Unterhalb des Berges Nui Sam steht die Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete farbenprächtige Tay An Pagode, eine Mixtur von indischer und vietnamesischer Architektur mit etwas 200 Statuen. Bei einem Rundgang ist unübersehbar, dass einige der Buddha-Figuren Brillen tragen. Ich gehöre zu den Besuchern, die sich bei diesem Anblick unwillkürlich umschauen, ob hier nicht etwa Fielmann und Co. ihre Hände im Spiel haben. Doch die Brillen auf den Nasen der Heiligen sind keine vermessene Werbestrategie, sondern machen die Buddhas menschlicher und gehören hier zur Buntheit im Tempel.
Ein Höhepunkt der Schiffsreise ist die dreistündige Fahrt durch den Chao Gao Kanal. Die 27 Kilometer lange Wasserstraße wurde teilweise mit Hand gegraben. Sie ist eng und wird täglich von zirka 4000 Schiffen befahren, kleinere und größere Lastschiffe, Wohnkähne am Ufer, Fährboote, Schnellboote reihen sich hintereinander im Kanal auf. An einer Brücke über den Kanal müssen sich die Schiffe aus beiden Richtungen im Reißverschlussverfahren um einen Brückenpfeiler herum zwängen. Nahezu alle Schiffe haben am Bug zwei riesige Augen an die Bordwand gemalt. Sie sind wohl auch zusätzlich nötig, wenn man die abenteuerlichen Überholmanöver mancher Kapitäne beobachtet. Einige von ihnen saßen nicht im Steuerhaus, sondern auf der aufgetürmten Ladung, um die Richtung der Fahrt ihres Schiffes zu beobachten. Insgesamt drei Stunden dauert die Fahrt, in der der vietnamesische Kapitän unseres Phoenix-Schiffes Schwerstarbeit leistet.
Nördlich des Mekong-Deltas am Ufer des Saigon-Flusses erreicht man die mit acht Millionen Einwohnern größte Stadt Vietnams Ho-Chi-Minh-Stadt. Im Jahr 1975 erhielt die Metropole Saigon im Süden Vietnams den Namen des Staatsgründers Ho-Chi-Minh. Es war das Jahr der endgültigen Niederlage der USA im Vietnamkrieg und der Vereinigung von Nord und Südvietnam zur Republik Vietnam. Etwas mehr als zehn Jahre später im Jahr 1986 musste sich das in die Krise geratene Vietnam unter der Überschrift „Doi Moi“ eine neue Politik verordnen, vor allem auf dem Wirtschaftssektor und der Außenpolitik. Seit den 90er Jahren halten wirtschaftliche Erfolge an. Sie gehen einher mit einer politischen Normalisierung, die sogar um scheinbar unveränderbare Namensgebungen keinen Bogen macht. So ist der Name Ho-Chi-Minh-Stadt zwar weiterhin die offizielle Bezeichnung der Hauptstadt, so unser vietnamesischer Reiseleiter Lam Duz Sanh. Aber der Name Saigon hat im Sprachgebrauch der Vietnamesen wie der Touristen wieder Konjunktur und mindestens einen gleichberechtigten Platz.
Ein Landkreis vor den Toren von Ho-Chi-Minh-Stadt hat heroische Berühmtheit erlangt und steht für den Überlebenswillen und die Intelligenz des vietnamesischen Volkes. Hier in Cu Chi sind im Laufe von drei Jahrzehnten Krieg unzählige Tunnel gegraben worden, in denen sich Partisanen versteckten. Auf einem kleinen Teil vom Tunnelgelände ist ein Museum eingerichtet, in dem auch Dokumentarfilme über die Tunnel im Vietnamkrieg gezeigt werden. Jeder, der schlank genug ist, kann in einen für Touristen hergerichteten Tunnel mit den etwas ausgedehnten Maßen (60 Zentimeter breit, 80 Zentimeter hoch) hinein klettern und hat mehrere Ausstiege zur Auswahl. Die wenigen Besucher, die sich in die Tunnel begeben, steigen schon nach 15 Metern wieder aus dem Dunkel, so auch ich selbst. Vereinzelt schaffen es ein paar Jugendliche zu den anderen Ausstiegen nach 50 und nach 100 Meter. Unvorstellbar, dass hier Vietnamesen mit ihren Familien über Monate und Jahre vegetieren mussten.
