Der Name “Bourgeoisie” leitet sich von „bourg“ (Burg), Bürger/Bourgeoisie ab. Aus den lokalen Bürgerschaften der einzelnen Städte entstand im Kampf gegen den Landadel allmählich die Bürgerklasse. In Frankreich wurde seit Ende des 16. Jahrhunderts unter Bourgeoisie die wohlhabende besitzende Klasse der Bürger (bourgeois) verstanden, die sich nach blutigen Kämpfen gegen den Feudalismus schließlich zur herrschenden Klasse erhob. Einmal an der Macht tut sie nun alles, um ihr Regime aufrechtzuerhalten und um die Verwertungsbedingungen ihres Kapitals zu verbessern.
Wachsende Einkommens- und Vermögensunterschiede, Prekarisierung bei gleichzeitiger Anhäufung ungeheurer Reichtümer, Sparhaushalte und Massenproteste bilden den gesellschaftlich-politischen Hintergrund für eine Renaissance des Klassenbegriffs. Vom Prekariat, von der Arbeiterklasse, gelegentlich auch vom Proletariat ist die Rede, nur selten werden die herrschenden Klassen der Gesellschaft (1) thematisiert. Der Begriff „Bourgeoisie” ist bis heute Tabu geblieben, Grund genug, diesen Begriff hinsichtlich seiner Aktualität zu hinterfragen.
1. Unternehmer
Beginnen wir mit den Institutionen der Reichtumsproduktion und des Handels. Die Akteure, die hier besonders hervortreten und von der Politik hofiert werden, sind die Unternehmer. Sie setzen das Vermögen, ihr eigenes und das der anderen als Kapital ein, um es unter Anwendung von Lohnarbeitern zu verwerten. Wir finden hier den klassischen Typus des Topmanagers, der das Unternehmen, ohne Inhaber zu sein (z.B. Aktiengesellschaft), im operativen Geschäft leitet, sowie den Aufsichtsratsvorsitzenden. Diese Positionsmacht, über die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende verfügen (2), verschmilzt bei einem Eigentümer- oder Familienunternehmer mit der Eigentumsmacht.
Wie auch immer die Rechtsform eines Unternehmens im einzelnen festgelegt sein mag, der Unternehmer als der Leiter der Unternehmung organisiert ökonomisch den Prozess der Reichtumsproduktion immer als einen Prozess der Verwertung des von ihm eingesetzten Kapitals, gleichgültig ob Teile davon ihm selbst gehören oder alles anderen gehört. Mit Verwertung ist die Erhaltung und endlose Vermehrung des als Kapital eingesetzten Vermögens gemeint. Diese Vermehrung zeigt sich in unterschiedlichen Formen, als Vermehrung von Unternehmensgewinnen und Managervergütungen, als Zahlung von Zins, Dividenden, Pacht, Mieten etc. Gelingt es dem Unternehmer nicht, sein eingesetztes Kapital in diesen Formen zu verwerten, läuft er Gefahr, niederkonkurriert zu werden.
Dem Unternehmer, der unter den Bedingungen der Konkurrenz notwendig agieren muss, wird eine besondere gesellschaftliche Eigenschaft aufgezwungen; er ist gewissermaßen gestempelt durch die Geschäfte, die er zu verrichten hat. Beispielsweise muss der Verkäufer seine Ware verkaufen, will er seine ökonomische Existenz nicht aufs Spiel setzen. Es ist die Ware selbst, die ihn zwingt, Käufer dafür zu suchen, denn er braucht das Geld, um sich die Ware zu besorgen, die er benötigt. Diese marktbezogene Form der Arbeitsteilung macht ihn nicht nur abhängig von anderen, sondern sachlich abhängig. Hier ist sein eigener Wille kaum mehr als eine Bestimmung der Ware. (3) So geht es weiter mit dem Geldbesitzer, dem Kapitalbesitzer. All diese Akteure repräsentieren das Geschäft, das sie verrichten. Und es ist die Konkurrenz, die sie zwingt, das wirklich sachgerecht zu tun.
Als Vertreter eines selbständigen Kapitals fungiert der Unternehmer als „Kapitalist”, als ein mit Willen begabtes Einzelkapital, das sich im Prozess von Warenproduktion und Warenzirkulation verwertet. Wenn künftig von „Handlungen des Kapitals” die Rede ist, dann ist das nur eine Kurzform für die aus der Kapitalbewegung selbst hervortretenden Notwendigkeiten, die der Unternehmer als Träger der Kapitalbewegung in Handlungen umsetzt bzw. in seinem Namen umsetzen lässt. Seine Funktionen bestehen in sämtlichen Operationen, die zur Erhaltung und Vermehrung des Kapitals erforderlich sind. Eine Alternative dazu gibt es für ihn nicht, will er Unternehmer bleiben. Seine persönlichen Absichten spielten in diesem Prozess eine untergeordnete Rolle. Die Bestimmungen des Kapitals, die er zu vollziehen hat, treten ihm in der Konkurrenz als äußerer Zwang gegenüber. Unter diesen Bedingungen sucht er nach Möglichkeiten, sein Kapital besser zu verwerten als die Konkurrenz. Indem er so verfährt, fungiert er nicht nur als Charaktermaske seines Kapitals, das die Bestimmung der eigenen Verwertung in sich trägt, er zwingt zudem die Konkurrenz dazu, die besseren Verwertungsmöglichkeiten gleichfalls anzuwenden.
Die Kapitale besitzen je nach Ort, an dem sie wirken, und je nach Funktion, die sie im Reproduktionsprozess verrichten, Partikularinteressen, die eine Grundlage von vorübergehenden oder dauerhaften Interessenkoalitionen, auch Kapitalfraktionen genannt, bilden. Handelskapitale besitzen andere Interessen als industrielle Kapitale, Einzelhändler andere als Großhändler, Händler bzw. Industrielle einer Region haben andere Interessen als die entsprechenden Kapitale anderer Regionen und Branchen. Großkonzerne haben wiederum andere als kleinere und mittelständige Unternehmen, stark exportorientierte Kapitale stehen häufig in Währungsfragen und in konjunkturpolitischen Fragen in einem Gegensatz zu den binnenmarktorientierten Kapitalen. Oftmals entscheidet die jeweilige Situation darüber, welche Kapitalgruppierungen sich zusammenfinden.
In ihrem Interessenstreit versuchen die jeweiligen Kapitalfraktionen den Staat zum Schutz ihrer besonderen Interessen einzuspannen. Je nach Zweckmäßigkeit führen die diese Auseinandersetzungen mal mehr im Stillen durch zähe Lobbyarbeit, dann mehr durch öffentlichen Druck unter Einsatz von Massenmedien. Wie wichtig die Demokratie für einen solchen politischen Interessenausgleich zwischen den Kapitalfraktionen ist, wurde an anderer Stelle entlang der Krisenpolitik nachgewiesen. (4)
Hier gilt es lediglich festzuhalten, dass Kapitalfraktionen, worin sich gleichartige Unternehmerinteressen zusammenfinden, um ihr Interesse gegenüber einer anderen Kapitalfraktion durchzusetzen, nicht durch fest gefügte Produktionsbedingungen gegeneinander fixiert sind.
