Es ist ein schöner warmer Sommertag, Bach hat sich die Hemdsärmel hochgekrempelt und zieht voller Vergnügen die 23 Register des neuen Instruments. Er jagt die Orgel durch Dur und Moll, prüft den Klang der Pfeifen, das Zusammenspiel, die akustische Raumwirkung und findet schließlich, das „die Orgel eine gute Lunge hat“. Das ist der Ritterschlag! Ein schönes Instrument hat Meister Wender aus Mühlhausen da den Arnstädtern in die Kirche gebaut. Mit einem mächtigen Akkord beendet Johann Sebastian Bach das Spiel. Wie von Gotteshand getragen steigt der Klang empor, breitet sich aus, hängt noch ein wenig in der Luft und zerbröselt schließlich an den Wänden. Stille herrscht im weiten Rund. Die Herren des Konsistoriums sitzen atemlos. Eine solche Vorstellung hatten sie noch nicht erlebt. Wie der Bach die Tasten traktiert hat. Leise tuscheln sie miteinander. Schließlich wendet sich einer der Herren an den jungen Mann, und bietet ihm eine feste Stelle als Kirchenmusiker an. Und zwar zu finanziellen Bedingungen, die weder zuvor noch danach je ein Organist in Arnstadt erhalten hat.
Diese schöne Geschichte wird jedem Touristen erzählt, der Bachs Wirkungsstätte in Arnstadt besucht. Und dies tun eine Menge. Aus aller Welt kommen Besucher in den nachweislich ältesten Ort Thüringens, der im Jahre 2004 seinen 1300jährigen Geburtstag feierte. Voller Ehrfurcht betreten sie die „Neue Kirche“, die seit 1935 den Namen des Komponisten trägt. Die meisten setzen sich einfach still in eine der Bankreihen, gehen mit den Augen spazieren und lassen den weihevollen Ort auf sich wirken. Andere wieder gucken in alle Ecken, fragen nach der Baugeschichte der Kirche, die auf den Grundmauern der 1581 abgebrannten Bonifatiuskirche errichtet wurde.
Vier Jahre, von 1703 bis 1707, hat Johann Sebastian Bach in Arnstadt gelebt und gearbeitet. 33 Orgelchoräle sind hier entstanden, zahlreiche Toccaten, Präludien und Fugen. Der Alltag des Kirchenmusikers war kein Zuckerschlecken. Neben der täglichen Kompositionsarbeit musste Bach jeden Sonntag den Frühgottesdienst an der Orgel begleiten. Und die Betstunde am Montag. Und die Frühpredigt am Donnerstag. Und obwohl er wirklich fleißig gewesen war, fanden seine Brotherren immer wieder Anlass zur Klage. Einmal kam er drei Monate zu spät aus einem Bildungs-Urlaub beim Lübecker Orgel-Virtuosen Dietrich Buxtehude zurück. Zugegeben, das war nicht in Ordnung. Aber da sich Bach mit Vetter Johann Ernst einen sehr fähigen Vertreter für die Zeit seiner Anwesenheit gesichert hatte, übte das Konsistorium Nachsicht mit dieser „Künstlergrille“. Ein anderes Mal rügte die Kirchenleitung die fehlende sittliche Reife des jungen Mannes, Bach hatte „eine frembde Jungfer auf dem Chore“ singen lassen. Und das, obwohl bekannt war, dass keines Weibes Fuß die Empore betreten durfte. Schließlich hielten sie ihm vor, „dass er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet“, und so die Gemeinde „confudiret“, also verwirrt, habe. Diese Kritik brachte das Fass zum Überlaufen. Bach verließ „mit angezeigter Ungnade“ die Stadt seiner ersten Organistenstelle in Richtung Mühlhausen.
Heute erinnert ein unkonventionelles Denkmal an die „wilden“ Arnstädter Jahre. Anders als gewohnt steht kein würdevoller Mensch mit gepuderter Allongeperücke auf dem Sockel und schaut mit ernstem Gesicht in die Welt, ein junger Mann lümmelt selbstbewusst, provokant und lässig auf einer Bank. Professor Goebel aus Halle schuf dieses heitere Denkmal. Es steht seit dem 20. März 1985 auf dem Marktplatz und löste anfangs Stürme der Entrüstung aus. Von „Kulturschande“ war die Rede, von „Verunglimpfung“ und „Skandal“. Ganz spitzfindige Leute meinten, das Denkmal sei allein deshalb schon unsinnig, weil jeder Mensch, der mehr als drei Tage in dieser fläzigen Haltung sitze, garantiert mit Rückenverkrümmung ins Gipsbett komme. Selbst einer aus Kupfer. Die Angelegenheit würde sich also, so meinten sie, ziemlich schnell von selbst erledigen. Heute reden die Arnstädter mit Humor und Ironie über ihre damalige Aufregung. Längst wird das Denkmal bewundert. Und alle finden, Bach sei gut getroffen. „irgendwie ganz menschlich“.
