Die Hitze des Tages liegt schon schwer in der Luft. Fahrer Paul Jean lässt den Motor an, er trägt ein kariertes Hemd und eine rote Schirmmütze. Seit Februar fährt er Hilfsgüter aus – Säcke mit Bohnen, Mehl und Zucker, Kisten mit Speiseöl, Fischkonserven und Milchpulver. Zehn Monate nach dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar versorgen die SOS-Kinderdörfer in Haiti noch immer rund 14000 Kinder mit Lebensmitteln. Kleinlaster beliefern 112 Essensausgabestellen in Notlagern, Armenvierteln, Schulen und 16 Gemeindezentren in der Umgebung des SOS-Kinderdorfs. Wegen der guten Versorgung ist die Cholera, die in den letzten Monaten in Haiti zum echten Problem wird, in der Gegend um die SOS-Kinderdörfer kein Thema.
Für heute Vormittag stehen neun Essensausgabestellen auf der Liste. „Anfangs mussten wir die Hilfsgüter auf dem Rücken über die Schuttberge tragen, weil wir mit dem Kleinlaster nicht bis zu den Leuten kamen“, sagt Jean. Jetzt sind wenigstens die Straßen geräumt, aber der Verkehr ist nach wie vor ein Chaos, für 30 Kilometer braucht er oft vier Stunden. Links und rechts der Straße noch immer ein Bild der Zerstörung, vom Wiederaufbau ist nichts zu sehen. Viele Trümmerhaufen sind bisher nicht beseitigt worden, die Menschen graben aus ihnen hervor, was sie gebrauchen können, manchmal stoßen sie auf eingeschlossene Körperreste unter dem dichten Schutt. Dann ist er wieder da, der furchtbare Geruch des Todes, der sich so grausam in der Nase festsetzt.
35 Sekunden. Ein Beben der Stärke 7 auf der Richterskala. Für viele Haitianer war nach dem 12. Januar nichts mehr so, wie es vorher war, sie verloren Verwandte, Freunde, Häuser, Arbeitsplätze, Schulen. Mehr als 220000 Menschen starben, rund 300000 wurden verletzt, bis zu 1,3 Millionen leben nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef noch immer in Notlagern, knapp die Hälfte davon sind Kinder. In Port-au-Prince wurde mehr als die Hälfte aller Gebäude beschädigt oder zerstört, darunter der Präsidentenpalast, das Parlamentsgebäude und die meisten Ministerien, Schulen und Krankenhäuser, geschätzte 18000 Beamte starben. Ein Todesstoß für einen zentralistischen Staat, der schon vor dem 12. Januar als gescheitert galt.
Jean biegt ab in eine Seitenstraße. Vor einem Betonhaus warten bereits mehrere Jugendliche auf die SOS-Lieferung, sie heben die Säcke und Kartons von der Ladefläche, tragen sie durch enge Gassen zur Gemeinschaftsküche, wo Mütter aus der Nachbarschaft gemeinsam kochen. „Jeden Tag kommen 350 Kinder zum Mittagessen zu uns, weil ihre Eltern nicht ausreichend für sie sorgen können“, sagt Joseph Jean Dieufort. Er leitet ein Selbsthilfe-Komitee, zu viert kümmern sie sich um die Essenszubereitung und -verteilung, SOS-Sozialarbeiter unterstützen sie dabei. Meistens gibt es Mais und Bohnen mit etwas Fisch und Soße. „Die Kinder sind durch die Lebensmittellieferungen zum Glück nicht mehr unterernährt“, erzählt er. „Aber sie brauchen jetzt nicht nur etwas für den Magen, sondern auch etwas für den Kopf, die meisten können nicht zur Schule gehen.“
Noch bis Januar soll die Nothilfe der SOS-Kinderdörfer weiter laufen wie bisher und dann durch langfristige Aufbauprojekte ersetzt werden. Geplant ist die Basisversorgung von 40000 Kindern über mehrere Jahre durch den Ausbau der Familienhilfe, neue Gemeindezentren und Schulen. Drei wollen die SOS-Kinderdörfer allein in den nächsten drei Jahren bauen. Weitere sollen folgen. „Es gibt bei den Menschen sehr ernsthafte Bedürfnisse, die über die Nothilfe hinaus gehen“, sagt der neue SOS-Nationaldirektor Dionisio Pereira. Er sitzt in seinem provisorischen Büro in der Hermann-Gmeiner-Schule im SOS-Kinderdorf Santo, das Nationalbüro ist beim Beben eingestürzt. „In den Gemeindezentren wollen wir Familien dabei unterstützen, langfristig für sich selbst zu sorgen.“ Die Kinder werden dort weiterhin mit Lebensmitteln versorgt, die Eltern helfen beim Kochen, Putzen und Reparieren und können Alphabetisierungs-, Hygiene- und Ausbildungskurse belegen. „Wenn eine Mutter bei uns Nähen lernt, dann kann sie damit langfristig ihre ganze Familie durchbringen“, sagt Pereira. Für die Zukunft ist auch die Vergabe von Mikrokrediten geplant, in Kooperation mit anderen NGOs, damit sich im Umfeld der Gemeindezentren kleine Familienbetriebe entwickeln können.