Allerdings gibt es keineswegs nur Streit. In wichtigen Fragen bilden die Unternehmer eine Interessengemeinschaft, wenn es darum geht, ihr Kapital zu erhalten und möglichst stark zu vermehren. Ihr allgemeines Interesse ist die Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses selbst; ihr gemeinschaftliches Interesse besteht in der Verbesserung der Verwertung ihres Kapitals. Das erfordert Maßnahmen zur Abwehr auswärtiger Konkurrenz, zur Sicherung auswärtiger Investitionen, Rohstoff- und Absatzmärkte und vor allem Maßnahmen zur Begrenzung von Lohnerhöhungen bzw. zur Herabsetzung von Reallöhnen.
2. Geldvermögensbesitzer
Mit dem Unternehmer haben wir den Hauptakteur ins Spiel gebracht. Er erscheint uns schon deshalb als der treibende Faktor, weil er mit der Organisation der Reichtumsproduktion die Verwertung aller Vermögen bewerkstelligt. In seiner Existenzweise wurzeln deshalb auch die anderen besitzenden Klassen.
Zunächst einmal setzt der Unternehmer zum überwiegenden Teil Fremdkapital ein. (5) Er leiht sich selbst dann Geld, wenn er als Eigentümer-Unternehmer über eigenes Kapital verfügt. Die Kreditaufnahme ist für ihn nicht nur wichtig, weil er damit seine Eigenkapitalrendite steigern kann, sondern auch, weil die Konzentration der Produktionsmittel einen solchen Umfang angenommen hat, dass sie den Einsatz von Kapital anderer, von gesellschaftlichem Kapital, unbedingt erfordert.
Dieser gesellschaftliche Charakter des kapitalistischen Privateigentums tritt noch stärker bei der Aktiengesellschaft hervor, in der selbst das Eigenkapital die direkte Form von Gesellschaftskapital besitzt, d. h. aus dem Kapital direkt assoziierter Individuen besteht. In ihr ist der Unternehmer auf einen bloßen Funktionär des Kapitals reduziert. Die Vorstellung, der Unternehmer setze sein eigenes, durch eigene Arbeit erworbenes Vermögen ein, ist hier ad absurdum geführt. Kapitaleigentum und Kapitalfunktion sind vollständig voneinander getrennt.
a) Zum Begriff „Geld- oder Leihkapitalist”
Geldvermögensbesitzer, die Geld als ihr Geschäftsmittel, d. h. als Kapital leihweise fortgeben, fungieren als Geld- oder Leihkapitalisten. Die Verwertung des Werts ist ihr geschäftlicher Zweck, nicht der Konsum, auch nicht ein künftiger Konsum, wie er beispielsweise von Lohnabhängigen vorbereitet wird, die durch „Verzicht auf Gegenwartskonsum” kleine Teile ihres mühevoll erarbeiten Geldeinkommens bei Banken, Bausparkassen etc. hinterlegen und dafür Zinsen erhalten, die meist so niedrig sind, dass dabei nach Steuer- und Inflationsabzug ein realer Verlust herauskommt.
Solche Sparguthaben erhalten aber eine neue Qualität, sobald sie von Kapitalsammelstellen wie Banken, Fonds, Versicherungen, Vermögensverwaltungen etc. massenhaft konzentriert werden. Sie verwandeln sich ebenso in Kapital, allerdings in leihbares Geldkapital, wie sich zersplitterte, handwerkliche Produktionsmittel in Kapital verwandeln würden, sobald sie konzentriert und als Mittel der Verwertung eingesetzt werden.
Leihkapitalisten als die Träger eines solchen Geldkapitals verwerten das Geldvermögen nicht dadurch, indem sie selbst als Unternehmer im Reproduktionsprozess tätig werden, sondern sie verwerten es als Finanzier, indem sie es anderen gegen Zins oder in anderer Weise zur Verfügung stellen. Mit der Fortentwicklung des Kreditsystems entstehen daraus tausend Quellen plötzlicher Bereicherung, die spekulativ genutzt werden. Die Einseitigkeit ihres Vermögens lässt die Geldkapitalisten besonders sensibel gegenüber einer Entwertung des Geldkapitals durch Inflation werden. (6) Ihr Interesse, die größtmögliche Verwertung des Geldkapitals, schließt das Interesse an einen stabilen Geldwert ein.
Die schrankenlose Selbstverwertung des Kapitals tritt den Geldkapitalisten als ihr Motiv ins Bewusstsein, treibt sie an, weckt ihre Leidenschaft, macht sie gierig, so dass sie „Maß und Mitte“ (7) verlieren, nicht weil sie an sich – bedingt durch die Gene (8) – gierige Menschen wären, sondern weil sie eine Sache vertreten, worin diese Gier in Gestalt einer möglichst hohen Verwertung gesellschaftlich gesetzt wird. (9) Diese kapitalgetriebene Gier artikuliert sich im Ringen um eine möglichst hohe Verzinsung des Geldkapitals, wie andererseits die Gier der kreditnehmenden Unternehmen nach niedrigen Zinskosten drängt.
Hier haben wir die gegensätzlichen Sonderinteressen zweier Kapitalklassen. Auf dieser Ebene steht dann Interesse gegen Interesse.
Vom Kapital her gesehen treten also zwei verschiedene ökonomisch-funktionale Bestimmungen hervor: Auf der einen Seite stehen die fungierenden Unternehmen, die als Produzenten, Dienstleister oder Händler wirkliche Funktionen im Reproduktionsprozess verrichten, auf der anderen Seite stehen die Geldverleiher, die das Geld als Kapital zur Verfügung stellen ohne im Reproduktionsprozess selbst tätig zu sein. Die grundlegende Trennung in verleihende Geldkapitalisten und fungierende Kapitalisten führt zur Aufspaltung des von der Unternehmung erzielten Profits in Unternehmergewinn/Unternehmerlohn einerseits und in Zins/Dividende andererseits. Beide Kapitalgruppen konkurrieren um die Höhe ihres jeweiligen Anteils.
