Auf der israelischen Seite 70 Tote, unter ihnen 64 Soldaten, ein Kind.
Wozu also dieser Krieg? Die ehrliche Antwort ist: für nichts.
Keine Seite wünschte ihn. Keine Seite begann ihn. Er geschah einfach so.
Lasst uns die Ereignisse rekapitulieren, bevor sie vergessen sind: Zwei junge Araber kidnappten drei junge israelische religiöse Studenten nahe der Westbank-Stadt Hebron. Die Entführer gehörten zur Hamas-Bewegung, handelten aber aus eigenem Entschluss. Der Zweck war: ihre Gefangenen gegen palästinensische Gefangene auszutauschen. Gefangene befreien, ist jetzt der größte Ehrgeiz eines jeden palästinensischen Militanten.
Die Entführer waren Amateure, und ihr Plan misslang von Anfang an. Sie gerieten in Panik, als ein Student sein Mobiltelefon benützte, und erschossen die Geiseln. Ganz Israel geriet in Aufruhr. Die Entführer sind noch nicht gefunden worden.
Die israelischen Sicherheitsdienste nützten die Gelegenheit, einen vorbereiteten Plan zu erfüllen. Alle bekannten Hamas-Militanten der Westbank wurden wie auch all die früheren Gefangenen, die im Zusammenhang mit der Freilassung der israelischen Geisel Gilad Shalit, frei kamen, verhaftet. Für Hamas war dies die Verletzung eines Abkommens.
Die Hamas-Führung im Gazastreifen konnte nicht ruhig bleiben, während ihre Kameraden in der Westbank ins Gefängnis kamen. Sie reagierten mit dem Abfeuern von Raketen auf israelische Städte und Dörfer.
Die israelische Regierung konnte sich nicht ruhig verhalten, während ihre Städte und Dörfer bombardiert wurden. Sie antwortete mit einem schweren Bombenangriff au den Gazastreifens aus der Luft.
Von da an war es nur ein endloser Blutrausch von Tod und Zerstörung. Der Krieg schrie nach einem Zweck.
Hamas tat dann etwas, das meiner Meinung nach, ein großer Fehler war. Sie benützte einige der geheimen Tunnels, die sie unter dem Grenzzaun gebaut hatte, um israelische Ziele anzugreifen. Den Israelis wurde plötzlich diese Gefahr bewusst, die die Armee als unbedeutend angesehen hatte.
Der sinnlose Krieg bekam einen Sinn. Es wurde der Krieg gegen die Tunnels. Die Infanterie wurde in den Gazastreifen geschickt, um sie zu suchen und zu zerstören.
Nachdem sie alle bekannten Tunnels zerstört hatten, hatten sie nichts mehr zu tun, außer herumzustehen und als Zielscheibe für den Tod zu dienen.
Der nächste logische Schritt wäre der gewesen sein, sich vorwärts zu bewegen und den ganzen Gazastreifen zu erobern: Viermal größer als die Manhattan-Insel mit etwa derselben Anzahl von Bewohnern.
Aber die israelische Armee verabscheute die Idee, den Streifen zum dritten Mal zu erobern (nach 1956 und 1967). Als die Soldaten das letzte Mal den Streifen verließen, sangen sie („Goodbye Gaza auf Nimmerwiedersehen!“). Voraussagende Schätzungen von Verlusten waren hoch, viel mehr als die israelische Gesellschaft zu erleiden bereit war, trotz all der patriotischen Übertreibung.
Der Krieg verkam zu einer Orgie von Töten und Zerstören, auf beiden Seiten „ein Tanz auf Blut“, jede Bombe und Rakete segnend, völlig apathisch gegenüber dem Leiden, das sie den Menschen auf der andern Seite verursachten. Und immer noch ohne ein realisierbares Ziel.
Wenn Clausewitz Recht hatte, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln, dann müsste jeder Krieg ein klares politisches Ziel haben. Für Hamas war das Ziel klar und einfach: Aufhebung der Blockade von Gaza.
Für Israel gab es keines. Benjamin Netanjahu definierte sein Ziel: „Ruhe für Ruhe.“ Aber wir hatten sie, bevor alles anfing.
