St. Moritz, Schweiz (Weltexpress). Als ich, damals London-Korrespondent der NZZ, Nigel Kennedy zum ersten Mal begegnete, interpretierte der in betont schlampiger Kleidung und mit ausgeflippten Haarstil auftretende Violinist noch Brahms, Beethoven und die Vier Jahreszeiten. Kennedy, 1956 in dem für seine Alternativkultur berühmt-berüchtigten Badeort Brighton 1956 geboren, galt damals nicht nur als Ausnahmetalent. Kennedy wurde damals nicht nur durch seine Virtuosität, sondern vor allem auch durch seine schockierende Aufmachung und seine saloppen Auftritte zum Publikumsschock in Englands traditionsreichen Konzertsälen.
Sein Igel-Haarstil wurde zu seinem einzigartigen Wahrzeichen, auf allen CD-Covers. Kennedys Charisma war unwiderstehlich – auch für mich, der umgehend seine hervorragenden CDs erwarb. Damit lag ich voll im Trend: Seine CDs sind die meistverkauften Violin-Einspielungen aller Zeiten; insbesondere mit Vivaldis Vier Jahreszeiten erzielte er astronomische Verkaufsrekorde. Kennedy, der zwischendurch auch als Strassenmusiker in New York in der schmuddeligen Jacke eines Obdachlosen auftrat, galt inzwischen als hochkarätiges Jahrhundert-Talent – mit entsprechenden Honoraren und Tantiemen für seine CD-Einspielungen.
Jetzt traf ich Nigel wieder – am renommierten Festival da Jazz St.Moritz, dem „höchstgelegenen“ (1822 Meter über Meer) Jazzfestival, das seit elf Jahren in einem der elegantesten Kurorte der Welt, inmitten der atemberaubend schönen Berglandschaft des Oberengadins abgehalten wird. Kennedy hat inzwischen seine Laufbahn als Interpret klassischer Werke für Violine an den Nagel gehängt. Er tritt als Leader seiner fünfköpfigen Combo auf – alle Musiker in den feuerroten Fan-T-Shirts des wohlhabenden Nordlonder Fussballclubs „Arsenal“. Die Sache macht Kennedy sichtlich Spass; er sprüht nur so von englischem Humor und augenzwinkerndem, kindlich anmutendem Charme. Der Schalk hatte ihn letztes Jahr dazu getrieben, seinen Jazz-Auftritt im Swimming-Pool des St. Moritzer Hotels „Bären“ stattfinden zu lassen. Noch heute schwärmen die Kennedy-Fans von jener feuchtfröhlichen Super-Party. Dresscode: Man habe als Publikum in Badekleidung erscheinen müssen, Gummi-Schwimmtiere jeglichen Formats waren erlaubt, Bademäntel wurden kostenlos abgegeben. Der Schauplatz des diesjährigen Konzertes war dann doch konventioneller – was allerdings etwas auf die Stimmung zumindest im Publikum drückte: Der große Konzert- und Theatersaal des gigantischen, weltberühmten „Badrutt Palace“, des ersten Hauses am Platz, frequentiert von saudischen Scheichs, amerikanischen Milliardären und russischen Oligarchen.
Kennedy kann und will seine Herkunft als klassischer Musiker nicht verleugnen: Er eröffnet sein Konzert mit der brillant interpretierten Fuge in G-Moll von Johann Sebastian Bach (BWV 578) – als Hommage gewissermaßen an seine frühe Phase als klassischer Interpret. Dass Kennedy zu Beginn seiner Jazz-Konzerte Bach intoniert, ist ein Ritual, das er nie auslässt. Und es klingt wahrhaft himmlisch: Jede Note tönt rein und warm, nach altem Holz und Pferdehaar
Kennedy – den die englische Presse immer noch als „classical music’s bad boy“ apostrophiert, der zwisennchendurch ganz gerne eins über den Durst trinkt und auch dem Genuss von Cannabis nicht abhold ist – erweist nicht nur Bach, sondern auch seinem Mentor Yehudi Menuhin die gebührenden Ehren: Der legendäre Violinist hatte einst Kennedy entdeckt und unter seine Fittiche genommen, hatte ihm eine erstklassige Ausbildung und während dieser seinen Lebensunterhalt finanziert. Menuhin war es auch, der schon früh das Interesse Kennedys am Jazz bejahte und ihn ermutigte, Jazz zu machen. Im Alter von sieben Jahren absolvierte er die Yehudi-Menuhin-Schule im südenglischen Surrey; mit 16 Jahren wechselte er an die Juilliard School of Music in New York.
Dort trat hatte er sein Jazz-Debut, als er mit Stéphane Grappelli – der mit Yehudi Menuhin eng befreundet war – auftrat. Sein Jazz-Auftritt trug ihm Stirnrunzeln bei sämtlichen klassischen Interpreten ein – und bewirkte den sofortigen Verlust seines bis dahin so erfolgreichen Vertrags mit Sony Music. Doch dies entmutigte ihn nicht – ganz im Gegenteil. Es war der Anfang eines Wechsels von der Klassik zum Jazz.