Es handelt sich hier aber nicht, wie im Falle des Konflikts innerhalb des nichtfinanziellen Unternehmenssektors, um Kapitale der gleichen Art, deren Interessenunterschied etwa aus den verschiedenen Absatzschwerpunkten ihrer Waren hervorgeht, sondern um Kapitale, die unterschiedliche Rollen im Wirtschaftsleben spielen und deren Unterschied in gewisser Weise einen Klassenunterschied mit dauerhaft gegensätzlichen Interessen markiert. Solche klassenmäßig bestimmten Kapitalfraktionen sind zu unterscheiden von denjenigen, deren Partikularinteressen nicht durch fest gefügte Produktionsbedingungen fixiert werden und wo oftmals die jeweilige Situation darüber entscheidet, welche Kapitalgruppierungen sich zusammenfinden.
b) Banken und Finanzinvestoren
In den Banken konzentrieren sich die Zahlungsströme, die Depositen, die Geldreserven und die Geldersparnisse bzw. das augenblicklich unbeschäftigte Geld aus den verschiedenen Bereichen der Wirtschaft. Technische Operationen, die mit den verschiedenen Funktionsweisen des Geldes (Einkassieren, Auszahlungen, Aufbewahrung der Reservefonds der Geschäftsleute, Umtausch in andere Währungen etc.) zusammenhängen, vermischen sich mit Kreditoperationen und werden dadurch fortentwickelt. (10) Die Banken verwandeln die ihnen zufließenden Gelder in verleihbare, zinstragende Geldkapitale, die sie ihren Kunden als Kredit in unterschiedlicher Höhe und zu unterschiedlichen Konditionen zur Verfügung stellen. In der Hand der Banken werden selbst kleine Geldbeträge, die für sich genommen gar nicht als Geldkapital wirken könnten, in verleihbares Geldkapital verwandelt. Dadurch entsteht eine neue Geldmacht, über die die Banken verfügen. Die Banken sind also nicht nur bloße Vermittler von Kreditgeschäften, sie treten deshalb auch nicht nur als ein Repräsentant der Geldverleiher dem Kreditsuchenden Publikum gegenüber, sondern sie operieren zugleich als eigenständige Geldkapitalisten, die über einen großen Teil des gesellschaftlichen Kapitals verfügen.
Zu ihren Geschäften gehören das Einlagen- und Kreditgeschäft, die technische Abwicklung des Zahlungsverkehrs, der Kommissionshandel, die Platzierung von Aktien und Anleihen auf den Primärmärkten, die Konstruktion und Ausgabe von Derivaten, Zertifikaten und von anderen kombinierten Produkten, der Eigenhandel von Wertpapieren und Derivaten verschiedenster Art auf den Sekundärmärkten, die Vorbereitung und Durchführung von Fusionen und Übernahmen (Mergers and Aquisitions, M & A). (11) Das Bedürfnis von Industrie und Handel, sich gegenüber Preisschwankungen verschiedenster Art durch entsprechende Absicherungsgeschäfte zu schützen, sowie das Bedürfnis, sich auf dem Kapitalmarkt neues Kapital durch Emission von Aktien und Anleihen zu besorgen oder Fusionen bzw. Übernahmen zu organisieren und zu finanzieren, bildet hier die allgemeine Grundlage. Das durch Banken- und Anlegerinteressen hoch gezüchtete Investment-Banking verschmilzt mit dem Einlagen- und Kreditgeschäft und schafft eigene Finanzinstrumente.
Die Banken sind eng mit einer Reihe Finanzinvestoren wie Versicherungen, Vermögensverwaltungen, diverse Fondsgesellschaften etc. verbunden, die auf andere Weise Geld einsammeln, es zu größeren Beträgen konzentrieren, um es auf die eine oder andere Art als Geldkapital fortzugeben. Je nachdem wie sie das Geld anlegen, ob in direkte Unternehmensbeteiligungen, Aktien, Staats- oder Unternehmensanleihen, ob in Derivaten, Rohstoffen oder Währungen, entstehen weitere Sonderinteressen. Immer konzentriert sich hier auch das Interesse der Geldkapitalisten, das darin besteht, das Geldkapital gegen möglichst hohen Zins auszuleihen.
Mit dem Geld- und Kreditsystem, das durch den öffentlichen Kredit eine wichtige Grundlage und Steigerungsstufe erhält, entwickelt sich eine Vielzahl von Kreditformen und Kreditinstrumenten, von denen etliche an den Börsen gehandelt werden. Alles zusammen bildet den Finanzsektor, im Unterschied zum Sektor des im wirklichen Reproduktionsprozess fungierenden Kapitals. Neben den zahlreichen technischen Operationen, die Geld- und Kreditverkehr mit sich bringen, konzentrieren sich im Finanzsektor einerseits das zu verleihende Kapital in Geldform und andererseits diverse Schuld- und Eigentumstitel auf das bereits fortgegebene Kapital, wie Staats-, Unternehmens-, Bankanleihen, Aktien, Derivate etc. All diese Formen des Geldkapitals lassen sich unter den Begriff des Finanzkapitals subsumieren. Die Träger des Finanzkapitals gehören zur Klasse der “Geld- oder Leihkapitalisten”. Gelegentlich wird diese Klasse als „Finanzaristokratie” bezeichnet, um an die müßig-parasitäre Seite dieses Verhältnisses zu erinnern.
c) llustrationen
Nach Berechnungen des Global Wealth Report, vorgestellt im September 2010, betrug das Weltgeldvermögen Ende 2009 gut 82 Billionen Euro; 84 Prozent davon entfielen auf die USA (39 Prozent), Westeuropa (31 Prozent) und Japan (14 Prozent). Das deutsche Geldvermögen betrug 4,7 Billionen Euro.
Der World Wealth Report 2011 von Capgemini und Merrill Lynch weist insgesamt 11 Millionen Personen mit einem Geldvermögen (ohne Eigenheim) von mehr als einer Million aus; davon leben 924.000 der als High-Net-Worth Individuals (HNWIs) (12) bezeichneten Personen in Deutschland. Das Vermögen ist hoch konzentriert: Lediglich 0,9 Prozent (103.000 Personen) aller Millionäre besitzen mehr als 30 Millionen Dollar in Form von nicht selbst genutzten Immobilien, Wertpapierdepots, Luxusgütern und Sammlerobjekte. Auf dieses „ultrareiche” Segment der Klasse der Millionäre (Ultra-HNWIs) entfällt mehr als 36 Prozent des Vermögens, das für alle Millionäre 42,7 Billionen Dollar betragen soll. (13)
Nach Zahlen von Merrill Lynch besitzt in den Industrieländern etwa ein Prozent der Haushalte rund die Hälfte des gesamten Geldvermögens. Angelegt in Kapitalsammelstellen verfügen die Anlageunternehmen zugleich über einen Großteil der übrigen Geldvermögen. Ende 2007 entfielen vom Geschäftskapital wohlhabender europäischer Familien im Durchschnitt 34 Prozent direkt auf Aktien, 17 Prozent auf „reale Anlagen” wie Immobilien, Rohstoffe, 16 Prozent auf Private Equity, 14 Prozent auf Hedge-Fonds, 13 Prozent direkt auf Renten, 5 Prozent auf Geldmarktpapiere (Rest Sonstiges). (14)
Die Forbes-Liste von März 2011 weist 1210 Dollarmilliardäre aus. Zu den drei Reichsten gehören der Telekommunikations-Unternehmer Carlos Slim Helú (Mexiko, 75 Milliarden Dollar), der Microsoft-Gründer Bill Gates (USA, 56 Milliarden Dollar) und der Kapitalanlage-Unternehmer Warren Buffett (USA, 50 Milliarden Dollar). Reichster Deutscher ist der Aldi-Gründer Karl Albrecht, der mit schätzungsweise 25,5 Milliarden Dollar auf Platz zwölf kommt. Alle Milliardäre zusammen besitzen rund 4,5 Billionen Dollar.
