Mit den 2006 ins Leben gerufenen Stummfilmkonzerten setzt Komponist und Pianist Stephan Graf von Bothmer sein Faible für Filmmusik auf besondere Art um. Seine Stummfilmmanie ließ ihn im März 2007 zum 30-stündigen „Stummfilmmarathon“ antreten. Alle 21 Filme Ernst Lubitschs begleitete er. Der letzte trug den Titel „Wenn ich tot bin“. Auf von Bothmer trifft dies zum Glück nicht zu. Sein Publikum beschwingt er – mittlerweile nicht nur im Babylon, sondern auch im Filmmuseum Potsdam – mit Begleitmusik an der Klaviatur. Begonnen als Experiment in der Berliner Passionskirche wurden die Vorführungen zum erfolgreichsten Stummfilmprojekt Deutschlands. Da aber Kino ohne Kino nicht wie Kino ist, musste ein solches als Spielort her. Direkt gegenüber der Volksbühne liegt das Babylon mit seinem eigenen nostalgischen Charme. Bitte nicht dem Babylon antun, was dem ehemaligen Filmpalast widerfuhr! Dessen Innenausstattung erinnert nach dem Umbau mit protzigen Ledersesseln an Raumschiff Enterprise. Karten kosten ab zwölf Euro, Studentenfutter rund drei Euro. „Managerfutter“, denn welcher Student kann sich das leisten?
Während in Multiplexkinos der Schwerpunkt auf der Massenabfertigung von Besuchern liegt, die zu Mainstream-Streifen angeblich mexikanische Nachos mampfen wollen, geht es im Babylon noch um Filmkunst. Ein Kassenschalter statt zehn, an dessen Messingabgrenzung nicht hundertfach das gleiche Werbeblatt ausliegt, sondern Theaterprogramme. Ein einzelner Saal, weit, hoch, die Klänge werden bis in die letzte Reihe getragen. Ein Begleitheft mit alten Kritiken und ein kurzer Vortrag leiten den Film ein. Nun betritt Stephan von Bothmer den Saal. Trägt er die rote Samtjacke eigentlich immer? Ohne hat man ihn hier nie gesehen. Es bleibt das einzig Extravagante an von Bothmer. Statt seiner selbst rückt er die Filmkunst in den Mittelpunkt.
Die Filmauswahl beweist, dass Connaisseurs am Werk sind. Neben Klassikern wie „Dr. Mabuse“, „Nosferatu“ oder „Metropolis“ darf man Unbekanntes, lange Verschollenes und Kurioses entdecken. Stummfilm ist mehr als eine kleine Zahl Kanonwerke. Er ist Detektivkrimi, Romanze, Sensationsstreifen und Abenteuerspektakel. Im Babylon begreift man, was verloren ging, als er aus den Kinos verschwand, eine eigenständige Kunstform, welche der Tonfilm nicht ersetzen kann. Stummfilm braucht die große Leinwand, dramatische Musik und präzise Bildauflösung. Auf dem Fernsehbildschirm hampelt in „Der Dieb von Bagdad“ ein Männchen in Pappkulissen herum. Im Kino lacht Douglas Fairbanks verschmitzt, dass man mit der Sultanstochter tauschen möchte, reitet auf dem geflügelten Pferd und schwebt schließlich auf dem fliegenden Teppich davon. Friedrich Wilhelm Murnaus „Faust“ hat nichts von Puppenkistengrusel. Der ganze Saal verfinstert sich unter den Schwingen des von Emil Jannings gespielten Satans.
Luise Brooks Augen verführen in „Tagebuch einer Verlorenen“. Man schmachtete mit Vilma Banky vor Rudolph Valentino im Wüstenmelodram „Son of the Sheik“. Die sexuelle Atmosphäre des psychologischen Dramas „Schatten“ von Arthur Robinson wechselt mit Großstadtdramatik im deutschen Sensationskrimi „Asphalt“. Der in Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ die Treppe von Odessa herunterrasende Kinderwagen, der brechende Blick der sterbenden Mutter, das bewegt, fesselt, verstört wie nie zuvor. Stephan von Bothmers Spiel trägt die Bilder, verleiht jedem Augenblick Spannung. Die Zeit verfliegt, die Bilder versinken ins Dunkle, das Klavier verklingt.
Beim Applaus zeigt von Bothmer jedes Mal auf die Leinwand. Irgendwie klatscht man mit für Asta Nielsen, Buster Keaton und Greta Garbo, die nicht mehr da sind und gleichzeitig doch, auf Zelluloid konserviert. Verlässt man das Babylon, ist es meist schon dunkel. Ein wenig fühlt man sich zurückversetzt in eine andere Zeit. Bis man am Alexanderplatz am nächsten Multiplex vorbeikommt, mit drei Etagen und einem Dutzend unterschiedlicher Filmposter draußen. Das braucht man jetzt alles nicht. Lieber zwei Wochen warten. Dann gibt es wieder ein Stummfilmkonzert. Soviel mehr steht noch auf dem Spielplan: „Fräulein Else“, der Eröffnungsfilm des 1929 eingeweihten Babylon. Von der beschwingten Lubitsch-Komödie „Die Austernprinzessin“ mit einem Vorfilm mit Bert Brecht und Karl Valentin über „Panzerkreuzer Potemkin“ bis zu Lotte Reinigers Scherenschnittmärchen „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“.
Stummfilm mit musikalischer Begleitung gab es in Berlin auch in der Komischen Oper. Ein ganzes Orchester spielte auf zu Harold Lloyd in „Saftey Last“ („Ausgerechnet Wolkenkratzer“) – ja, der, in dem er an der Uhr hängt – , dem Stummfilm überhaupt für die Opernkulisse, „Phantom der Oper“ mit Lon Chaney und Jaques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ wurde durch das gleichnamige Leinwandwerk ergänzt. Nun blieb es lange still im filmmusikalischen Sinne. Vorerst steht kein Leinwandwerk auf dem Programm. Dabei bot die Komische Oper einen ungewohnten und reizvollen Rahmen für Filmvorführungen, die orchestrale Begleitung eine außergewöhnliche musikalische Erfahrung und dank des 3 Euro Ermäßigungstarifs konnten Sozialhilfeempfänger die Filme nicht nur ausnahmsweise genießen. Momentan wird Tschaikowskis „Pique Dame“ im Opernrepertoire aufgeführt. Die russische Stummfilmadaption „Pikovaja Dama“ von Puschkins Novelle wäre eine hübsche Abrundung des Programms. Damit der Rest nicht Schweigen ist. Bis dahin sind die Stummfilmkonzerte im Babylon weiterhin Gelegenheit für Kenner und Neueinsteiger den Stummfilm in seinem Facettenreichtum neu zu erleben. Was sang und klanglos unterging, erlebt im Babylon eine Renaissance.
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Stummfilmkonzerte im Babylon
Musikalische Begleitung: Stephan von Bothmer
Weitere Termine: 14. April 20 Uhr „Fräulein Else“ Babylon,
17. April 20 Uhr „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ im Filmmuseum Potsdam, 18. April 20 Uhr „Die Büchse der Pandora“ (Georg Wilhelm Pabst) im Filmmuseum Potsdam
28. April 20 Uhr „Das Eskimobaby“ mit Vorfilm: La poule aux Oeufs d ´Or (Trickfilm, handkoloriert) im Babylon
8. Mai 20 Uhr „Der Himmel auf Erden“ im Filmmuseum Potsdam
9. Mai 20 Uhr „Der Dieb von Bagdad“ im Filmmuseum Potsdam
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