Susanne Wolff spielt die Titelrolle, nicht als Mann, sondern als Frau namens Clavigo, und, da es wie bei Goethe auch bei Stephan Kimmig heterosexuell zugeht, ist Clavigos verlassene Geliebte Marie ein Mann, der wie im Original Marie heißt. Vor allem Letzteres scheint für Aufregung gesorgt zu haben. Ein Sinn sei nicht erkennbar in dieser Umkehrung der Geschlechter bei gleichzeitiger Namensbeibehaltung wurde mehrfach gerügt, und diese Eigenmächtigkeit mit dem Reizwort Gender in Verbindung gebracht.
Bei Benennungen scheint der Spaß für sehr viele aufzuhören. Als 2013 die Universität Leipzig beschloss, die dort lehrenden Frauen und Männer allesamt als Professorinnen zu bezeichnen, brach ein Sturm der Entrüstung in ganz Deutschland los. Die Horrormeldung, jeder Professor müsse als Frau Professorin angeredet werden, verbreitete sich in Windeseile. Und nun steht in Goethes Trauerspiel ein Mann auf der Bühne und heißt Marie.
„Nam` ist Schall und Rauch“ ist im „Faust“ zu lesen, und auch „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“. Aber hätte es Goethe gefallen, als Dichterin bezeichnet zu werden? Immerhin hat er Frauengestalten geschaffen, in die er auch sein eigenes Erleben und seine eigenen Gefühle eingebracht hat, und das Spiel mit den Geschlechterrollen war ihm durchaus nicht suspekt.
ZuschauerInnen die, alarmiert durch den Mann mit dem Frauennamen, gespannt darauf warten, dass ihre schlimmsten Befürchtungen Wahrheit werden, müssen am Ende enttäuscht sein. Entwarnung an alle Allergiker: Stephan Kimmigs „Clavigo“- Inszenierung enthält keine Spuren von Judith Butler.
Es gibt viel zu sehen und zu hören, wobei die in den Kritiken erwähnte Langeweile eigentlich nicht aufkommen kann, zumal die schauspielerischen Leistungen gemeinhin als gut bewertet wurden. Nach Lektüre der Verrisse bereitete ich mich darauf vor, bei „Clavigo“, vom DT als nicht von, sondern nach Johann Wolfgang von Goethe angekündigt, unterhaltsame, amüsante zwei Stunden zu verbringen.
Meine Erwartungen erfüllten sich nicht. Zwar hat Stephan Kimmig das 1774 entstandene Stück in unsere Gegenwart geholt und die Handlung in der glitzernden Scheinwelt des Showgeschäfts angesiedelt, aber ein oberflächlicher Spaß ist das nicht. Es geht um verratene Liebe, um Einsamkeit und Tod.
Goethe verfasste das Trauerspiel innerhalb von acht Tagen. Den Stoff hatte er in den Memoiren von Beaumarchais gefunden, dessen Schwester trotz Heiratsversprechens von dem Höfling Clavijo verlassen worden war. Goethe schrieb bei Beaumarchais einiges ab, ließ in seinem Stück Schwester und Bruder unter ihrem wahren Namen auftreten, änderte den Namen des Höflings nur unwesentlich und ließ das getrennte Liebespaar am Ende sterben. Beaumarchais besuchte eine Aufführung des Stücks und war gar nicht angetan von dem, was ihm und seiner Schwester auf der Bühne geschah.
Der von Stephan Kimmig vorgenommene Geschlechtertausch verhindert die Klischees, die sich aufdrängen bei der Geschichte vom sitzengelassenen Mädchen, das an Liebeskummer und Tuberkulose dahinsiecht, während der entflohene Liebhaber sich in Reue und Selbstmitleid suhlt.
Susanne Wolffs Clavigo ist eine ehrgeizige Künstlerin auf dem Weg zum Ruhm. Sie ist eine leidenschaftliche Frau, die geglaubt hatte, dass ihre Liebe zu Marie, die auch Clavigos Kreativität beflügelte und somit ihrer Karriere förderlich war, niemals enden würde. Diese Clavigo quält sich weniger mit der Reue über ihr gebrochenes Treueversprechen, vielmehr versucht sie vergeblich zu begreifen, weshalb ihre Gefühle sich, ohne dass sie es gewollt hätte, so gänzlich verändert haben.
Als Maries Schwester Beaumarchais (bei Goethe der Bruder) Clavigo unter Druck setzt, versucht diese nicht, ihre Haut zu retten, sondern nimmt dies zum Anlass, ihre Liebe erneut zu entdecken. Susanne Wolff gestaltet diesen Sinneswandel ganz aufrichtig, macht verständlich, wie sehr Clavigo sich danach gesehnt hat, das Glück mit Marie wieder zu finden.
Goethe, der in Clavigo sein Alter Ego gesehen und in dessen Handeln auch sein eigenes Verhalten gegenüber Friederike Brion dargestellt hat, wäre wohl erfreut gewesen. Susanne Wolffs Clavigo ist keine Betrügerin, die falsche Versprechungen macht. Sie ist nicht Herrin ihrer Gefühle, und so endet auch der zweite rauschhaft begonnene Versuch, der Liebesgeschichte mit Marie Dauer zu verleihen, mit Clavigos Rückzug.