Das Geschäftskapital solcher privater Geldkapitalisten wird je nach Größenordnung entweder durch Banken in der Abteilung „Wealth Management” oder in einem Family Office gemanagt. Dieser Markt gilt als sehr intransparent. Für größere Vermögen von mindestens 500 Millionen Euro lohnt sich ein Single Family Office. Über ein solches privates Anlageunternehmen verfügen beispielsweise die Familien Haniel, Thurn und Taxis, von Rautenkranz, Henkel und Brenningmeyer. (15)
Das klassische Family Office entsteht im Umfeld einer Unternehmerfamilie. Sozialforscher Thomas Perry schätzt, dass rund die Hälfte der deutschen Millionäre den Großteil ihres Reichtums als Unternehmer oder Freiberufler verdiente. Etwa ein Drittel ist durch Erbschaft an den Reichtum gelangt.
Nehmen wir als Beispiel die Harald-Quandt-Vermögensverwaltung in Bad Homburg. Hier bündelt sich das Vermögen der Nachfahren des Industriellen Harald Quandt, zum Teil in geschäftlichen Partnerschaften mit anderen Geldkapitalisten. Nach dem frühen Unfalltod Harald Quandts und dem Tod seiner Witwe wurden die Industriebeteiligungen, darunter die Industriewerke Karlsruhe verkauft. Dort liegt die Quelle des heutigen Anlagekapitals, das nun in anderer Form fortexistiert. Das gemanagte Vermögen beträgt über 10 Milliarden US-Dollar und ist auf mehrere Tochtergesell-schaften verteilt, die Standorte in Europa, Amerika und Asien besitzen.
3. Grundeigentümer
Der Unternehmer benötigt für seine geschäftlichen Operationen Immobilien, über die er entweder selbst als Eigentümer verfügt oder deren Besitz er sich durch Pacht- bzw. Mietverträge sichern muss. Mietet bzw. pachtet er die Immobilien, dann muss er nicht nur Zinsen oder Dividenden bzw. andere Formen der Ausschüttung auszahlen, sondern zugleich die Ansprüche von Land- und Immobilienbesitzern bedienen. Auf diese Weise realisiert der Grundeigentümer kraft seines Eigentums am Grund- und Boden ein Einkommen in Form von Pacht, Miete etc. (16)
Auf den ersten Blick gibt es weit reichende Gemeinsamkeiten zwischen den Finanzaristokraten, die ihr Geld, und den Grundeigentümern, die ihren Grund und Boden anderen als Geschäftsmittel zur Verfügung stellen. Beide erhalten sie Einkommen durch einfaches Bereitstellen ihres Vermögens, während der fungierende Kapitalist das Vermögen als Kapital im Industrie-, Handels- oder Dienstleistungssektor wirklich anwenden muss.
Heute, wo aller adlige Schein vom Grundeigentum gewichen ist, da Grundeigentum kein Privileg mehr für den Eigentümer beinhaltet sondern wie eine normale Ware gehandelt wird (17), sind Finanzaristokratie und Grundeigentümer noch in anderer Weise zusammengerückt. Vom Standpunkt des Geldeigentümers werden der Kauf von Immobilien, Aktien, Anleihen etc. als alternative Anlageformen behandelt. Besonders offensichtlich ist dies bei offenen Immobilienfonds. Der Eigentümer kann je nach Art des Fonds und Marktlage seine Anteile mal mehr Mal weniger rasch verkaufen, so dass eine solche Anlage sich formell kaum noch unterscheidet von der Anlage in einem Anleihe- oder Aktienfonds.
Dass der Geldbesitzer als Käufer eines Immobilienfonds zum gesellschaftlichen Grundeigentümer (18) wird, ist ein Umstand, der ihn praktisch nur soweit interessiert, wie davon Rendite, Sicherheit und Liquidität seiner Geldanlage abhängen. Aus seiner oberflächlichen Sicht der Geldanlage führen die verschiedenen Anlageformen zu durchaus vergleichbaren Geldeinnahmen. (19) Umso mehr neigt er dazu, alle gleich zu setzen.
Die Gemeinsamkeiten reichen weiter: Grundrente und Zins sind in vergleichbarer Weise „arbeitslose Einkommen”. Beide Einkommensbezieher stehen im Gegensatz zum fungierenden Kapital, von dem sie Zins, Dividende bzw. die Grundrente (Pacht etc.) erhalten. Was hier Einkommen ist, bedeutet dort Abzug vom Überschuss, also Verminderung des Unternehmergewinns bei Industrieellen, Händlern und Dienstleistern.
Trotz solcher Gemeinsamkeiten kommen Unterschiede bereits dadurch herein, dass die Höhe des Zinsfußes auf andere Weise bestimmt ist als die Höhe der Grundrente. Auch steht der Grundbesitzer nicht im Gegensatz zum fungierenden Kapital insgesamt, sondern nur zum Pächter; er ist, wie Marx das Verhältnis bereits begrifflich fassen konnte, „der stille Gesellschafter des Kapitalisten.“ (20). Ist der Grundbesitz seiner Gebrauchswertbeschaffenheit (Fruchtbarkeit und Lage des Bodens) nach etwas Spezifisches, so ist das Geldkapital, das der Finanzaristokratie als Einkommensquelle dient, etwas Gleichförmiges, Homogenes. Die Finanzaristokratie ist entsprechend stärker in den Weltmarkt integriert als der Grundbesitzer, der schon deshalb national orientiert bleibt, weil die Verwertung seines Grundeigentums eng an das Schicksal des nationalen Standorts geknüpft ist. Sein ökonomischer Erfolg hängt vom allgemeinen Erfolg des jeweiligen nationalen Kapitals ab. Und je mehr das Kapital eines Landes akkumuliert und darüber seine Mehrwertmasse vergrößert, umso mehr kann der Grundbesitzer sich bedienen. Soweit der Zins einer solchen Akkumulation im Wege steht, steht er auch der Vermehrung der Grundrente im Wege, so dass sich hier Interessengegensätze zwischen beiden Klassen ergeben.
