Angefangen hatte es an vielen Orten in Deutschland, bekannt wurden die Künstlerzusammenschlüsse wie „Der blaue Reiter“ in München – Kandinsky, Jawlensky, Marc, später Klee – und „Die Brücke“ – Kirchner, Schmidt-Rottluff, Zigeuner-Müller, Heckel, Pechstein – und alle hatten dieselbe künstlerische Absicht: nicht die Natur nachzuahmen, das konnte inzwischen die Fotografie viel besser, sondern die Gefühle des Malers oder des gemalten Objekts – expressio bedeutet Ausdruck – in der Darstellungsweise von Form und Farbe wiederzugeben. Die Häuser standen in der Luft, die Berge rutschten unter den Horizont und der Mensch wurde mal zum Strich, mal aufgeblasen. Die Nasen wurden blau, die Augen lila, die Haare grün, zum Beispiel. Insgesamt sind das starke Wirkungen, die keinen Betrachter dieser Kunstrichtung kalt lassen und damals zu kleinen und größeren Skandalen führten.
Dies nun zum übergreifenden Thema für Frankfurt RheinMain zu machen, ist deshalb so richtig, weil sich in dieser Region viele dieser Künstler tummelten oder wie Ernst Ludwig Kirchner hier geboren wurden, er am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg. Daß das Städel derzeit zu seinem 130sten Geburtstag dessen größte Retrospektive zeigt, ist das herausragende Ereignis, das sicher viele auswärtigen Besucher anzieht. Die Ausstellung lohnt es auch, selbst wenn das Bild, das wie kein anderes seinen Namen und die Bezeichnung Expressionismus in die Welt trägt, in Berlin geblieben ist: der Potsdamer Platz von 1914. Das ist nämlich Eröffnungsbild der Ausstellung der eigenen Sammlung in der Nationalgalerie und zeigt im Riesenformat die mondäne, durchaus halbseidene Großstadtwelt auf einen Blick, die Kirchner meisterhaft und oft auf die Leinwand bannte.
Nach Berlin ist Frankfurt das Museum mit den meisten Kirchnerwerken – Originalton Kirchner: „Ich staune über die Kraft meiner Bilder im Städel“ -, noch dazu aus allen Epochen und vor allem der Heimat. Frankfurt hatte 1919 als erstes Museum einen Kirchner angekauft. Jetzt zur Retrospektive des radikalen Erneuerers, der für sich die Zuordnung expressionistisch ebenso radikal ablehnte, denn er fühlte sich einzig, sind 170 wichtige Werke ins Städel gekommen, von denen manche ein Wiedersehen feiern, wie das gewaltige Triptychon der badenden Frauen, dessen Teile aus dem Kirchner Museum Davos, der National Galerie Washington und einer privaten Sammlung endlich bis Juli vereint sind.
Daß Kirchners Werk so verstreut ist, wie das vieler Expressionisten, ist dem Haß der Nazis geschuldet, die diese Kunstrichtung aus den Museen beschlagnahmte, in ihrer Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München an den Pranger stellte, auch einige Werke verbrannte, aber insgeheim für gutes Geld über die Schweiz ins Ausland verkaufte. Kirchner selber, der früh aufgrund labiler gesundheitlicher, insbesondere seelischer Konstitution in den Schweizer Bergen gesunden wollte, glaubte lange nicht an die Zerstörungswut der Nationalsozialisten, wußte dann aber 1937, daß die Nazis 639 seiner Bilder beschlagnahmt hatten und mußte Davos als Exil begreifen. Am 15. Juni 1938 brachte er sich dort um. Er war zuvor im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger den Kriegsgreueln nicht gewachsen und erholte sich nach seinem Zusammenbrauch 1915 in einem Sanatorium in Königstein, wo er vom Königsteiner Bahnhof bis zum Frankfurter Westhafen regionale Gemälde schuf, die auch sein Interesse an Technik zeigen und sein Gespür für Unwirkliches. Kirchner ist ein Maler, der sich stark in Frühwerk, Meisterschaft und Spätwerk unterscheiden läßt, immer aber auf den ersten Blick als „Kirchner“ zu identifizieren ist, wobei er auch als Graphiker bedeutend ist.
