Leipzig, Deutschland (Weltexpress). Einen feisten Brocken hat Chemiechronist Jens Fuge auf den Buchmarkt gewuchtet. Auf 640 satten Seiten schildert er das Weh und Ach der innigen Verbindung zwischen der BSG Chemie Leipzig und ihrer überzeugten Anhänger. Im ersten Teil der auf drei Bände angelegten Reihe wird von den Jahren bis 1989 berichtet, mit Hauptaugenmerk auf die DDR-Zeit.
Der Leser erfährt schnell, die Chemie Leipzig Fanszene war zu DDR-Zeiten kein Hort staatskonformer Jugend. Bei Chemie sammelten sich die Langhaarigen, jene, die den Blues, und alle, die mindestens ein bisschen Wut auf die DDR hatten.
Wer großen Fußball sehen wollte, ging zu LOK Leipzig und eroberte Europa. Wer zu Chemie ging, tat das aus tiefster Überzeugung. Chemie war in den Augen seiner Fans anders. Chemie war Assi und Avantgarde gleichermaßen. Chemie brüllte „Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher“, malte sich ein Victoryzeichen auf die Jeans und träumte von den USA. Chemie war Arbeiterkult und gleichzeitig gegen den Arbeiter- und Bauernstatt. Die wenigsten Chemiker waren wirkliche Staatsfeinde, die meisten waren Jungs mit eigenem Kopf, die abseits der staatlichen Normen ihren Spaß haben wollten. Fußball, Saufen, frech sein, am Rad drehen, dagegen sein. Chemie war ein Blitzableiter der kleinen Leute. Weil man beim Fußball der Leidenschaft freien Lauf geben konnte. Und in unbeobachteten Momenten systemkritische Dinge herausbrüllte, die in der DDR streng verboten waren.
Das Chemiestadion, von 1950 bis 1992 Georg-Schwarz- und heute Alfred-Kunze-Sportpark, war für auswärtige Besucher eine No-go-Area. Damals gab es keine festen Blocks für Auswärtsfans. Die Wenigen, die sich nach Leutzsch wagten, mussten streng konspirativ vorgehen, um nicht von zickigen Chemikern erkannt und verjagt zu werden.
Fuge verzichtet auf einen durchgängigen und ordnenden Fließtext. Das grünschimmernde Buch ist mit seinen vielen hundert Fotos, Dokumenten, Fanerinnerungen, Presseschnipseln und Dokumenten aus dem Bestand des Ministeriums für Staatssicherheit ein großartiges Sammelsurium der bunten Chemieszene. Ein kleiner Schatz, eine Perle am Bücherhimmel.
Und die Zeile „Chemie Leipzig – der Schrecken aller Klassen“ stammt aus einem alten Fanlied.
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Jens Fuge, Steigt ein Fahnenwald empor, Verlag: Backroad Diaries, Leipzig 2016, ISBN: 978-3-9816023-5-7, Preis: 35 Euro