Diese Erfahrung stürzt Clavigo in eine Identitätskrise. In einem englisch gesprochenen Text zählt Susanne Wolff die zahlreichen, unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Charaktere auf, die Clavigo verkörpert. Sie präsentiert sich in ständig neuen Kostümen und überall auf der Bühne erscheinen unentwegt Bilder von Clavigo, oft zusammen mit Marie. Auch der ist ein Popstar, aber kein so strahlender wie Clavigo.
Marcel Kohler, in enger schwarzer Lederhose und mit tätowierten Armen, ist ein melancholischer, introvertierter Künstler, der sein Leiden zelebriert. Seinen Selbstmord inszeniert Marie vor laufender Kamera. Auf einem Video erscheint Kohler kostümiert und frisiert wie der junge Goethe, und Maries Liebestragödie verweist auch auf „Die Leiden des jungen Werthers“, die Goethe kurz nach seinem „Clavigo“ vollendete.
Maries Schwester Sophie und ihr Mann sind gestrichen. Dafür ist die Figur des Buenco, der hier ein weiblicher Fan von Marie ist, angereichert durch Texte aus Goethes Briefen, in denen die Möglichkeit dauerhafter Liebesbeziehungen angesprochen wird. Franziska Machens als Buenco kämpft ganz uneigennützig um Maries Glück und Leben, auch wenn ihr anzumerken ist, wie sehr es sie schmerzt, dass Marie ihre hingebungsvolle Liebe nicht erwidern kann.
Kathleen Morgeneyer als Beaumarchais überfällt Clavigo mit einem Kamerateam. Angeblich vertritt die energische Beaumarchais die Interessen ihres betrogenen Bruders Marie. Vor allem scheint sie aber ihren großen Auftritt zu genießen und vielleicht hofft sie durch die Konfrontation mit dem Popstar, von Clavigos Ruhm zu profitieren.
In zwei kurzen Zwischenspielen erscheint Kathleen Morgeneyer in weiteren Rollen: Als Titelheld in „Hanswursts Hochzeit oder Der Lauf der Welt“ tanzt sie im Würstchenrock und serviert den zotigen Text mit brillanter Nonchalance. Goethe schrieb sein unvollendetes „Mikrokosmisches Drama“ etwa zeitgleich mit „Clavigo“. Hanswurst ist ein ungebildeter Bursche, der sich um Geist und Seele nicht schert und ausschließlich leiblichen Genüssen zugetan ist.
Als Bäuerin aus dem Erzgebirge zitiert Kathleen Morgeneyer aus der Rede, die Jean Ziegler 2011 bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele halten sollte, dann aber doch nicht halten durfte. Morgeneyer präsentiert sich dabei mit der Naivität, die dem Globalisierungskritiker gern vorgeworfen wird und verleiht so seinen Aussagen Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Diese kleine Szene hat auch einen Verfremdungseffekt. Die Definition von Kunst als Waffe gegen den Hunger in der Welt schafft eine Atempause in diesem Stück, in dem alle Beteiligten auf ihr ganz persönliches Glück und Unglück konzentriert sind.
Mit Liebesqualen hat auch Clavigos Freund und Berater Carlos nichts im Sinn. Moritz Grove gestaltet ihn als trockenen, menschenverachtenden Karrieristen, der Gefühle nur als Kick für die künstlerische Arbeit gelten lässt. Trotz ehrlicher Freundschaft ist dieser rationale Carlos ein schlechter Ratgeber für die leidenschaftliche Clavigo.
Stephan Kimmig und Dramaturgin Sonja Anders haben Texte von Goethe und von zeitgenössischen Autoren äußerst geschickt und bruchlos zusammengefügt. Die stringente Regie von Stephan Kimmig verhindert das Auseinanderfallen des Stücks, das aus einer Fülle von unterschiedlichen Details besteht. Es ist eine Hommage an den jungen Goethe, und es ist eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit den Mustern von Liebesbeziehungen, mit denen sich heute wie zu Goethes Zeiten Betroffene herumschlagen. Es ist auch ein optischer Genuss mit den berauschenden Kostümen von Johanna Pfau, der Bilderflut mit den Videos von Julian Krubasik und Lambert Strehlke und dem dekorativen Heißluftballon, den Bühnenbildnerin Eva-Maria Bauer im Hintergrund platziert hat.
1783 stieg der von den Brüdern Montgolfiere erfundene Heißluftballon erstmals in den Himmel, und Goethe bedauerte es sehr, diese Erfindung nicht selbst gemacht zu haben. Das Modell, das er nach seinen Angaben anfertigen ließ, erwies sich als nicht recht funktionstüchtig, und trotz aller Faszination ist Goethe niemals mit einem Ballon gefahren. Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn der Ballon in Kimmigs Inszenierung, der auch als Vorhang genutzt wird, am Ende zwar abfahrbereit dasteht aber dennoch am Boden bleibt.
Die Musik von Pollyester fängt das Flair von Glamour und Düsternis auf faszinierende Weise ein, und den SchauspielerInnen gelingt es hervorragend, Goethes Zeit in der unseren lebendig werden zu lassen.
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„Clavigo“ nach Johann Wolfgang von Goethe, eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, hatte am 13. November 2015 Berlin-Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 18.12.2015 sowie 06. und 21.01.2016.