Und als unvergleichlicher Jazz-Star trat er denn auf mit seinen Kollegen, alle erstklassige Musiker, die man jedoch von ihrer Erscheinung und Aufmachung her ebenfalls eher in einem schummrigen englischen Pub vermuten würde als hier, in einem der teuersten und berühmtesten Hotels der Welt. In der Eigenkomposition „Der Zauberer von Lublin“ erweist Kennedy dem von ihm bewunderten Autor Isaac Bashevis Singer die gebührende Ehre – und erinnert an seinen großen Mentor Yehudi Menuhin. Und in einfühlsam interpretierten Stücken wie „The Can’t Take That Away from Me“, „Lady be Good” und Auszügen aus Porgy and Bess erinnert er an George Gershwin – und an seine New Yorker Studienjahre, seine ersten Jazz-Auftritte und seine Erfahrungen als Strassenmusiker.
Großartige Kubaner
Am nächsten Tag war unweit davon, im legendären „Club Dracula“ das kubanische Paquito d‘Rivera Septet zu hören – sieben großartige Musiker aus der Karibik. Und auch hier vollzog sich die Metamorphose von Klassik zu Jazz, als der Bandleader Paquito auf seiner Klarinette eine Hommage an einen unsterblichen klassischen Komponisten bot – nicht, wie am Vorabend, Nigel Kennedy an Bach, sondern an Mozart, den Paquito als den größten Komponisten aller Zeiten bezeichnete. Mozarts Klarinettenkonzert sei das berühmteste Werk für Klarinette, das je geschaffen worden sei – Paquito witzelte, dass Mozart nicht, wie alle meinen, in Salzburg sondern in New Orleans geboren worden sei und belegte dies mit einem aus dem Mozart’schen Klarinettenkonzert entwickelten Blues – durchaus überzeugend, virtuos und jedenfalls sehr humorvoll.
Der in Havanna geborene Paquito hat mittlerweile nicht weniger als 14 Grammy-Awards erworben – ein Jazz-Musiker der Weltklasse, der mehr als 30 Solo-Alben aufgenommen hat. Er erwarb den Carnegie-Preis für sein Lebenswerk in der lateinamerikanischen Musik. Er trat auch als Komponist in Erscheinung; seine Werke widerspiegeln eklektisch Interessen von afro-karibischer Musik bis hin zur Klassik. Paquito ist nicht nur ein großer Jazz-Musiker auf Saxophon und Klarinette, sondern auch ein einzigartiger Klarinettist und trat mit seinem afro-kubanischen Temperament und seiner Virtuosität auch in klassischen Werken in Erscheinung.
Einen Monat lang, vom 4. Juli bis zum 4. August, findet in und um Sr.Moritz, in stimmungsvollen Clubs und historischen Hotelhallen, aber auch unter freiem Himmel, in der prachtvollen Oberengadiner Bergewelt, Dutzender von Jazz-Konzerten namhafter Interpreten statt. Beim Druchblättern des dicken Katalogs fallen weltberühmte Namen auf: Chick Corea , Gilberto Gin,Marla Glen, die lebende Legende Omara Portuondo. St.Moritz ist auf der Jazz-Tournee-Route längst kein ausgefallener Umweg mehr – das Jazz-Festival genießt unter Kennern eine Reputation, die jener des Jazz Festivals von Montreux ebenbürtig ist.
Der Julier-Turm
Rund vierzig Minuten von St.Moritz entfernt, auf der Passhöhe des schon von den Alten Römern als Alpenübergang benutzten Julier-Passes wurde ein weithin sichtbarer hölzerner Turm errichtet, der sich mit seiner leuchtend roten Farbe spektakulär von den grünen Wiesen und dem grauen Felsgestein abhebt – ein temporärer, spektakulärer Veranstaltungsort, weltweit einzigartig: Der Julier-Turm. Hier, auf 2284 Metern Höhe findet im Rahmen des „Origen Festival Cultural 2019 eine Vielzahl höchst origineller Veranstaltungen statt.
Man erreicht den Schauplatz mit dem Postauto – bestens organisiert wie alles in der Schweiz. Unten im Foyer gibt es eine Einführung in vielen Sprachen – auch dies typisch für die viersprachige Schweiz. Dann erklimmt man die Zuschauerränge mittels Welndeltreppe aus rohem Holz und nimmt auf einfachen Bänken Platz. In der Mitte des Turms wird an fünf Ketten die runde Bühne heruntergelassen und fixiert – auf dieser hängenden Bühne finden Theaterstücke, Konzerte und vor allem Ballettvorführungen statt, wie diese, die wir hier erleben durften: Unter dem Titel Utopia tanzten sechs Solisten der Pariser Oper – inspiriert von den alternativen Lebensentwürfen der exzentrisch-utopischen Künstlergemeinschaft des Monte Verità oberhalb von Ascona. Doch auch eine andere Utopie floss in diese Choreographie ein – jene elitär-alternative Welt des französischen Monarchen Louis XIV am Hof von Versailles. Dazu gehörte auch der Tanz: Das Pariser Ballett, dessen Tänzer an diesem einmaligen Ort zu bewundern waren, wurde 1661 vom „Sonnenkönig“ Louis XIV gegründet und gilt als das älteste Ensemble der Welt.