Der Boykott – noch einmal

Irgendwie hat jeder von uns solch ein Bett, in das wir alles Neue legen. Mit einer neuartigen Situation konfrontiert, neigen wir dazu, sie Situationen anzugleichen, die uns aus der Vergangenheit bekannt sind.

In der Politik ist diese Methode besonders beliebt. Sie nimmt uns die lästige Notwendigkeit ab, eine unbekannte Situation zu studieren und neue Schlussfolgerungen zu ziehen.

Einmal wurde das Verhaltensmuster im Vietnamkrieg an jeden Kampf in der Welt angelegt – von Argentinien bis Nordkorea. Heute ist es Südafrika. Alles ähnelt dem Kampf gegen die Apartheid, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Seit dem Abschicken des letzten Wochenartikels „Tutus Gebet“ bin ich mit Antworten überflutet worden, einige lobend, einige beleidigend, einige nachdenklich, einige bloß wütend.

Gewöhnlich führe ich keine Streitgespräche mit meinen geschätzten Lesern. Ich will ihnen nicht meine Ansichten aufdrängen; ich möchte sie nur dazu anregen, nachzudenken und überlasse es dem Leser, sich seine eigene Meinung zu bilden.

Dieses Mal habe ich das Gefühl, dass ich meinen Lesern die Klärung einiger Punkte schuldig bin, die ich zu machen versuchte, und auf einige der Einwände eingehen.

Ich will nicht mit Leuten streiten, die Israel hassen. Das ist ihr volles Recht. Ich denke, wir haben für eine Diskussion keine gemeinsame Grundlage.

Ich möchte nur auf einen Punkt hinweisen, dass Hass ein schlechter Berater ist. Hass führt nirgendwo hin, sondern nur zu noch mehr Hass. Dies ist übrigens eine positive Lektion, die wir aus der südafrikanischen Erfahrung lernen können. Dort haben sie den Hass weitgehend überwunden – dank der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, die von Erzbischof Tutu geleitet wurde und bei der die Leute ihre begangenen Straftaten zugaben.

Eines ist sicher: Hass führt nicht zu Frieden. Lassen sie mich ganz deutlich werden, weil ich das Gefühl habe, dass einige Leute in ihrem gerechten Zorn über Israels Besatzung dies aus dem Blick verloren haben.

Frieden wird zwischen Feinden geschlossen, und zwar nach einem Krieg, in dem unweigerlich schreckliche Dinge geschehen. Ein anhaltender Frieden kann zwischen Völkern geschlossen werden, die bereit sind, mit einander zu leben, einander zu achten und die Menschlichkeit des anderen anzuerkennen. Sie brauchen einander nicht zu lieben.

Die Bezeichnung der anderen Seite als Monster, kann dazu beitragen, Krieg zu führen, es hilft aber keineswegs zum Frieden.

Wenn ich ein Schreiben erhalte, das gegen Israel vor Hass trieft und das alle Israelis (einschließlich meiner Person natürlich) als Monster darstellt, kann ich mir nicht vorstellen, wie sich der Schreiber Frieden vorstellt. Frieden mit Monstern? Engel und Monster, die Seite an Seite in Frieden und Harmonie in einem Staat leben, doch einander auf den Tod nicht ausstehen können?

Die Beschreibung Israels als eine monolithische Entität von Rassisten und brutalen Unterdrückern ist eine Karikatur. Israel hat eine sehr komplexe Gesellschaft, die mit sich selbst kämpft. Die Kräfte des Guten und des Bösen und viele dazwischen stehen an verschiedenen Fronten in einem täglichen Kampf. Die Siedler und ihre Unterstützer sind stark und werden vielleicht noch stärker (was ich bezweifle), sind aber von einem entscheidenden Sieg weit entfernt. Neve Gordon ist z.B. unbelästigt in seinem Büro der Ben-Gurion-Universität geblieben, weil jeder Versuch, ihn hinauszuwerfen, zu einem öffentlichen Aufschrei geführt hätte.

Ich möchte mich auch nicht mit denen streiten, die den Staat Israel beseitigen wollen. Es ist genau so ihr Recht, dies zu hoffen, wie es mein Recht wäre – sagen wir mal – die USA oder Frankreich zu demontieren, die keine unbescholtene Vergangenheit haben.

