Diese Zeilen sind nur ein Vorgeschmack. Jens Bjí¸rneboe, 1920 als Sohn eines Schiffsreeders in Norwegen geboren, veröffentlichte seinen vorliegenden Roman 1952 in seiner Heimat, 1969 erschien er erstmals auf Deutsch. Jens Bjí¸rneboe verknüpft die Schicksale weniger Protagonisten miteinander und führt auf einigen erzählerischen Umwegen, zu denen der gelähmte Max zählt, in die nicht zu begreifende Biografie eines Mediziners, der als KZ-Arzt Experimente am lebenden Menschen durchgeführt hatte. Der Autor verarbeitete seine eigenen, intensiven Recherchen über die Nürnberger Ärzteprozesse und schilderte mit Rückblenden das Leben eines Unauffälligen, Behüteten. Freund, Ehemann und Vater, gebildet, sensibel und musikalisch, so wird Heinrich Reynhardt (nach dem Lagerarzt in Dachau, Sigmund Rascher) vorgestellt.
Die titelgebende Schlüsselszene des Romans erzählt von einer Nacht, in der zwei Freunde innehalten, ein Arzt und ein Offizier, beide verwickelt in die menschenvernichtende Maschinerie des Dritten Reiches. Sie reden, sie streiten und sie könnten sich anders entscheiden”¦ Wann beginnt der Zweifel? Wann beginnt das innere Blindsein, das mechanische Funktionieren? Denkt man an jüngere Experimente, zum Beispiel eine französische Game-Show, bei der Kandidaten andere Mitspieler mit Stromstößen „bestrafen“ durften, wenn sie falsche Antworten gaben, spätestens dann wird die Aktualität des Buches Bjí¸rneboes klar. Die Stromstöße wurden übrigens nur vorgetäuscht und die betroffenen Kandidaten waren Schauspieler, dennoch erschüttert die Bereitwilligkeit der Mitspieler, Menschen zu quälen und verletzen”¦
Jens Bjí¸rneboe focht einen lebenslangen Kampf gegen Ungerechtigkeit, Verblendung – und seine ganz eigenen Dämonen. Er verstand sich als Anthroposoph und Anarchist und setzte 1976 seinem Leben selbst ein Ende. Dem Merlin-Verlag ist die Entscheidung zur Neuauflage dieses bewegenden Buches zu verdanken, das dem Autor eine neue Generation von Lesern bescheren wird. In Norwegen gehört der Roman längst zum Kanon der Schullektüre, es wird an der Zeit, auch im deutschsprachigen Raum diesen faszinierenden und aufregenden Autor zu entdecken und zu würdigen!
Zur Andeutung der Kraft seiner Bilder soll ein weiteres Zitat dienen: „Regnet es auf Ruinen mehr als auf andere Landschaften? Ich weiß es nicht, aber ich glaube es. Oder vielleicht liegt es auch daran, dass sich dieses Bild besser einprägt als andere Bilder: nasse, klitschnasse und regenblanke Ruinenfelder, bedeckt von zäher Asche. Das Traurigste auf der Welt ist eine nasse Wüste. Und die Überreste der bombardierten Großstadt bilden unsere Wüste.“
Fazit: Lesen, verschenken, empfehlen – in den Schullehrstoff aufnehmen, verfilmen!
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Jens Bjí¸rneboe: Ehe der Hahn kräht, Deutsch von Ursula Gunsilius, 207 S., Roman, Merlin-Verlag, Vastorf, Februar 2011, 19,50 €