Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Umfragewerte sind alarmierend. Während die Zahl der Straftaten in Deutschland 2017 zurückgegangen ist, sind die judenfeindlichen Vergehen um 2,5 Prozent gestiegen. Dazu gehört alles, von Beleidigungen und Schmierereien bis zu schwerer Körperverletzung.
2018 wollte das ZDF in einer Umfrage wissen: »Wie groß ist die Judenfeindlichkeit in Deutschland?» 51 Prozent meinten: »nicht groß», 23 Prozent »groß», 16 Prozent meinten, es gäbe keine. 55 Prozent der Befragten meinen, man solle unter das Erinnern an den Holocaust keinen Schlussstrich ziehen, aber immerhin sind 40 Prozent für einen Schlussstrich. 35 Prozent sind der Auffassung, Deutschland nehme wegen des Holocaust zu viel Rücksicht auf Israel, 46 Prozent finden »Rücksichtnahme» richtig und 6 Prozent meinen, es werde zu wenig Rücksicht genommen. Letztere Frage führt allerdings vom Problem weg, denn viel oder wenig Unterstützung der imperialistischen Politik des Staates Israel ist kein Kriterium für Judenfeindlichkeit. Die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung, der Landraub in Palästina, der Krieg gegen Gaza, die Okkupation des Golan durch den Staat Israel werden von humanistisch denkenden, friedliebenden Menschen abgelehnt, aber nicht die Juden als Bürger, als Personen oder als Nationalität. Aus einer politischen Meinung kann Kritik entstehen, aber keine Judenfeindlichkeit.
Fakt aber bleibt, dass der Antisemitismus in Deutschland zunimmt, aggressiver wird. Jeder zweite Anhänger der »Alternative für Deutschland» (AfD) meint, Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss, und der Landtagsabgeordnete Bernd Höcke wird umjubelt, wenn er das Holocaustdenkmal »ein Denkmal der Schande im Herzen Deutschlands» nennt.
Ein Stimmungsbild und seine Folgerungen
Was ist aus solchem Stimmungsbild zu folgern? Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, geht in einer Dokumentation der Frage nach. »Wie antisemitisch ist Deutschland? Muss man als Jude in Deutschland Angst haben?» In Australien geboren, Jude, seit zehn Jahren in Deutschland lebend und arbeitend, hat er den Vorteil, dieses Land unvoreingenommen, mit fremdem Blick zu sehen – eine Form der Verfremdung also, die zu nüchterner Analyse befähigt.
Kosky zieht aus, um Leute auf der Straße zu fragen: »Was ist Antisemitismus?», »Ist der Holocaust ein Problem? Soll man einen Schlussstrich ziehen?» Er interviewt auch Leute, die sich mit dem Thema politisch beschäftigen oder damit Politik treiben, und jene, die von Anfeindungen betroffen sind.
Betroffene, Verbündete und Agitatoren
Die Familie Michalski aus Berlin nahm ihren Sohn von der Schule, weil er beleidigt und geschlagen wurde. Die Schule unternahm nichts. Ein Jude wurde von Jugendlichen auf der Straße krankenhausreif geprügelt. Benjamin Steinitz von der Informationsstelle Antisemitismus schildert viele Einzelfälle von Antisemitismus im Beruf, auf der Straße oder in der Schule, zum Beispiel von einem Steuerberater, der statt Holocaust lieber »Endlösung der Judenfrage» sagt. Der Sportler Marik Wajnstejn erzählt, wie er Beschimpfungen von Juden auf dem Sportplatz erlebt. Kosky befragt den Träger einer Deutschlandfahne auf einer Demo, der meint, Antisemitismus sei »nicht präsent». Die Antisemitismusdebatte müsse ein Ende haben.
Mit dem Lehrer Dervis Hizarci erörtert Kosky die Frage, ob der Antisemitismus mit den muslimischen Flüchtlingen importiert werde, denn 70 Prozent der Juden fürchten ein Anwachsen des Antisemitismus durch die Flüchtlinge.
Wie steht die evangelische Kirche zum Antisemitismus? Hat das Jubiläum der Reformation den Antisemitismus Martin Luthers verharmlost oder verschwiegen? Der Bischof Markus Dröge erkennt an, dass Luther mit seinem Judenhass einen schädlichen Einfluss auf die Gesellschaft hatte und die Naziideologie beförderte. Diese Belastung der Kirche müsse Konsequenzen haben. Nötig sei eine Kultur des Dialogs von Christen und Juden sowie von Christen und Muslimen.