Es wurde gezeigt, dass sich die besitzenden Klassen durch ihre jeweilige ökonomisch-funktionale Rolle im Prozess gesellschaftlicher Reichtumsproduktion voneinander unterscheiden. Vom Standpunkt des tatsächlichen Reproduktionsprozesses teilt sich ihr Vermögen in das fungierende Kapital, das im Prozess der Warenproduktion und der Warenzirkulation als Industrie-, Dienstleistungs- oder Handelskapital tätig ist, in das zinstragende Kapital und in das damit in gewisser Weise verwandte, geschäftlich genutzte Grundeigentum.
4. Bourgeoisie
Unternehmer, Eigentümer des Leihkapitals und Grundeigentümer bilden die drei besitzenden Klassen der Gesellschaft. Gemeinsam ist ihnen, dass ihr Vermögen als Kapital verwertet wird, d. h. dass es erhalten bleibt und einen möglichst großen Überschuss abwirft. Es besteht demnach auch ein Konsens in der Frage der allgemeinen Existenzsicherung. Die prinzipielle Erhaltung des Kapitals, einschließlich der Erhaltung der damit verbundenen Vermögensarten, ist ihr allgemeines Interesse, das sich zusammenfassen lässt als Interesse an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.
Das Verwertungsinteresse des Kapitals bildete die Grundlage für einen weiteren Konsens. Die drei besitzenden Klassen der Gesellschaft verfolgen das Interesse, die Verwertung ihres Vermögens – die in der allgemeinen Profitrate des Landes ihr Maß hat – zu stabilisieren und soweit wie möglich zu erhöhen. Durch dieses gemeinschaftliche Interesse treten sie nicht nur in einen Gegensatz zum Kapital anderer Nationen, sondern zugleich in einen Klassengegensatz zu ihren eigenen Lohnabhängigen (einschließlich Arbeitslose). (21) Sie bilden, wie Marx das allgemeine Klassenverhältnis kennzeichnete, „einen wahren Freimaurerbund gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse”, so sehr sie sich auch in ihrer Konkurrenz untereinander als „falsche Brüder” bewähren mochten. (22) Sie haben das gleiche Interesse und den gleichen Gegensatz auszufechten, und agieren auf diese Weise als eine Klasse gegenüber anderen.
Bei aller Konkurrenz und inneren Zerrissenheit sind die besitzenden Klassen gerade in diesem Punkt miteinander vereint, bilden über ihre Verbände und unter Einbeziehung des Staates und der Massenmedien eine agierende kollektive Einheit, eine Klassenmacht, gegenüber der Gesamtheit der Lohnabhängigen, Arbeitslosen etc.
Unsere Analyse führt zu einem Klassen-Begriff, der fast schon in Vergessenheit geraten ist und nur noch gelegentlich Verwendung findet (23). Entlang ihrer gemeinsamen, d. h. ihrer allgemeinen und gemeinschaftlichen Interessen, lassen sich die Besitzenden unter der Kategorie „Bourgeoisie” zusammenbringen.
Diese Bezeichnung leitet sich von „bourg” (Burg), Bürger/Bourgeoisie ab. Aus den lokalen Bürgerschaften der einzelnen Städte entstand im Kampf gegen den Landadel allmählich die Bürgerklasse. In Frankreich wurde seit Ende des 16. Jahrhunderts unter Bourgeoisie die wohlhabende besitzende Klasse der Bürger (bourgeois) verstanden, die sich nach blutigen Kämpfen gegen den Feudalismus schließlich zur herrschenden Klasse erhob. Einmal an der Macht tut sie alles, um ihr Regime aufrechtzuerhalten und um die Verwertungsbedingungen zu verbessern.
Der Begriff „Bourgeoisie” bei Marx und Engels
„Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende klassen: Bourgeoisie und Proletariat”¦
Sie hat enorme Städte geschaffen”¦Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert”¦
In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat.” (Kommunistisches Manifest)
„In dem Maße, wie die Bourgeoisie sich entwickelt, entwickelt sich in ihrem Schoße ein neues Proletariat, ein modernes Proletariat.” (Elend der Philosophie (MEW 4, S. 141)
Im achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schrieb Marx mit Blick auf die verschiedenen Teile der französischen Bourgeoisie: „(Wenn) Orléanisten und Legitimisten ”¦ gegen die andere (Seite) die Restauration ihres eigenen Könighauses durchsetzen wollte, so hieß das nichts anderes, als dass die zwei großen Interessen, worin die Bourgeoisie sich spaltet – Grundeigentum und Kapital -, jedes seine eigene Suprematie suchte. Wir sprechen von zwei Interessen der Bourgeoisie, denn das große Grundeigentum, trotz seiner feudalen Koketterie und seines Racestolzes, war durch die Entwicklung der modernen Gesellschaft vollständig verbürgerlicht.” (”¦)
Die parlamentarische Republik war mehr als das neutrale Gebiet, worin die zwei Fraktionen der französischen Bourgeoisie, Legitimisten und Orléanisten, großes Grundeigentum und Industrie, gleichberechtigt nebeneinander hausen konnten. Sie war die unumgängliche Bedingung ihrer gemeinsamen Herrschaft, die einzige Staatsform, worin ihr allgemeines Klasseninteresse sich zugleich die Ansprüche ihrer besonderen Fraktionen wie alle übrigen Klassen der Gesellschaft unterwarf” (MEW 8, S. 139, 177).
Friedrich Engels, der in England die Bourgeoisie nicht nur theoretisch studierte sondern auch praktisch mit ihr verkehrte, schildert in seinem Frühwerk „Lage der arbeitenden Klasse in England” seine Begegnung mit einem englischen Bourgeois, den er einst durch Manchester führte. Nachdem er ihm den „scheußlichen Zustand der Arbeiterviertel” gezeigt hatte, sagte der Mann beim Abschied: „And yet, there is a great deal of money made here”. Es ist dem Bourgeois, wie Engels kommentierte, „durchaus gleichgültig, ob seine Arbeiter verhungern oder nicht, wenn er nur Geld verdient.” Mit aufrechter Empörung schilderte er seine Erfahrungen mit der modernen Bourgeoisie Englands folgendermaßen: „Mir ist nie eine so tief demoralisierte, innerlich zerfressene und für allen Fortschritt unfähig gemachte Klasse vorgekommen. (”¦) Für sie existiert nichts in der Welt, was nicht nur um des Geldes willen da wäre, sie selbst nicht ausgenommen, denn sie lebt für nichts, als um Geld zu verdienen, sie kennt keine Seligkeit als die des schnellen Erwerbs, keinen Schmerz außer dem Geldverlieren. Bei dieser Habsucht und Geldgier ist es nicht möglich, dass eine einzige menschliche Anschauung unbefleckt bleibt.” (MEW 2, S. 486f)
Der gegenwärtige Krisenzyklus liefert genügend Illustrationsmaterial, das an anderer Stelle ausführlich behandelt worden ist. (24) Hier nur einige zusammenfassende Bemerkungen:
Alle Angehörigen der besitzenden Klassen hielten in der Stunde der Not zusammen. Es gab keine ernsthafte Opposition, als der Staat auf dem Höhepunkt der Krise 2008/2009 alles unternahm, um das kapitalistische System zu stabilisieren und die um sich greifende Entwertungsspirale zu stoppen: Er schützte Unternehmen und Banken vor dem finanziellen Zusammenbruch, spannte gigantische Rettungsschirme, verabschiedete Konjunkturprogramme und setzte Verstaatlichungen durch. Alle besitzenden Klassen und sämtliche Kapitalfraktionen waren in dem Ziel geeint, das kapitalistische System mit Hilfe des Staates zu retten.