Pereira leitet eine internationale Gruppe von SOS-Mitarbeitern, die nach dem Erdbeben nach Haiti gekommen sind, um langfristige Aufbauprojekte anzuschieben und den SOS-Kinderdörfern dabei zu helfen, wieder zu einem geordneten Betrieb zurück zu kehren. Denn im Kinderdorf Santo ist nichts mehr, wie es vorher war, auch wenn die Gebäude unversehrt geblieben sind. In den Wochen nach dem Beben haben zeitweise bis zu 360 unbegleitete, elternlose und hilfsbedürftige Kinder im Kinderdorf Schutz und Betreuung gefunden, jetzt sind es noch 270, einige konnten wieder mit ihren Familien vereint werden.
Das Kinderdorf ist noch immer überfüllt, in den Familienhäusern kümmern sich SOS-Mütter um bis zu 20 Kinder, üblich sind zehn. Der Kindergarten versorgt 286 statt 125 Kinder und in der Hermann-Gmeiner-Schule unterrichten die Lehrer mehr als 900 statt 700 Kinder, zum Teil in Zelten, die Schule wird gerade erweitert. Um die Lage zu entspannen soll ein neues SOS-Kinderdorf entstehen, in der Hafenstadt Les Cayes im Süden des Landes, der Baustart ist für 2011 geplant. Nach Santo und Cap Haitien im Norden wird es das dritte in Haiti sein.
Wiederaufbau mit Verzögerungen
Neben dem großen Fußballfeld bauen Francisco Erick und sein Team gerade die letzten Übergangshäuser auf. Es sind Kunststoff-Fertighäuser, die den nach dem Erdbeben gekommenen Kindern ein vorübergehendes Zuhause bieten sollen. Die ersten Häuser haben sie schon im März aufgebaut, sie sind schon bewohnt, doch die zweite Materiallieferung blieb im Hafen stecken und wurde erst im September geliefert – acht Monate nach dem Beben. „Das Problem war der Zoll, die wollten Geld machen“, sagt Erick. Mittlerweile stehen alle 62 Kunststoff-Fertighäuser und um die 150 Kinder können aus den überfüllten Familienhäusern in die Übergangshäuser ziehen.
Andere Hilfsorganisationen berichten von ähnlichen Fällen. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit zum Beispiel, die westlich der Hauptstadt in Léogâne 1400 erdbebensichere Übergangsbehausungen baut, hat große Probleme Material zu importieren. „Die Behörden legen uns viele Steine in den Weg“, sagt Mitarbeiter Thomas Roettchen. „Die Lagergebühren im Hafen sind sehr hoch und wir bekommen unsere Container nur mit Mühe und Not frei, da wollen viele Leute mitverdienen.“ Ähnliche Probleme habe auch die Johanniter-Unfall-Hilfe, die in Léogâne mit hochmodernen Maschinen Prothesen für Erdbebenopfer fertigt. Im Ranking der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International lag Haiti 2009 auf Platz 168, weltweit waren nur ein Dutzend Staaten korrupter.
„Die Bürokratie erschwert vieles, das dem Land helfen könnte“, sagt SOS-Nationaldirektor Pereira. Etwa beim geplanten Bau der öffentlichen Schulen, die nach sieben Jahren vom haitianischen Staat übernommen und weitergeführt werden sollen. Seit Monaten fehlt die Zusage vom haitianischen Bildungsministerium, für das die Kooperation mit einer nicht-staatlichen Organisation in diesem Bereich zudem ein Präzedenzfall ist.
Doch auch hier kommt langsam Bewegung in die Planungen. Die erste Schule wird nun auf dem Gelände des SOS-Kinderdorfs in Santo erbaut. Die Container werden vermutlich im Frühjahr aus Deutschland geliefert. Und dann hoffentlich rasch aufgestellt.