Während ich einige der mir zugesandten Botschaften las, versuchte ich, ihren Inhalt zu analysieren, und hatte dabei das Gefühl, dass es gar nicht so sehr um den Boykott Israels geht, sondern um die pure Existenz Israels. Einige der Schreiber glauben offensichtlich, dass die Schaffung des Staates Israels ein schrecklicher Fehler war und deshalb rückgängig gemacht werden sollte. Die Räder der Geschichte sollten also um 62 Jahre zurückgedreht und es sollte neu angefangen werden.

Was mich wirklich gestört hat, ist, dass fast niemand im Westen kommt und klar sagt: Israel muss abgeschafft werden. Einige der Vorschläge, wie derjenige einer Ein-Staat-Lösung klingt wie ein Euphemismus. Wenn man glaubt, dass der Staat Israel abgeschafft werden und durch einen Staat Palästina oder einen Staat der Glückseligkeit ersetzt werden sollte – warum sagt man dies dann nicht offen?

Natürlich bedeutet dies nicht Frieden. Frieden zwischen Israel und Palästina setzt ein Israel voraus. Frieden zwischen dem israelischen Volk und dem palästinensischen Volk setzt voraus, dass beide Völker ein Recht auf Selbstbestimmung haben und mit Frieden einverstanden sind. Glaubt denn jemand wirklich, dass rassistische Monster wie wir damit einverstanden sind, unsern Staat wegen eines Boykotts aufzugeben?

Franzosen und Deutsche wollen nicht gemeinsam in einem gemeinsamen Staat leben, obwohl ihre Differenzen unvergleichlich kleiner sind als zwischen jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern. Stattdessen haben sie die EU aufgebaut, die aus Nationalstaaten zusammengesetzt ist. Vor etwa 50 Jahren rief ich zu einer „Semitischen Union“ auf, die Israel und Palästina einschließt. Ich tu es noch immer.

Auf jeden Fall hat es keinen Sinn, mit jenen zu streiten, die um das Verschwinden des souveränen Staates Israel beten, aber für das Erscheinen eines souveränen Staates Palästina an seiner Stelle.

Das wirkliche Streitgespräch kann zwischen denen stattfinden, die Frieden zwischen den beiden Staaten, zwischen Israel und Palästina, sehen wollen. Die Frage lautet: wie kann das erreicht werden? Dies ist eine ehrliche Debatte und wird auf höfliche Weise geführt. Meine Debatte mit Neve Gordon geschieht in diesem Rahmen.

Die Befürworter des Boykotts glauben, dass es tatsächlich nur einen Weg gibt, Israel zu bewegen, die besetzten Gebiete aufzugeben und einem Frieden zuzustimmen: durch Druck von außen.

Ich habe kein Problem mit der Idee des Druckes von außen. Die Frage ist: Druck auf wen?
Die Regierung, die Siedler und ihre Unterstützer? Oder auf das ganze israelische Volk?

Die erste Antwort – und davon bin ich überzeugt – ist die richtige. Ich hoffe, dass Präsident Barack Obama einen detaillierten Friedensplan mit einem festgesetzten Zeitplan veröffentlichen und die ungeheure Überzeugungskraft der USA benutzen wird, damit beide Seiten zustimmen. Ich denke nicht, dass dies ohne Unterstützung eines großen Teils der israelischen Gesellschaft politisch möglich ist (und übrigens auch der US-jüdischen Gemeinschaft).

Einige Leser haben alle Hoffnung auf Obama verloren. Das ist zweifellos verfrüht. Obama hat Binyamin Netanyahu noch nicht nachgegeben – in der Tat ist es sogar vorstellbar, dass das Gegenteil geschehen ist. Der Kampf geht weiter, es ist ein harter Kampf gegen eine entschlossene Opposition, und wir sollten alles tun, damit sich Obamas Friedenspolitik durchsetzt. Wir müssen dies als Israelis innerhalb Israels tun, um zu zeigen, dass dies nicht ein Kampf der USA gegen Israel ist, sondern ein gemeinsamer Kampf gegen die israelische Regierung und gegen die Siedler.