Die im Parlament vertretenen Parteien stellten sich in dieser Schicksalsstunde mit großer Selbstverständlichkeit in den Dienst der Bourgeoisie. Es gab weder eine prinzipielle Kritik an der Rettung der Großbank Hypo Real Estate (HRE), die als systemisch relevant eingestuft wurde und deshalb nicht Pleite gehen durfte, noch an dem Rettungsschirm, den die Regierung über das kapitalistische System spannte. Es fehlte jegliche „demokratische Aufregung” darüber, dass die Aktionen der Bankenunterstützung intransparent blieben, dass die große Koalition das Budgetrecht aushebelte und so, wie Harald Schumann es formulierte, „die völlige Entmachtung des Parlaments erzwungen” hatte. (25)
In der Stunde der Gefahr war die Opposition nicht mehr präsent. Man war sich einig, dass der Kapitalismus unbedingt überleben musste. Dem Ziel hatte sich alles Weitere unterzuordnen. Die „Solidarität der demokratischen Parteien” erwies sich als eine heilige Allianz zur Rettung des Kapitalismus. Vor dieser großen Herausforderung lösten sich alle Streitpunkte der Parteien ins Nichts auf. Unterschiede, die gerade in Wahlkampfzeiten zum Richtungsstreit verklärt worden waren, erwiesen sich als völlig belanglos, als es um die große Frage von Sein oder Nichtsein des Kapitalismus ging.
Weder die Grünen noch die Linkspartei stellten die Rolle des Staates am Krankenbett des Kapitalismus in Frage. Der Neoliberalismus, der seit etwa 30 Jahren die Wirtschaftspolitik mehr und mehr bestimmt hatte, war plötzlich nicht mehr präsent, als es um die ideologische Absicherung solch gigantischer Staatsinterventionen ging. Alles schien möglich. Selbst Verstaatlichungen, die zuvor als sozialistischer Gewaltakt verteufelt worden waren, galten nicht mehr als ökonomisch verwerflich, wenn solche Maßnahmen nur halfen, die kapitalistische Ordnung zu retten. Vor diesem Richterstuhl verlor selbst das Privateigentum seine Heiligkeit. Niemand protestierte, als der Staat auf dem Höhepunkt der Krise das gesamte Finanzsystem praktisch unter seine Kontrolle stellte. Die Planwirtschaft hatte für kurze Zeit gesiegt über das Chaos der Märkte, eine Planwirtschaft jedoch, die innerhalb und zur Rettung des kapitalistischen Systems stattfand.
Die massiven Staatsinterventionen von 2008/2009 hatten die Staatshaushalte schwer belastet. Als in einigen Ländern der Euro-Zone die Staatschuldenkrise immer bedrohlichere Formen annahm und die Schuldenfinanzierung über den Kapitalmarkt zu stocken drohte, rückten die Kapitalfraktionen in der Frage der Aufrechterhaltung der Staatsfinanzierung auch in Deutschland wieder enger zusammen. Sie waren sich einig, dass der Staat seine Neuverschuldung zumindest auf mittlere Sicht begrenzen musste, sollte das kapitalistische System nicht erneut in eine Krise geraten.
Die Lösung der Staatsschuldenkrise etwa durch einfache Entwertung der Staatsschulden wäre auf eine Entwertung des in der Staatsschuld angelegten zinstragenden Kapitals hinausgelaufen, also auf eine Entwertung des Vermögens der Geldkapitalisten. Diese Art der Lösung musste auf den Widerstand des Kapitals stoßen, so dass sie gar nicht erst öffentlich diskutiert wurde.
Einig waren sich alle besitzenden Klassen und Fraktionen, dass der Staat die Kosten seiner Schuldenbegrenzung weder dem fungierenden noch dem zinstragenden Kapital aufbürden durfte. Eine finanzielle Belastung oder gar eine Kapitalentwertung zugunsten einer Sanierung des Staatshaushalts kamen für sie nicht in Frage. Es blieb nur die Möglichkeit (26), die Kosten der Sanierung auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Da diese über keine größeren Vermögen verfügten, die sich der Staat hätte aneignen können, sollten die Gelder für die Rückführung seiner Verschuldung aus den laufenden Lohn- und Gehaltseinkommen und aus dem Sozialbudget genommen werden.
Das Jahr 2010 war das Jahr der Sparprogramme in Europa. In Griechenland, Irland, Portugal und Spanien folgten weitere Maßnahmen. Die Sparprogramme fielen je nach nationaler Verschuldungs- und Konjunktursituation unterschiedlich heftig aus, griffen aber in jedem Fall in die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen ein. Bei allen nationalen Unterschieden stellten die Sparprogramme mal mehr mal weniger darauf ab, die Massensteuern zu erhöhen, die Sozialausgaben sowie die Löhne vor allem im Öffentlichen Dienst zu senken und die Bedingungen für eine beschleunigte Akkumulation des Kapitals zu verbessern.
Die Sparbeschlüsse kehrten den Klassencharakter hervor, sie lösten Sozialstaatsillusionen auf, sie verschlechterten die Lebensbedingungen, sie schmiedeten die Lohnabhängigen soweit zusammen, wie die Betroffenheit reichte, sie schufen eine gleiche politische Situation mit gleichen politischen Interessen, die gegen die Regierung gerichtet waren.
Die Massenproteste, die sich bald einstellten, besaßen sofort einen politischen Charakter, der sich gegen die Politik des Staates richtete. Eine ganze Palette von Kampfformen wurde sichtbar. Sie reichte von Protesttagen, von geordneten Demonstrationen, von kurzen aber „verlängerbaren” Arbeitsniederlegungen und Demonstrationsstreiks über Generalstreiks einzelner Branchen, Regionen und Städte bis hin zu landesweiten Generalstreiks, Blockaden, Besetzungen, blutigen Straßenschlachten und Barrikadenkämpfen.