Auftakt des Phänomen Expressionismus war eine Seiltanzinszenierung „Le Fils sous la Neige“ des Tigerpalastes, die poetisch und artifiziell im Bockenheimer Depot zeigte, daß „Expressionismus“ ein künstlerisches Grundgefühl ist, das Tanz wie Literatur wie Musik, Theater, Film und Architektur umschließt, wobei Tanz und Bühne sehr oft zum Thema der Darstellungen wurde, wie das Bild „Varieté“ von Kirchner, die getanzte Musik von Paul Hindemith aus Hanau, wie die Romane des Heinrich Mann. Das Architekturmuseum hatte bis Ende Januar „Martin Elsaesser und das Neue Frankfurt gezeigt“, im September folgen im Jüdischen Museum „Else Lasker-Schüler – Das bildkünstlerische Werk“ der geheimen Favoritin so vieler, im Museum Giersch „Expressionismus im Rhein-Main-Gebiet – Künstler, Händler, Sammler“. Ab Oktober dann im Stadtmuseum Hofheim „Scharfer Hieb und zartestes Schnitzen“ zu den Holzschnitten , auf der Mathildenhöhe in Darmstadt „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, im Museum Wiesbaden mit der großen Jawlenskysammlung „Das Geistige in der Kunst – der Blaue Reiter und die Folgen“, im Sinclair Haus in Bad Homburg „Christian Rohlfs – Musik der Farben“ und in der Alten Oper Frankfurt und dem Staatstheater Wiesbaden verschiedene musikalische und theatralische Projekte.
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Ausstellung: Kirchner im Städel bis 25. Juli 2010
Katalog: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive, Hatje Cantz 2010. Museumsleiter Max Hollein hat das Vorwort geschrieben und Kurator Felix Krämer schreibt den Zwiespalt so mancher auf, in „Im Widerspruch. Ernst Ludwig Kirchner“, und liefert damit eine an der Biographie orientierte Werkbeschreibung gleich mit. Es folgen die ganzseitigen Abbildungen im Tafelteil, die mit verbalen Einführungen unterteilt sind in die Werkphasen: Die frühen Jahre, Der Expressionismus in Dresden, der in Berlin, Krieg und Zusammenbruch sowie ’Bergwelten. Kirchners erste Jahre in Davos`. Thomas Röske zeichnet die Frankfurter Jahre von Kirchner nach und zwei weitere Essays beschäftigen sich mit den Paaren in Kirchners Bildwelt und den Arbeiten auf Papier.
Kunst zum Hören: Kirchner, Hatje Cantz 2010
Diese gute Idee, anhand einer CD zu hören und dabei die Bilder abgedruckt vor sich zu sehen, haben wir schon oft von der Wirkungsweise her besprochen. Deshalb hier nur das Spezifische zu Kirchner. Die CD lehnt sich an die Katalogeinteilung an, die sich wiederum an der Ausstellung orientiert. Das heißt, auch hier beginnt es mit „Kirchner im Blick“ und drei ausgewählten Werken: „Selbstbildnis mit Mädchen (Doppelbildnis mit Erna)“ von 1914/15, „Kopf des Kranken von 1918“ und „Vor Sonnenaufgang“ 1927“. Die frühen Jahre werden von drei Bildern repräsentiert, von 1905 bis 1909 und es ist ein nachvollziehbares Konzept, daß die Werkphasen je nach Bedeutung durch die Anzahl der besprochenen Gemälde berücksichtigt werden, d.h. daß dem Expressionismus in Dresden und Berlin die meisten Besprechungen zustehen. Nur dort findet sich neben den Gemälden auch die Skulptur „Traurige Frau“ von 1921 und „Sitzendes nacktes Mädchen“, als Pinsel in schwarzer Tusche auf Karton. Eine weitere Skulptur findet sich später in „Bergwelten“, nämlich „Mutter und Kind“ von 1924. Diesmal haben wir die Erfahrung gemacht, daß man die Texte sehr gut wiederholt hören kann, denn es ergeben sich Passagen, von denen man geschworen hätte, man kennte sie nicht, muß sie aber gehört, besser ’überhört` haben.
Der Verlag Hatje Cantz hat zudem ein vom Städel und der Ausstellung unabhängiges Buch „Ernst Ludwig Kirchner. Ein Künstlerleben in Selbstzeugnissen“ herausgebracht, das von Andreas Gabelmann verfaßt wurde und von Margarethe Hausstätter gestaltet wurde. Das Motto: „Ich muß zeichnen bis zur Raserei“ zeigt den überempfindlichen Künstler. In Briefen, Tagebuchnotizen und Schriften Kirchners zeigt dieser, wie er selbst wahrgenommen werden will. Die meisten Kunstkritiken haben ihn bis aufs Blut gereizt und er scheute sich nicht, eigene zu schreiben, natürlich unter anderem Namen. Das Buch ist eine hilfreiche Ergänzung zur gegenwärtigen Kirchner-Retrospektive, aber auch sonst gut für die eigene Bibliothek. Besonders anrührend die Schwarzweiß-Fotografien aus dem Atelier, also auch mit seinen Modellen, oder dem Haus und den Schweizer Bergen.
Internet: www.phaenomen-expressionismus.de, www.kulturfonds-frm.de, www.staedelmuseum.de