Arnstadt selbst ist von altertümlicher Schönheit. Der Reformator Martin Luther, der der Stadt einst vom Kirchturm herab aufs Haupt sah, verglich die roten Dächer im satten Grün mit einer „Schüssel gesottener Krebse, garniert mit Petersilie“. Die kleine Gemeinde (27 000 Ew.) hat sich mit ihren geschichtsträchtigen Häusern und den engen Gassen etwas sehr Liebenswertes bewahrt. Arnstadt zeigt sich heute fein restauriert. Mit viel Liebe und viel Geld wurden die Straßen neu gepflastert, die Bürgerhäuser herausgeputzt, grün und rot, blau und gelb sind die Farben der Fassadenkleider. Endlich scheint man auch die Wohnung Johann Sebastian Bachs gefunden zu haben. Wie Detektive waren die Mitglieder des „Altstadtkreises“ jeder Spur nachgegangen, hatten staubige Akten gewälzt, Archive durchwühlt, Folianten studiert. Nun sind sie sich sicher: Der junge Bach kann während seiner Arnstädter Zeit nur in der Kohlgasse 7 gewohnt haben. Bei Onkel Johann Christoph! Nach umfangreichen Sanierungsarbeiten ist die „Bach’sche Bleibe“ nun der breiten Öffentlichkeit zugänglich.
Doch nicht nur der große Bach, auch der Märchensammler, Apotheker und Dichter Ludwig Bechstein (1801-1860), der Schriftsteller Willibald Alexis (1798-1871) und der Fabeldichter Wilhelm Hey (1789-1854) haben in der kleinen Thüringer Residenz Spuren hinterlassen. Hier wohnten zu jeder Zeit interessante Menschen. Am hübschen Marktplatz, der von Arkaden und dem Renaissance-Rathaus aus dem Jahre 1583 gesäumt ist, wurde 1825 die Schriftstellerin Eugenie Marlitt geboren, die mit bürgerlichem Namen Friederike Henriette Christiane Eugenie John hieß. Ihre tränentreibenden Trivial-Romane, allesamt veröffentlicht in der „Gartenlaube“ (u.a. „Reichsgräfin Gisela“, „Goldelse“) wurden in viele Sprachen übersetzt. In überzuckertem Stil erzählte sie von gefallenen Mädchen und edlen Prinzen, von zynischen Machtmenschen und keuschen Schönheiten, von Gut und Böse, arm und reich. Ganze Generationen von Dienstmädchen, höheren Töchtern und einsamen Witwen weinten die Seiten nass. „Die Marlitt“ war so erfolgreich, dass Ernst Keil, der Verleger der „Gartenlaube“, seiner Bestseller-Autorin sogar eine Villa schenkte. Das noble Haus steht heute in der Marlitt-Straße, ist in privatem Besitz und leider der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Hier jedenfalls saß die Dichterin, schwer gichtgeplagt im Rollstuhl, „körperlich leidend, aber geistig frisch“, und „schrieb die Erzeugnisse ihrer Muse“ nieder. Hinter der erfolgreichen Dichterin lagen bereits eine gescheiterte Karriere als Sängerin und der harte Job als Vorleserin bei der Fürstin von Schwarzenburg-Sondershausen. Wie wir vom Biografen wissen, hatte sie in dieser Funktion „am Hofe und auf Reisen Gelegenheit, die Welt zu studieren und Erfahrungen zu sammeln, aus denen sich die Schärfe und Wahrheit ihrer Charakterzeichnungen erklären lässt“. Heute kümmert sich ein rühriger Bürgerverein um ihr Leben.
Trotz der Marlitt, trotz Bach und aller Kleinstadtidylle: Arnstadts bekannteste Attraktion aber heißt „Mon plaisir“ – „Mein Vergnügen“. Gemeint ist die Puppensammlung der Fürstin Augusta von Schwarzburg-Arnstadt (1666-1751). Die Puppenstadt im Schlossmuseum kann sich rühmen, weit über die vergleichbaren Puppenhäuser in Nürnberg, Amsterdam, Utrecht oder London hinauszugehen. Sowohl was den Umfang als auch die Geschlossenheit der Sammlung anbelangt. Irgendwie traurig: Mit den farbenfrohen, phantasievollen Puppen ist nie gespielt worden. Die adlige Dame, kinderlos und seit 1716 verwitwet, fühlte sich einsam und verlassen. Um ihrer Melancholie zu entrinnen, begann sie mit großer Leidenschaft, sich eine liebenswerte Scheinwelt zu erschaffen. Im Laufe von 35 Jahren bastelten Handwerker nach ihren fürstlichen Ideen 26 Puppenhäuser, in deren 82 Puppenstuben 450 Puppen aus Wachs, Porzellan, Holz und Seide leben. Alles an ihnen ist echt. Kleidung, Haartracht, Möbel, mit „Mon plaisir“ entstand ein lebendiger Spiegel des höfischen, bürgerlichen und ländlichen Lebens zur Barockzeit. Das Arnstädter Puppenspiel stellt jedes trockene Geschichtsbuch in den Schatten. Und da steht es heute noch.