Massenkämpfe und gelegentlich durchgeführte Meinungsumfragen zeigten, wie sehr die breite Masse der Bevölkerung die Sparpolitik ablehnte, die aber dennoch durchgesetzt wurde. Die Macht ging nicht vom Volke, sondern von den besitzenden Klassen, von der Bourgeoisie, aus – anders lässt sich diese Tatsache nicht erklären.
In Griechenland befürworteten einer Umfrage von Mitte Juni 2011 zufolge 86 Prozent der Befragten die Proteste, an denen 35 Prozent schon selbst teilgenommen hatten. „Rechnet man die 31 Prozent der Befragten, die (auch) in Zukunft auf den Plätzen protestieren wollen, auf den volljährigen Teil der Bevölkerung hoch, dann wären mittlerweile fast drei Millionen Menschen im elf Millionen Einwohner zählenden Griechenland entschlossen, ihren Unmut auf die Straße zu tragen”. (27)
Als die französischen Massenstreiks im Oktober 2010 gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters anschwollen, nahm nach einer Umfrage des französischen Meinungsforschungsinstituts BVA die Unterstützung zu. 69 Prozent der Befragten hießen den Protest gut. (28) Die Massenstreiks selbst waren bereits das sichtbarste Zeichen dafür, wie einmütig die Klasse der Lohnabhängigen, d.h. die breite Masse der Bevölkerung, die Sparprogramme ablehnte.
Ihren Unmut drückte sie schon im März 2010 aus, als sie die Regionalwahlen in Frankreich boykottierte. Nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten erschien vor den Urnen, bei der Wahl vor sechs Jahren hatten noch fast zwei Drittel gewählt. „Der französischen Demokratie kommt ihr Demos abhanden, das Volk”, kommentierte „Die Zeit” diese Form der Ablehnung. (29) In einer Umfrage kreuzten 67 Prozent die Aussage an: „Ich traue weder der Rechten noch der Linken zu, das Land zu regieren”. Wozu also wählen? Dass „die Dinge immer schlimmer werden”, das glaubten 79 Prozent der Franzosen.
Unsicherheit und Sorge waren derart groß, dass die Mehrheit es für möglich hielt, über Nacht das Obdach zu verlieren. „Der Kapitalismus ist nichts als Banditentum, irrational in seinem Wesen, verheerend in seinem Werden”, fasste der französische Philosoph Alain Badiou seinen Unmut zusammen. (30) Der westliche Liberalismus sei eine Illusion, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, hätten seine Bürger nichts zu wählen. Die Parteien glichen sich. Wer auch immer regiere, betreibe dieselbe Politik. Der „Kapitalo-Parlamentarismus”, so Badiou später, dulde keine Alternative. (31)
Anmerkungen:
(1) Im Folgenden geht es nur darum, die besitzenden Klassen der Gesellschaft, vor allem ihre ökonomische Anatomie, darzustellen. Ergänzungen und Modifikationen, soweit sie durch die Existenz des Staates ins Spiel kommen, bleiben unberücksichtig.
(2) Die Eliteforschung, darunter die von Michael Hartmann, hat empirisch nachgewiesen, dass die deutsche Wirtschaftselite zu mehr als 80 Prozent (bei Aufsichtsratsvorsitzenden bis zu 90 Prozent) aus dem Großbürgertum und gehobenen Bürgertum stammt. Diese ökonomisch-funktionale Klasse besitzt hinsichtlich der Herkunft ihrer Mitglieder eine große Homogenität, was nur beweist, wie sehr sich die Klasse gegen die Individuen verselbständigt, so dass diese dann ihre Lebensbedingungen prädestiniert vorfinden. Die Individuen sind unter die Klasse subsumiert, bekommen von ihr ihre Lebensstellung, ihre Verhaltensweisen und Dispositionen, ihren Lebensstil, ihre Sprechweisen, kurz: ihren „Habitus” (Pierre Bourdieu) mitgeteilt. Der Habitus als eine inkorporierte, also verkörperte oder in den Körper eingebrannte Beziehungsstruktur trägt Klassencharakter.
(3) Die kritische Wirtschaftstheorie bezeichnete sehr treffend die Warenbesitzer als Repräsentanten von Waren oder noch genauer als „ökonomische Charaktermasken”, die nur „die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten”. (Marx, Kapital I, in: MEW 23, S. 100) „Das Kapital als sich verwertender Wert umschließt nicht nur Klassenverhältnisse ”¦ Es ist eine Bewegung, ein Kreislaufprozeß durch verschiedne Stadien, der selbst wieder drei verschiedne Formen des Kreislaufprozesses einschließt”¦Die Bewegungen des Kapitals erscheinen als Aktionen des einzelnen industriellen Kapitalisten in der Weise, dass er als Waren- und Arbeitskäufer, Warenverkäufer und produktiver Kapitalist fungiert, durch seine Tätigkeit also den Kreislauf vermittelt.” (Kapital II, MEW 24, S. 109)
(4) G. Sandleben (2011): Politik des Kapitals in der Krise. Eine empirische Studie, Frankfurt. Die nachfolgenden Ausführungen stellen eine modifizierte Fassung des Kapitels 1.4 des Buches dar: Hauptakteure in der Politik des Kapitals.
(5) Nach einer Auswertung der Unternehmensbilanzstatistik durch die Deutsche Bundesbank betrug in 2008 die Eigenkapitalquote (Eigenmittel in Prozent der Bilanzsumme) im Durchschnitt aller Unternehmungen 25,5 Prozent; von 2006 bis 2008 lag die Quote bei durchschnittlich 24,9 Prozent. Monatsbericht vom Januar 2010
(6) Hier bleibt unberücksichtigt, dass Werte nicht nur in der Form des Geldes sondern auch in Warenform (Mietshäuser etc.) verliehen werden können. Das Interesse an einem stabilen Geldwert ist dann weniger stark ausgeprägt als beim eigentlichen Geldkapitalisten.
(7) Versuche, die Gier zu verdammen, sie moralisch-theologisch einzudämmen, gehören zu den vergeblichen Anstrengungen von Politikern, Moralisten, Theologen, Soziologen etc. Wird die Gier zur Ursache der Wirtschaftskrise gemacht, dann nicht in der Weise, dass man die ökonomischen Voraussetzung dieser Gier thematisiert, sondern indem man die Gier in eine menschliche Schwäche verwandelt, wodurch das angeblich so intakte Marktsystem gefährdet werde.