Daraus folgt, dass jeder Boykott diesem Zweck dienen muss: die Siedler, die Individuen und Institutionen, die sie offen unterstützen, zu isolieren, aber keinen Krieg gegen Israel und das israelische Volk als solches erklären. In den elf Jahren, seitdem Gush Shalom einen Boykott gegen die Produkte der Siedlungen erklärt hat, gewinnt der Prozess an Schwung. Wir müssen die norwegische Entscheidung dieser Woche loben, sich von ihren Investments in der israelischen Elbit-Gesellschaft zu trennen wegen ihrer Beteiligung am Bau des Trennungszauns auf palästinensischem Land, dessen Hauptziel es ist, besetztes Land zu annektieren. Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel: eine vereinigte Aktion gegen ein spezielles Ziel, das sich auf eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes stützt.

Ich denke, dass weit mehr durch konzentrierte nationale und internationale Kampagnen getan werden könnte. Eine zentrale Stelle sollte gebildet werden, um diese Bemühungen in aller Welt gegen klare und spezielle Ziele zu dirigieren. Solch eine Bemühung könnte von der Weltöffentlichkeit unterstützt werden, die von der Idee, Israel zu boykottieren, abgestoßen ist – nicht nur durch Erinnerungen an den Holocaust – sondern sich mit einer Aktion gegen die Besatzung und Unterdrückung identifizieren wird.

Ich bin gefragt worden, wie Palästinenser über die Boykottidee denken. Im Augenblick boykottieren die Palästinenser nicht einmal die Siedlungen; denn in der Tat sind es palästinensische Arbeiter, die dort fast alle Häuser bauen – allein aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Ihre Gefühle dabei kann man nur erraten. Alle anständigen Palästinenser würden natürlich jede Maßnahme unterstützen, die gegen die Besatzung gerichtet ist. Aber es würde nicht gerade ehrlich sein, vor ihren Augen falsche Hoffnungen eines weltweiten Boykotts zu wecken, dass dieser Israel auf die Knie zwingt. Die Wahrheit ist, dass nur die enge Zusammenarbeit von Palästinensern, Israelis und internationalen Friedensgruppen den nötigen Schwung liefern kann, um die Besatzung zu beenden und Frieden zu erreichen.

Dies ist besonders wichtig, weil unsere Aufgabe hier und heute in Israel nicht so sehr ist, die Mehrheit der Israelis davon zu überzeugen, dass Frieden gut sei und der Preis dafür akzeptabel, sondern dass Frieden überhaupt möglich ist. Die meisten Israelis haben jene Hoffnung verloren, und ihre Wiederbelebung ist ein absolutes Muss auf dem Weg zum Frieden.

Um Verkennungen über mich selbst zu beseitigen, lassen Sie mich dies so klar wie möglich darlegen, wo ich stehe:

Ich bin ein Israeli.
Ich bin ein israelischer Patriot.
Ich wünsche mir, dass mein Staat demokratisch, säkular und liberal ist, dass er die Besatzung beendet und mit einem freien und souveränen Staat Palästina, der neben ihm entsteht, in Frieden lebt und auch mit der ganzen arabischen Welt.

Ich wünsche mir, dass Israel ein Staat für alle seine Bürger ist ohne Unterschiede ethnischer Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Sprache mit vollkommen gleichen Rechten für alle, ein Staat, in dem die hebräisch sprechende Mehrheit enge Verbindungen mit den jüdischen Gemeinden in aller Welt hält und die arabisch sprechenden Bürger die Freiheit haben, ihre engen Verbindungen mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern und der arabischen Welt im Ganzen zu pflegen.

Wenn dies Rassismus, Zionismus oder als etwas noch Schlimmeres ist – dann kann ich es nicht ändern.

* * *

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert autorisiert. Der am 05.09.2009 erstellte Beitrag wurde zuerst unter www.uri-avnery.de veröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

Vorheriger ArtikelMit dem Kunstmarkt – Serie: Kunstmuseum Wolfsburg feierte den 15. Geburtstag mit der Sammlungsausstellung „Gegen den Strich“ (Teil 1/2)
Nächster ArtikelTechnik, die mitdenkt – Jeder Tag ist interessant auf der IFA