Einige seiner Kabinett-Kollegen verlangten, bis zum Ende zu gehen und den ganzen Gazastreifen zu besetzen. Das Armeekommando war dagegen, und man kann keinen Krieg gegen die Wünsche des Armee-Kommandos führen. So stand also jeder herum und wartete auf Godot.
Was brachte nun das End- Abkommen der Feuerpause?
Beide Seiten waren erschöpft. Auf der israelischen Seite war es „der Strohhalm, der den Rücken des Kamels brach“, die schwierige Lage der Siedlungen rund um Gaza, was man den „Gaza-Umschlag“ nannte. Unter dem unaufhörlichen Sperrfeuer von Raketen aus kurzer Entfernung und – noch schlimmer – die Mörser- Granaten, die fast nichts kosten, ließen die Bewohner, meistens Kibbuz-Mitglieder, anfangen, still sicherere Regionen aufzusuchen.
Das war schon fast ein Sakrileg. Einer der Gründungsmythen Israels war im 1948erKrieg, in dem der Staat geboren wurde: die arabischen Dörfler und Städter rannten weg, wenn sie beschossen wurden, während unsere Siedlungen festblieben, selbst in der Mitte der Hölle.
Es war nicht ganz so. Mehrere Kibbuzim wurden auf Armee -Order hin evakuiert, wenn ihre Verteidigung unmöglich wurde. In mehreren andern wurden Frauen und Kinder weggeschickt, während Männern der Befehl gegeben wurde, zu bleiben und mit den Soldaten zu kämpfen. Aber im großen Ganzen standen israelische Siedlungen fest und kämpften.
Aber 1948 war ein ethnischer Krieg um Land. Evakuiertes Land war auf immer (oder bis zum nächsten Krieg) verloren. Dieses Mal war die ganze Begründung anders.
Leben im „Umschlag“ wurde unmöglich. Die Sirenen tönten mehrere Male innerhalb einer Stunde, und jeder hatte 15 Sekunden Zeit, einen Schutzraum aufzusuchen. Der Lärm um die Evakuierung wurde offen und laut. Hunderte von Familien zogen weg. Der Mythos wurde außer Acht gelassen, und die Regierung wurde gezwungen, eine Massenbewegung zu organisieren. Das sah nicht nach Sieg aus.
Die palästinensische Seite erlebte eine schreckliche Tortur. Über 400 000 Leute mussten ihre Wohnungen verlassen. Ganze Familien fanden Unterkunft in UN-Gebäuden, mehrere Familien in einem Raum oder in einer Ecke des Hofes, ohne Strom und mit sehr wenig Wasser, Mütter mit 6,7,8 Kindern. Und viele obdachlose Waisenkinder streunen nun ziellos durch die Gegend. In unserm Kindergarten in Gaza sind 120 Flüchtlinge.
(Man stelle sich vor, was das bedeutet: eine Familie, arm oder reich, muss ihre Wohnung innerhalb von Minuten verlassen, sie ist nicht in der Lage, etwas mitzunehmen, keine Kleidung, kein Geld, keine Familienalben, sie können gerade die Kinder sammeln und rennen, während hinter ihnen das Haus in sich zusammenbricht. Die Arbeit eines ganzen Lebens und Erinnerungen sind in Sekunden zerstört. Die jungen Männer waren längst gegangen, sie lebten in geheimen Untergrundtunnels, die für den wichtigen Kampf vorbereitet waren.)
Es ist fast ein Wunder, dass unter diesen Bedingungen die Hamas-Regierung und die Kommandostruktur funktionierten. Befehle kamen von versteckten Führern zu versteckten Zellen; Kontakte wurden mit Führern im Ausland und zwischen verschiedenen Organisationen geknüpft, während Spion-Drohnen über ihnen flogen und jeden zivilen Führer oder Kommandeur, der sein Gesicht zeigte, tötete.
Nach der Aktion, bei der der militärische Oberkommandeur Mohammad Daif getötet wurde (was nicht ganz sicher ist), fing Hamas an, die pal. Informanten zu erschießen, ohne die solche Aktionen unmöglich wären. (In meiner Zeit als Junior-Terroristen taten wir dasselbe.)
Aber mit all ihrem bemerkenswerten Einfallsreichtum konnte die Hamas nicht auf immer gehen. Ihre großen Lager mit Raketen und Mörser-Granaten entleerten sich. Auch sie benötigten ein Ende.
