Deutlich wird der Druck, den die Gesellschaft auf die individuelle Erziehungsarbeit ausübt. So wird derzeit vielfach wieder Anpassungsfähigkeit und Gehorsam gefordert. Die florierende Wirtschaft braucht unkompliziert funktionierendes Menschenmaterial, und Erziehung soll ja dazu führen, dass Kinder im späteren Erwachsenenleben möglichst gut zurechtkommen und nicht zu verbitterten AußenseiterInnen werden.
Zu Beginn liefern Sabine Werner und Eva Bay ein typisches Geplänkel zwischen einer nervenden Mutter und ihrer Tochter. Offenbar hat diese Mutter nicht akzeptiert, dass ihr Kind eine erwachsene Frau ist und rügt es wegen seiner ständigen Verspätungen und seines Outfits, was der Tochter sichtlich peinlich ist, obwohl sie es auch als Ausdruck von Fürsorglichkeit begreift, denn die Mutter will ja nur, dass ihre Tochter nicht unangenehm auffällt und kann nicht aufhören, sich für ihre Tochter verantwortlich zu fühlen.
Trotz Differenzen und Fremdheiten ist der Umgang von Mutter und Tochter meistens liebevoll. „Meine Mutter ist eine blöde Kuh“, sagt die Tochter lachend und fügt gleich eine ihrer vielen Liebeserklärungen an die Mutter hinzu. Die sagt nur einmal, dass sie ihre Tochter liebt. Sie sagt es sehr ernst und es scheint sie Überwindung zu kosten. Die ältere Generation tut sich schwerer mit dem Ausdruck von Gefühlen.
Es gibt aber auch heftige Auseinandersetzungen. Einmal schreit die Tochter, die Mutter solle doch sterben, und die gibt zurück „Wie dein Vater.“ Sonst werden Väter im Stück lediglich am Rande erwähnt, und die männliche Perspektive, aus der Mütter und Töchter vorrangig Rivalinnen sind, findet glücklicherweise keine Erwähnung.
Kurze Szenen wechseln mit Erfahrungsberichten, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen. Besonders erschütternd die Geschichte eines Mädchens, das nachts nach dem Sirenengeheul nicht zum Luftschutzkeller laufen konnte, weil ihm die Beine den Dienst versagten. Erzählt wird das ohne große Emotionen. Die Frauen sind nicht wehleidig, sie jammern nicht und sie klagen nicht an.
Die Tänzerin Antje Rose gestaltet dieses zähe, schweigsame Ringen der Frauen mit ihren Schicksalen. Sie schlängelt sich über den Boden, verhüllt sich mit Kleidungsstücken und windet sich aus ihnen heraus, als wolle sie sich häuten.. Antje Rose tanzt mit einem überlangen Mantel aus grauer Wolle, der zur Leine wird, an der die Tochter, angebunden zum Rendezvous geht, während die Mutter am anderen Ende an der Leine strickt.
Auf den Videos von Konrad Gröbler im Hintergrund sind fallende Blätter und Regen zu sehen und ein hüpfendes kleines Mädchen in einem altmodischen Sonntagskleid.
Bühnenbildnerin Anna Bergemann hat die Spielfläche gestaltet wie ein aufgeräumtes Kinderzimmer, mit einer Puppe, die so aussieht, als dürfe mit ihr nicht gespielt werden, einem Kinderwagen, Musikinstrumenten und einer Tasche mit Büchern, nicht Pippi Langstrumpf & Co., sondern Erziehungsratgebern, unter denen ein 1934 erschienener Ratgeber besondere Beachtung erfährt. Es handelt sich um „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, einer begeisterten Nationalsozialistin, die dazu anleitete, Kinder, vom Tag ihrer Geburt an, zu Untertanen zu erziehen.
Das Buch, ein Bestseller während der Nazizeit, landete nach 1945 nicht etwa auf dem Müll, sondern wurde bearbeitet und neu aufgelegt. Der Führer und der Nationalsozialismus wurden nicht mehr erwähnt, der Titel lautete nun „Die Mutter und ihr erstes Kind“. Die Botschaft jedoch blieb die gleiche wie vorher, und das Werk erfreute sich auch weiterhin großer Beliebtheit und Anerkennung und erlebte erst 1987 seine letzte Auflage. Die Angst, Babys, durch Eingehen auf ihre Bedürfnisse, zu Tyrannen zu erziehen, ist bis heute nicht aus der Welt geschafft.
Das Stück enthält eine Fülle von Informationen, die geschickt in die Spielszenen hineingearbeitet sind und niemals belehrend wirken, sondern wie Angebote zum Weiterdenken. Sabine Werner, Eva Bay und Antje Rose verstehen es, das Publikum ins Geschehen hineinzuziehen und es auch mit musikalischen Darbietungen zu unterhalten. Sie sind nur zu Dritt, aber verwandeln sich immer wieder auch in die vielen Frauen, auf deren Erinnerungen und Erfahrungen die Texte basieren.
Am Ende ist es die Tochter, die ihre sterbende Mutter nicht loslassen will, und die arrangiert ein Gespinst aus Fäden um das Gerüst des Reifrocks herum, mit dem Antje Rose gerade noch getanzt hat, ein Netz, das nicht einfach zerrissen, sondern in seiner Struktur begriffen werden sollte.
Anne Schneider hat mit einem wunderbaren Team die problematischen Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern unter den Einflüssen gesellschaftlicher Veränderungen sehr klug und einfühlsam auf die Bühne gebracht. Nach der Premiere waren lebhafte Unterhaltungen von BesucherInnen über eigene Erfahrungen mit Müttern und Töchtern zu hören.
„Desaster“, eine Produktion von Anne Schneider in Kooperation mit dem Lichthof Theater Hamburg und dem Ballhaus Ost, gefördert durch die Kulturbehörde Hamburg und die Ilse und Dr. Horst Rusch-Stiftung hatte am 03. April Premiere im Ballhaus Ost. Nächste Vorstellungen: 22., 24. und 25. Mai 2014.