Die ersten Tunnel entstanden bereits im Jahr 1945 im Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich. Als die US-Armee zwei Jahrzehnte später ahnungslos gerade hier einen großen Militärstützpunkt anlegte, baute die FNL (Nationale Front zur Befreiung Südvietnams) daraufhin einzelne Tunnel zu einem ganzen Tunnelsystem aus. Es erstreckte sich schließlich auf ein Gebiet von 100 Quadratkilometern mit einer Länge von 80 Kilometern, umfasste vielerorts drei Ebenen und es wurden Lazarette, Büros, Wohnstätten, Schulen eingerichtet. Die Eingänge waren sehr schmale, mit Gras bewachsene Klapptüren, die oft durch einfache Fallen mit angespitzten Bambusrohren gesichert wurden. Die Entlüftungslöcher waren getarnt, die Abluft von Kochstellen wurde unauffällig im Gelände abgelassen. In Bombentrichtern der Flächenbombardements wurden einige Fischteiche angelegt. Immer wieder versuchten die US-Truppen und ihre südvietnamesischen Verbündeten, die Tunnel einzunehmen oder mit Bomben, Gas oder Wasser zu zerstören. Sie verloren auch diese Schlacht um die Tunnel.
Während des Rundganges über das Museumsgelände von Cu Chi ist immer wieder das laute Knallen von Salven einiger Maschinenpistolen zu hören. Der unangenehme Ton erschreckt einige Touristen. Doch hier soll nicht per Geknatter der Schrecken des Krieges gezeigt werden, sondern hier schießt die Marktwirtschaft. Für ein paar Dollar können zumeist jugendliche Besucher den Abzug auf einer fest verschraubten Kalaschnikow betätigen. Ein makabres Schauspiel. Es ist den Helden und Opfern des Vietnamkrieges, immerhin starben drei Millionen Vietnamesen und 58.000 amerikanische Soldaten, nicht angemessen.
Ho-Chi-Minh-City – Saigon ist erreicht. Der Besucher wird von einer quirligen modernen Metropole empfangen. Das Straßenbild der Innenstadt mit seinen breiten Boulevards ist geprägt durch eine unablässige Flut von Mopeds und Motorrädern. In der Acht-Millionen-Stadt sind vier Millionen Zweiräder zugelassen. Es scheint so, dass die Hauptstadtbewohner, ob jung oder alt, das laufen verlernt haben. Es sind nur wenige Spaziergänger unterwegs. Dafür versammeln sich viele Dutzend Mopedfahrer bei „Rot“ an den Ampeln, um dann bei „Grün“ loszupreschen. Und sie sind auf den Zweirädern nicht nur allein unterwegs, natürlich zu zweit, zu dritt, nicht selten zu viert mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern oder voll gepackt mit Waren, sie telefonieren, essen, trinken, kaufen bei Händlern an den Ampeln ein. Es scheint kaum etwas zu geben, was sie nicht auf dem Moped machen.
Nicht selten sind veraltete oder ungenaue Informationen in Reiseführern ein Ärgernis. Vom Gegenteil überzeugt das sehr fundierte Travel-Handbuch über die Mekong-Region von Stefan Loose. Einer seiner Saigon-Tipps ist von allererster Güte: Das Jazz-Lokal Saxn` Art in der Le Loi Street. Es bietet täglich Live-Musik vom Feinsten, eigene Kompositionen und die US-Ohrwürmer von „My fanny Valentine“ bis „Blue Moon“. Oft steht der Hausherr und bekannte vietnamesische Saxofonspieler Tram Manh Tuan auf der kleinen Bühne und wenn Freunde aus New York vorbei schauen, gibt es ein Jam Session – mitten im Zentrum von Ho-Chi-Minh-Stadt.
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