gewährleisten, weil es ja sonst Streit gäbe. Auch spielen Angst vor der Blamage eine Rolle. Das äußere Bild der Souveranität muß aufrecht erhalten bleiben, und Aggressionen werden als Demütigung erlebt. Es gilt der Satz, wer zuerst aggressiv wird, hat verloren. Um der äußeren Harmonie willen nimmt der Patient eine innere Disharmonie in Kauf, eine innere Zerreißprobe zwischen sich und dem Umfeld – und das macht krank. In der naturwissenschaftlichen Schulmedizin spielen solche Faktoren allerdings keine Rolle. Man ist froh, einen aggressionsfreien Patienten zu haben. Bleiben diese Aggressionen bei den Behandlungen weiterhin unterdrückt, erhält der Patient in der Behandlung keinen Aggressions- und Angstspielraum, hat die naturwissenschaftliche Schulmedizin per se einen Nocebo-Effekt.

Aber nicht nur bei Medikamenten spielt der Nocebo-Effekt eine Rolle, sondern bei allen medizinischen Behandlungen, auch Operationen. Wenn das Vertrauen fehlt, der Patient von der Gefährlichkeit einer Operation überzeugt, kann eine Operation nicht so gelingen, und es treten zu jedem postoperativen Zeitpunkt Komplikationen auf. Das Wissen von Komplikationen und das Wissen um Arztpfuschereien und gefährlichen Nebenwirkungen, wie ja immer wieder berichtet wird, wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Deswegen gilt es für Ärzte und Industrie immer wieder Vertrauen aufzubauen, von der Industrie in einer gigantischen Werbung. Nur wer zuviel für sich und seine Medikamente wirbt, macht allein durch die Werbung sich selbst unglaubwürdig.

Es müsste mehr auf die Persönlichkeit des Patienten eingegangen, psychosozialen Faktoren berücksichtigt werden. Aber leider besteht der Trend zur biologischen, naturwissenschaftlichen Medizin mit allen kontraproduktiven Nebenwirkungen. Der Mensch ist in all seinen Entscheidungen zu achten.

Eigene Artikel zum Placebo Effekt:
http://www.bholstiege.de/weltexpress/placebo2.htm

http://www.bholstiege.de/weltexpress/placebo.htm

Vorheriger ArtikelTektonik im Frauenfußball verschiebt sich – Pokalsensation zwischen SGS Essen und Turbine Potsdam
Nächster ArtikelDer Schaum der Tage (Frankreich, Belgien 2013) – Symbolik bis zum Abwinken