(8) In den sieben Thesen des Frankfurter Zukunftsrates zur Neuroökonomie vom Juni 2009 heißt es unter These vier: „Die Gier im Finanzverhalten ist genbedingt”. Der Zukunftsrat empfiehlt deshalb, Menschen mit genbedingter Finanzgier nicht in Führungspositionen einzusetzen. (http://www.presseportal.de/pm/75963/1425052/ frankfurter_zukunftsrat_e_v).
(9) „Blutgier, Geldgier, Habgier, Raffgier: Was treibt Menschen an, die den Hals nicht voll bekommen, gegen Regeln verstoßen oder korrupt sind,” schrieb das Handelsblatt in einer Buchbesprechung am 16.11.2007 und listete eine Reihe Bücher auf, die allesamt darauf hinausliefen, die kapitalistische Ursachen der Gier auszublenden. Das menschliche Gehirn, so die allgemeine These, giert nach Gewinnen, weil sich dann Glücksgefühle einstellten, mit der Konsequenz, dass die Gewinn-Gier grenzenlos sei, vergleichbar mit dem Drogenkonsum. Das Belohnungszentrum des Gehirns, nicht das Kapitalverhältnis soll die Quelle der Gier sein. Gier wird als „Regelverstoß” von Menschen interpretiert, nicht aber als eine durch die Regeln der Kapitalbewegung vorgegebene Verhaltensnotwendigkeit.
(10) Diese Seite des Kreditwesens schließt sich an die technischen Operationen des Geldhandels nicht nur an, sondern entwickelt sie fort, sobald sie mit dem Kreditgeschäft verbunden werden. Näheres dazu bei Marx, MEW 25, Kapitel 19 und 25 und bei G. Sandleben / J. Schäfer (2013): Apologie von links, S. 91ff.
(11) Einzelheiten dazu u. a. bei Jörg Huffschmid (2002): Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Hamburg; Sandleben/Schäfer (2013)
(12) Zu den High-Net-Worth Individuals werden meist Personen mit einem verfügbaren Finanzvermögen (abzüglich Schulden) von mehr als einer Million US-Dollar gezählt. Selbst genutzter Immobilienbesitz oder andere genutzte Sachvermögen sind darin nicht enthalten. Genaue Messungen liegen nicht vor. Die Anzahl der Millionäre ergibt sich aus ungefähren Schätzungen, die je nach Quelle voneinander abweichen können.
(13) http://www.capgemini.com/services-and-solutions/by-industry/financial-services/solutions/wealth/state_world_wealth/
(14) Hoch lebe Private Equity, in: FAZ vom 25.9.2010, S. 23.
(15) Hanno Mußler, „Die Abwehrstrategie der deutschen Banken”, in: FAZ vom 10.9.2010; Die Zeit vom 2.9.2010.
(16) Dass der Bodeneigentümer sein Land auch anderen zur Verfügung stellen kann, etwa dem Staat oder privaten Mietern, soll an dieser Stelle nicht thematisiert werden.
(17) Die Reduktion des Immobilieneigentums auf eine Handelsware ist keineswegs erst eine Erscheinung unserer Zeit. England hatte dem Grundbesitz bereits im 17. Jahrhundert die früheren adligen Verbrämungen soweit abgestreift, dass einer der Gründer der klassischen Politischen Ökonomie, nämlich William Petty (1623 – 1687), einige Grundzüge der bereits modernen kapitalistischen Grundrente analysieren konnte.
(18) Er ist ein gesellschaftlicher Grundeigentümer, soweit er zusammen mit den anderen Fondszeichnern Eigentümer über ein Stück Land ist, das seine Fondsverwaltung anderen gegen eine Grundrente zur Verfügung stellt. In der Regel ist er zugleich Eigentümer von Kapital, wenn auf dem Land Miets- oder Kaufhäuser, Bürogebäude, Lagerhäuser, Parkhäuser etc. stehen. Die Geldeinnahmen (abzüglich der laufenden Ausgaben), die der Fonds aus der bereitgestellten Immobilie bezieht, bestehen dann keineswegs nur aus Grundrente, sondern sind verquickt mit Zinseinnahmen und einem stückchenweise Rückfluss des fixen Kapitals (Abschreibungen), das in den Gebäuden steckt.
(19) Die Kapitalisierung von Grundrente und Zins erwecken den Schein, dass beide Geldeinnahmen in gleicher Weise Resultat eines imaginären Kapitals sind, aus dem dann diese Geldeinnahmen als ganz selbstverständliche Einkommensformen herauswachsen. In einer kritischen Wirtschaftsanalyse, die sich an Marx anlehnt, wird die mit einem Durchschnittszinsfuß kapitalisierte „jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme” als „fiktives Kapital” bezeichnet. (MEW 25, S. 484) Die kapitalisierte Grundrente ergibt als Ertragswert den Bodenpreis, worin die Rente als der Zähler vorausgesetzt ist. Der Kurs einer länger laufenden Anleihe ist ähnlich bestimmt, nämlich als kapitalisierte Zinseinnahme. Steigt der allgemeine Zinsfuß, dann fallen gewöhnlich Kurs der Anleihe und Bodenpreis, ein weiteres Indiz für den Geldanleger, Grundrente und Zinseinnahmen gleich zu setzen.
(20) Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 342
(21) Gegebene Wertzusammensetzung des Kapitals unterstellt, lässt sich die allgemeine Profitrate nur durch eine Erhöhung der Mehrwertrate, d. h. auf Kosten der Lohnabhängigen durch Lohnsenkungen, Erhöhung der Arbeitsintensität und durch Verlängerung der Arbeitszeit steigern. Der Verwertungszwang des Kapitals führt zu einem ständigen gemeinschaftlichen Angriff auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, die auf diese Weise permanent zum Widerstand gezwungen werden. Zu den verschiedenen Methoden der Mehrwertproduktion sei auf das Marxsche Kapital, Band I (MEW 23, Abschnitte III bis V) verwiesen.
(22) MEW 25, S. 208.
(23) Zum Beispiel bei Immanuel Wallerstein oder beim britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main, S. 77
(24) Vergleiche Sandleben (2011)
(25) Harald Schumann, „Bankenrettung”, im Tagesspiegel vom 21.8.09
(26) Eine weitere Möglichkeit, Staatsvermögen oder den nationalen Goldschatz als Schuldentilgungsmittel einzusetzen, spielte bislang nur in Griechenland eine gewisse Rolle.
(27) Heike Schrader, „Aus Wut wird Widerstand”, In: junge Welt vom 2.6.2011
(28) FAZ vom 23.10.2010
(29) „Die Leere der Macht”, in: Die Zeit vom 18.3.2010
(30) „Das Reale dieses Krisenspektakels”, Taz vom 13.11.2008
(31) Die Zeit vom 17.6.2010
Der Beitrag von Günther Sandleben wurde in den Proletarischen Briefen am 19. November 2013, um 17:33 Uhr (MEZ) erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.