Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Bundestagswahlen und der Mainstream der darauf folgenden öffentlichen Debatten sind das Spiegelbild einer Entwicklung, die weit über die Frage hinausgeht, warum CDU/CSU und SPD so stark an Zustimmung verloren und die AfD fast 13 Prozent der Wählerstimmen erreicht hat.
Nicht die Tatsache, dass verschiedene Parteien existieren und zu den bisherigen neue hinzukommen, ist das Diskussionswerte am deutschen politischen System. Wichtiger sind das alltägliche Gebaren dieser Parteien und ihr Umgang miteinander. Dieser Umgang ist nicht nur machtpolitisch motiviert und keineswegs nur ein «Schauspiel», sondern zeigt Symptome einer gespaltenen Gesellschaft. Wenn diese Spaltung nicht behoben wird, wird die deutsche Gesellschaft und die deutsche Politik die anstehenden Aufgaben nicht lösen können.
Der penetrante Vorwurf gegen die AfD, sie sei rechtsradikal oder gar rechtsextrem, ist mehr als nur eine Propagandaformel im Machtstreben der anderen Parteien. Dieser Vorwurf vergiftet das politische Klima und verhindert einen ehrlichen Dialog – auch mit den Wählern dieser Partei, die im Osten des Landes mittlerweile die zweitgrößte Wählergruppe stellen und im Bundesland Sachsen sogar die größte. Oder will man diesen Wählern erzählen, sie seien zwar nicht rechtsextrem, aber unfähig gewesen zu erkennen, dass die Partei, die sie gewählt haben, rechtsextrem ist?
Die Weichen sind nicht auf Dialog gestellt
Überhaupt sind die Weichen derzeit nicht auf Dialog gestellt, und die Politikerrede von der staatspolitischen Verantwortung, die nun Vertreter verschiedener Parteien im Munde führen, allen voran die nach Regierungsmacht strebenden Grünen und «Liberalen», ist nach all den Jahren der Selbstbezogenheit und – objektiv betrachtet – der Zersetzungstätigkeit wenig glaubwürdig.
Ein Schweizer Vertreter bei der OSZE hat vor ein paar Wochen berichtet, dass es innerhalb dieser eigentlich für die Friedenssicherung und die Verständigung gedachten großen und wichtigen internationalen Organisation keinen Dialog mehr gibt zwischen West und Ost, sondern nur noch eine Gegenüberstellung von Standpunkten – ohne jegliche Annäherung. Dieser Bericht ist symptomatisch für eine Welt, in der der gemeinsame Boden verloren geht.
Ideologische Gründe
Die mangelnde Dialogbereitschaft und -fähigkeit zeigt sich aber nicht nur in den internationalen Beziehungen, sondern offensichtlich auch im Inneren der Nationen. Das hat vor allem ideologische Gründe: Ein überzogener Individualismus, postmoderner Dekonstruktivismus, Beliebigkeit im Lebensstil und eine Rückkehr des sozialdarwinistischen Denkens und Handelns in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik haben den Zusammenhalt und die Verbundenheit der Menschen und Bürger geschwächt. Wo nicht mehr jeder mit jedem sprechen kann, wo es kein Interesse mehr am anderen und dessen Positionen gibt, kein wirkliches Zuhören und aufeinander Eingehen mehr, ist Gefahr im Verzug.
Niklaus von Flüe mahnte, sich zuzuhören
Die Schweiz feiert in diesem Jahr den 600. Geburtstag von Niklaus von Flüe, Bruder Klaus. Er ist eine Art Schweizer Nationalheiliger – auch wenn mittlerweile selbst hier versucht wird, Person und Werk zu demontieren. Eine seiner berühmt gewordenen Ratschläge an um Frieden bemühte Schweizer Politiker lautete, einander zuzuhören und aufeinander einzugehen. Offensichtlich fiel dies schon damals vielen nicht leicht.
Ernst Fraenkel, ein nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Emigration in die USA zurückkehrender Politikwissenschaftler, war der Begründer der das westliche Nachkriegsdeutschland politisch prägenden «Pluralismustheorie». Diese Theorie besagte, dass es in einer Gesellschaft nichts anderes gebe als unterschiedliche Interessen und Interessengruppen, dass der bisherige Gemeinwohlbegriff problematisch geworden sei und dass es bei politischen Entscheidungen lediglich darum gehe, Interessengegensätze auszuhandeln und den größten gemeinsamen Nenner zu finden. Fraenkel – dies aber wurde nur selten erwähnt – ging allerdings davon aus, dass die Fähigkeit zur gemeinsamen Suche nach einem größten gemeinsamen Nenner einen ethischen Grundkonsens voraussetzt, einen ethischen Rahmen. Er sah ihn durch das Naturrecht gegeben.
Wo sind die Gemeinsamkeiten?
Wie weit sind wir heute davon entfernt? Und warum sind wir so weit davon entfernt? Nicht nur zwischen den Nationen, sondern auch innerhalb der eigenen Bürgerschaft.
Die breite Öffentlichkeit weiß wenig davon, aber es gibt sie noch: Persönlichkeiten und Gruppen, die nach Möglichkeiten suchen, eine universale Ethik zu formulieren, also eine Ethik, auf die sich die meisten ernsthaft Verantwortlichen und auch die meisten Menschen der Welt einigen könnten. «Gibt es objektive sittliche Werte, die in der Lage sind, die Menschen zu vereinen und ihnen Frieden und Glück zu verschaffen? Welche Werte sind das? Wie lassen sie sich erkennen? Wie sind sie umzusetzen im Leben der Personen und Gemeinschaften?» Diese Fragen standen am Anfang des mehr als 50 Seiten umfassenden Abschlussberichtes der Internationalen Theologischen Kommission beim Vatikan. Sie hat diesem Bericht den Titel «Auf der Suche nach einer universalen Ethik» gegeben und im Jahr 2009 vorgelegt.
Nicht so tiefgreifend, aber vielleicht mit einer ähnlichen Richtung wünscht man sich die Aussagen des russischen und auch des US-amerikanischen Präsidenten, zumindest in ihren Staaten so etwas wie eine «Einheit der Nation» zu schaffen. Beide Länder wissen, was gesellschaftliche Spaltung bedeutet, die USA leidet bis heute darunter, und den US-Amerikanern wäre zu wünschen, dass es dieses Mal um mehr geht als Politpropaganda. Der russische Präsident versucht seit seinem ersten Amtsantritt den «Klassenkampf» der neunziger Jahre aufzulösen. Beide Präsidenten werden dafür angefeindet.
Rechtsbestimmungen alleine reichen nicht
Rechtsvorschriften alleine, so wichtig sie in den internationalen Beziehungen und innerhalb der Nationen sind, können die heutigen Probleme nicht lösen. Dies demonstriert nicht zuletzt die Tatsache, dass internationales wie auch nationales Recht gebrochen wird und die Instanzen zur Korrektur nicht wirklich tätig werden beziehungsweise tätig werden können. Dass diejenigen, die bislang die Antagonismen und die Polarisierung vorantreiben und auch das Recht nicht achten, plötzlich innehalten und Einsicht zeigen, ist sehr unwahrscheinlich. Noch immer hoffen sie, von ihrer Methode zu profitieren.
Aber die Leidtragenden dieser Entwicklung, die Mehrzahl der Bürger, können aufhören mitzumachen. Das wäre eine Lehre aus den Bundestagswahlen. Wir setzen nun auf den Dialog gleichberechtigter und gleichwertiger Menschen – national und auch international. Wo Dialog verweigert oder verhindert wird, machen wir nicht mehr mit. Auch eine Art ziviler Ungehorsam.