Kosky interviewt auch Träger der antisemitischen und rassistischen Ideologie oder ihre Verharmloser. Der AfD-Kommunalpolitiker Wolfgang Fuhl aus Lörrach, selbst Jude, leugnet die rassistische Ideologie seiner Partei. »Wir haben keine Rechtsextremen.» Der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Das »deutsche Volk in seiner Mehrheit» entscheide, wer zu Deutschland gehöre. Kosky: So entschied auch das deutsche Volk in der Nazizeit über die Juden.
In dem »Volkslehrer» Nikolai Nering, der in Berlin wegen seiner Hetze und Verschwörungstheorien aus dem Schuldienst entlassen wurde, findet Kosky die Parolen und Lügen der neofaschistischen Ideologie gebündelt. »Deutscher ist, wer sein Land und sein Volk liebt.» Man müsse den »Deutschen» das Schuldbewusstsein nehmen. Kosky sei Staatsbürger der BRD, aber kein Angehöriger des deutschen Volkes. »Antisemit ist nicht einer, der die Juden nicht mag, sondern einer, den die Juden nicht mögen.» Kosky disqualifiziere sich als Deutscher. Der Film zeigt erschreckend, mit welcher Selbstsicherheit und Aggressivität die Ideologen und Agitatoren des Antisemitismus und Rassismus ihren faschistischen Geist verbreiten.
1965 schuf Michail Romm den Film »Der gewöhnliche Faschismus». Er ging der Frage nach, was Menschen dazu bringt, den Faschismus zu bejahen oder sogar zum Mörder zu werden. Vieles von dem, was Barrie Kosky eruiert, liefert sinngemäß Steine zu dem Mosaik »Der gewöhnliche Antisemitismus».
Was aber tun?
Koskys Fazit: Der Antisemitismus in Deutschland war immer da. Das Problem ist nicht gelöst. »Unsere Verantwortung ist, mit den Dämonen und Furien zu kämpfen.»
Da gibt der Film zu wenige Anhaltspunkte. Breit, wenn nicht überbreit, schildert der Film das Selbstverteidigungssystem Krav Maga, quasi die letzte Rettung bei einem physischen Angriff. Unterbelichtet ist, was sich in der Gesellschaft ändern muss, damit der Antisemitismus im Denken und Handeln zurückgedrängt wird. Die Frage drängt sich im Falle des Schülers Michalski auf. Wie müssen die Kinder bereits im Kindergarten und in der Schule zu Völkerfreundschaft, Antirassismus und Solidarität erzogen werden? Hier wäre ein Interview mit dem zuständigen Minister oder mit dem Vorsitzenden der Rektorenkonferenz der Universitäten interessant gewesen. Denn wenn an deutschen Universitäten der Begriff Faschismus verpönt ist oder wenn In Politik und Presse die Nazis vornehm zu »Nationalsozialisten» stilisiert werden, wie soll eine antifaschistische Grundeinstellung vermittelt werden? Oder wenn sich deutsche Polizisten zur AfD hingezogen fühlen? Wie können sich Parteien, Gewerkschaften, Kulturvereine, Kirchen und Verbände gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus engagieren? Wer hält Juden, zum Beispiel jüdische Künstler und Wissenschaftler, zurück, die wegen des Antisemitismus Deutschland verlassen oder sich mit dem Gedanken tragen zu gehen?
Unterschwellig bleibt die Fiktion, das Land Deutschland habe seit der Befreiung vom Faschismus 1945 als Einheit bestanden. Gab es keine Unterschiede zwischen den deutschen Staaten?
In der DDR stand in der Verfassung, die Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werde als Verbrechen geahndet. Wie beeinflusste das die Haltung der Bevölkerung, die Schulbildung, Literatur und Kunst? Was ist davon geblieben? Welches geistige Gut muss erhalten werden?
Ein Film kann eine solide Information bieten, er kann nicht alle Fragen beantworten, aber eine Diskussion einleiten. Thorsten Berrars und Barrie Koskys Film vermittelt eine humanistische Botschaft. Er gehört in alle Schulen (und in die Lehrerbildung).
Wie antisemitisch ist Deutschland? Dokumentation von Thorsten Berrar, mit Barrie Kosky, Deutschland 2018, Produktion Labo M im Auftrag von 3sat und ZDFinfo, Ausführender Produzent Torsten Berg, 44 min, Ausstrahlung auf ZDFinfo am 27.9.2018 19.30 Uhr