Das Ergebnis? Klar ein Unentschieden. Aber, wie ich schon vorhersagte, wenn eine kleine Widerstandsorganisation gegenüber einer der mächtigsten Militärmaschinerien der Welt ein Unentschieden erreicht, war es ein Grund zu feiern, wie sie es auch taten: am 50.Tag des Krieges für Nichts.
Was verloren beide Seiten?
Die Palästinenser haben riesige materielle Verluste. Tausende von Wohnungen wurden zerstört, um ihren Geist zu brechen. Einige mit magerem Vorwand, andere ohne irgendeinen. In den letzten Tagen zerstörte die Luftwaffe systematisch die luxuriösen Hochhäuser im Zentrum von Gaza.
Die palästinensischen menschlichen Verluste waren ebenfalls enorm. Die Israelis weinten keine Träne.
Auf der israelischen Seite waren die menschlichen und materiellen Verluste vergleichsweise klein. Wirtschaftliche Verluste waren bedeutsam, aber erträglich. Es sind die unsichtbaren Verluste, die zählen.
Die Delegitimation Israels in aller Welt nimmt zu. Millionen Menschen haben die täglichen Bilder aus Gaza gesehen, und bewusst oder unbewusst hat sich ihr Bild von Israel verändert. Für viele ist das „tapfere kleine Land“ zu einem brutalen Monster geworden.
Antisemitismus nimmt in gefährlicher Weise zu, wird uns erzählt. Israel behauptet, der National-Staat des jüdischen Volkes zu sein, und die meisten Juden verteidigen Israel und identifizieren sich mit ihm. Die neue Wut gegen Israel sieht manchmal wie der Antisemitismus in alten Zeiten aus, und manchmal ist er es auch.
Wir wissen nicht, wie viele Juden vom Antisemitismus nach Israel getrieben werden. Wir wissen auch nicht, wie viele Israelis von dem ewigen Krieg nach Deutschland, den USA oder Kanada getrieben werden
Man neigt dazu, den gefährlichsten Aspekt zu übersehen. Ein riesiger Hass ist in Gaza geschaffen worden. Wie viele der Kinder, die wir mit ihren Müttern von ihren Wohnungen wegrennen sahen, werden „Terroristen“ von morgen werden?
Millionen Kinder in der ganzen arabischen Welt haben die Bilder gesehen, die täglich durch Aljazeera in die Wohnungen strahlten; und werden so bittere Hasser Israels. Aljazeera ist eine Weltmacht. Während seine englischsprachige Version versuchte, moderat zu sein, hatte die arabische Version hatte keine Bremsen – Stunde um Stunde brachte sie ihre Berichte und zeigte die herzerbrechenden Bilder aus Gaza, die getöteten Kinder, die zerstörten Häuser.
Auf der andern Seite ist die generationenalte Feindschaft der arabischen Regierungen gegen Israel gebrochen: Ägypten, Saudi-Arabien und alle Golfstaaten (außer Qatar) arbeiten jetzt offen mit Israel zusammen.
Kann dies politische Früchte in der Zukunft bringen? Es könnte, wenn unsere Regierung wirklich an Frieden interessiert wäre.
In Israel selbst hat der Faschismus seinen hässlichen und unverkennbaren Kopf emporgehoben. „Tod den Arabern“ und „Tod den Linken“ ist zu einem legitimen Schlachtruf geworden. Einige dieser widerlichen Wellen werden hoffentlich schwinden, aber einige werden wohl bleiben und zu einem regulären Charakterzug werden.
Netanjahus persönliches Schicksal ist hinter Wolken verborgen. Während des Krieges stieg seine Popularität sehr. Jetzt ist sie im freien Fall. Es genügt nicht, Reden über den Sieg zu halten. Der Sieg muss gesehen werden, wenn möglich ohne Mikroskop.
Krieg ist eine Sache der Macht. Die Fakten, die auf dem Schlachtfeld geschaffen werden, spiegeln sich in den politischen Folgen wider. Wenn die Schlacht mit einem unentschieden endet, werden die politischen Folgen auch unentschieden sein. Über die Illusion des Sieges hat schon König Pyrrhus von Epirus gesagt: „Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!“
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgt unter www.uri-avnery.de mit der Angabe 30.08.2014. Alle Rechte beim Autor.