Systematisch geordnet sind die Filme in vierzehn verschiedenen Sektionen zu sehen, die alle ihren Fokus auf das 21. Jahrhundert gerichtet haben: Von "Views of the World", "African Stories", "Greek Panorama" bis zu "Spotlight Middle East" finden sich zumeist politische Dokumentarfilme, die den Zustand der Menschen im 21. Jahrhundert reflektieren – und das weltweit. Besonders bemerkens- und empfehlenswert sind die vielen Nebenveranstaltungen die vom Festival organisiert werden.
Da gibt es etwa die MASTERCLASS des russischen Dokumentarfilmers Sergei Loznitsa: sie dauert ganze drei Stunden. Loznitsa spricht auf russisch, zeigt viele Filmbeispiele seines eigenen Oeuvres und dabei hat man seine Übersetzung auf englisch im Ohr. Diese knistert und rumpelt unaufhörlich vor sich hin, bisweilen unerträglich laut. Sergei Loznitsa definiert seinen Arbeitsethos und bestätigt, was nahe liegt: Objektivität kann es nicht geben im Dokumentarfilm. Jeder Film strebt nach seiner eigenen Form, seiner eigenen Ästhetik. Die akustische Folter lohnt sich, das was er sagt, ist wirklich interessant. Praktischerweise gibt es auch eine Werkschau seiner Filme zu sehen. Sein letztes Werk, MY JOY ist ein Spielfilm und deshalb leider nicht in Thessaloniki zu sehen.
Ein weiteres sehr schönes Element des Festivals, das sich seit einigen Jahren bereits etabliert hat ist JUST TALKING. Dies ist eine vom Festival geführte tägliche Diskussionsrunde, die allen akkreditierten Festivalteilnehmern offen steht. Hier gibt es die Möglichkeit, Filmemacher aus allen möglichen Ländern zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen. Die Diskussionsrunde wird moderiert und ist offen für alle Themenstellungen. Dabei stellen sich wiederkehrende Themenblöcke als besonders wichtig heraus – praktische Fragestellungen um einen guten Dokumentarfilm zu machen. Wie gewinne ich das Vertrauen meiner Protagonisten? Wie weit gehe ich? Wo sind meine moralischen und ethischen Grenzen? Wie gehe ich mit diesen Grenzen um. Würde ich sehr arme Protagonisten auch bezahlen, denn schließlich bereichert sich der Filmemacher ja durch das Elend der Gezeigten – direkt oder indirekt. Eindeutige Antworten gibt es nicht – die Diskussion bleibt spannend.
Das europäische Dokumentarfilmnetzwerk vergibt nicht nur einen Preis in Thessaloniki, es ist auch mit einer MASTERCLASS präsent. Sie ist ganz dem Thema NEW MARKETS NEW POSSIBILITIES gewidmet. Die auf englisch gehaltene Masterclass des irischstämmigen Amerikaners Dan Shannon zeigt Filmemachern neue Wege im Internet. Dass das Internet unendlich viele Möglichkeiten der Vermarktung bietet ist mittlerweile bekannt. Doch wie sieht das praktisch aus? Dan Shannon gibt einen rund zweistündigen Crashkurs wie man sich seine eigene Webpage baut, wie man sie richtig platziert, wie man Traffic auf seine neue Seite bringt und wie man diesen wiederum auswerten kann. Sehr praktisch das alles.
Bevor aber jetzt der Eindruck entsteht, ich hätte mir keine Filme angesehen, das stimmt nicht. In diesem Jahr finden die Special Olympics in Athen statt, vom 25. Juni bis zum 4. Juli. Deshalb liegt ein Schwerpunkt des Festivals auf einem speziellen Programm das 30 Dokumentarfilme über Menschen zeigt, die anders funktionieren als die meisten. Autismus ist dabei u.a. ein wichtiges Thema. Dem hat sich auch der deutsche Filmemacher Wolfram Seeger in seinem Dokfilm "Autisten" gewidmet. Knapp 90 Minuten lang beobachtet er ohne jeglichen zusätzlichen Kommentar jugendliche und erwachsene Autisten, die gemeinsam in einem Heim mit Pflegern leben, das Eltern von Betroffenen gebaut haben. Die Nähe, die durch diese Herangehensweise zu der Parallelwelt entsteht in der die Autisten leben ist bisweilen schockierend. Oft ist das Verhalten, dass diese an den Tag legen unvorhersehbar und überraschend, oft unerklärlich mysteriös. Warum etwa schlägt sich einer der Jugendlichen permanent auf den Kopf? Kann er sich sonst nicht fühlen? Ein anderer beisst plötzlich in eine Decke, schüttelt diese und gibt dabei wilde Geräusche von sich. Ein Mädchen hat unerklärlich grosse Angst, einen Hügel hinaufzugehen.
PORTRAIT OF A MAN erzählt die Geschichte eines Finnen um die 40, ein allein erziehender Vater mit ca. 6-jährigem Sohn. Er beobachtet sein eigenes Leben, stellt fest, dass er zuviel trinkt und dass seine Biografie immer mehr der seines Vaters zu ähneln beginnt. Dieser hat sich erschossen, als er selbst noch ein kleiner Junge war. Er begreift, dass es an der Zeit ist sein Leben zu ändern. Der Film begleitet ihn dabei. Dem Filmemacher Visa Koiso-Kanttila gelingt es, eine ganz besondere Nähe zu seinem Protagonisten herzustellen, die auch darin begründet liegt, dass dieser einer seiner besten Freunde aus der Schulzeit ist. Auch der Tonmann ist mit dem Regisseur und dem Protagonisten seit der Schulzeit eng befreundet.
In seinem Film EVERLASTING SORROW, LIFE AFTER THE DEATH PENALTY kehrt der französische Filmemacher David André nach zehn Jahren nach Oklahoma/USA zurück. Dort hat er kurz vor dessen Tod ein Interview mit einem zu Tode verurteilten geführt. David André will herausfinden, ob der Tod des Mörders der Familie der Opfer geholfen hat, den Verlust der Geliebten besser zu ertragen. Er interviewt auch die Gefängniswärter und den Richter, der das Todesurteil gefällt hat, und der mittlerweile selbst schon sehr alt und krank ist. LIFE AFTER THE DEATH PENALTY ist ein aufrüttelnder Film, der Bilanz mit der Todesstrafe zieht, der in Thessaloniki mit dem Amnesty International Award ausgezeichnet wurde.
Auffällig ist, dass fast alle gezeigten Filme traurig stimmen. Aber dennoch ist Hoffnung in Sicht, das verheisst zumindest das Poster des diesjährigen Festivals: Eine kleine Armee roter Streichholzköpfe haben sich aufgestellt, ihre roten Köpfe leuchten und wahrscheinlich warten sie darauf, dass den Menschen ein Licht aufgehe – an ihnen jedenfalls soll es nicht scheitern.