Beispiel Solingen: Die Kafka-Strategie

Das Schloß Burg an der Wupper in Solingen. Quelle: Pixabay, Foto: Andreas H.

Berlin, BRD (Weltexpress). Wann immer es um die Migrationspolitik und deren Folgen geht, wird irgendjemand mit den Schultern zucken und in abgewandelter Form erklären, da ließe sich nun einmal nichts machen. Das ist aber keine Rechtfertigung, sondern eher ein Zeichen von Komplizenschaft bei bösen Absichten.

Kafkas zwei große Romane, Das Schloss und Der Prozess, setzen beide den Helden der Geschichte in eine Umgebung, in der eine unbekannte, nicht lokalisierbare Macht ihm Übles will. Die Welt um ihn herum ist ein Labyrinth, das nur Fragen aufwirft, aber keine Antworten gibt, und es ist unmöglich, jemanden zu finden, der für das Ganze verantwortlich ist.

Die Integrationsministerin von NRW, Josefine Paul, hat als Antwort auf die Frage, warum ein Syrer, der längst abgeschoben werden sollte, ein Jahr später einen Anschlag begehen konnte, vor allem eines gesagt: „Dieses System ist so komplex“. Damit steht sie nicht alleine; wann immer irgendwo nach einem Verantwortlichen gesucht wird, ja, eigentlich gesucht werden muss, ist alles so komplex, und letztlich ist kein Verantwortlicher ausfindig zu machen. Wie bei der Ahrtalkatastrophe, die nach wie vor symbolisch für den Zustand des Landes steht.

Ja, es trifft zu – wenn ein Beschluss für eine Abschiebung vorliegt, dann wird alles ganz schwierig. Weil Bundes- und Landesbehörden beteiligt sind, und außerdem meist noch Träger der freien Wohlfahrt, dazwischen dann noch teils staatlich geförderte NGOs, die ihr Bestes tun, eine Umsetzung des Beschlusses zu verhindern. Und schon rechtlich gibt es da neben dem deutschen noch das EU-Recht, auf das beispielsweise immer dann verwiesen wird, wenn die Frage lautet, warum es unmöglich sei, illegale Einreisen, die dann in einem Asylverfahren enden, zu verhindern, selbst wenn nach dem Dublin-Abkommen eigentlich der Staat zuständig ist, der als erster betreten wird…

Und man kann natürlich so tun, als wäre das alles irgendeine Art Zufall, ein bürokratisches Missgeschick, das sich organisch aus der komplizierten Struktur der unterschiedlichen Rechtsebenen entwickelt hat, zwischen denen schon der Informationsfluss schwierig ist. Man kann auch an den Weihnachtsmann glauben. Wenn man aber die Entwicklungen betrachtet, die insbesondere seit den Lissabon-Verträgen stattgefunden haben, liegt es eher nahe, dass das Chaos beabsichtigt ist.

Warum? Weil auf diese Weise sehr wirkungsvoll jede Möglichkeit untergraben wird, die Politik zu ändern. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. München hat ein altes Stadion in Giesing, das 60er-Stadion (offiziell Stadion an der Grünwalder Straße). Dieses Stadion wird nach wie vor genutzt, und es wird auch gebraucht, weil im Grunde nirgends auf dem Gebiet der Stadt Platz vorhanden ist, auf dem ein Ersatz gebaut werden könnte. Warum? Weil ein Neubau eine neue Baugenehmigung braucht, und die muss das Immissionsschutzgesetz einhalten, das einen Abstand von 100 Metern zur nächsten Wohnbebauung vorschreibt. Bereits vorhandene Anlagen haben Bestandsschutz, aber sobald alles auf einmal renoviert würde, braucht es wieder eine neue Baugenehmigung…

Eine Regelung, die noch an vielen anderen Stellen Probleme schafft. So wäre beispielsweise ein S-Bahn-Ring möglich, wenn nicht aufgrund ebendieses Immissionsschutzes dann die vorhandenen Gleisanlagen überdacht werden müssten.

Nun könnte man sagen, dann sollte man eben ein vernünftigeres Gesetz machen. Dieses Immissionsschutzgesetz ist jedoch die deutsche Umsetzung einer EU-Vorgabe, weshalb man die EU-Vorgabe ändern müsste. Was wiederum nur über die EU-Kommission geht, die aber weit mehr damit beschäftigt ist, den Europäern das Leben zur Hölle zu machen, während das angebliche Parlament ohne einen entsprechenden Entwurf der Kommission leider gar nichts tun kan…

Also in einem Fall, in dem man automatisch sagen würde, das solle doch die örtliche Politik, also der Stadtrat, entscheiden können, oder eventuell ein Bürgerentscheid, sind so hohe Hürden aufgebaut, dass eine einfache, aber für die Lebensqualität in Städten wichtige, Veränderung nicht möglich ist. Nebenbei, das trifft vor allem Sportanlagen und Einrichtungen der öffentlichen Infrastruktur und kleine Unternehmen. Und die Brüsseler Regelung schielt vor allem auf den Marktwert der Immobilien und eventuell eine spekulative Nutzung der dann frei werdenden Areale und nicht auf die Lebensinteressen der Stadtbevölkerung, auch wenn der Vorwand, unter dem derartige Regelungen entstanden sind, Lärmschutz heißt.

Derartige Vorgaben gibt es immer wieder, bis hin zur affigen Befestigung von Flaschendeckeln an Getränkeflaschen. Es gibt sie aber eben auch in Bereichen wie der Asylpolitik. Und das hat natürlich seine praktische Seite: Man kann den einheimischen Wählern gegenüber alles Mögliche vorgeben, alles Mögliche versprechen, nur um hinterher zu erklären, das ginge leider alles nicht, weil, das europäische Recht, Sie wissen schon…

Nebenbei ist noch etwas passiert, wenn man die vergangenen Jahrzehnte betrachtet, und auch das findet sich in der Geschichte unseres Syrers. Immer mehr eigentlich staatliche Aufgaben wurden an Private ausgelagert, auch der Betrieb von Notunterkünften aller Art. Das sind zum großen Teil Verbände wie die Caritas und die Diakonie, in manchen Fällen sind es aber auch gewerbliche Unternehmen. Um zu begründen, warum das geschieht, werden meist, insbesondere wenn es um die Wohlfahrtsverbände geht, ganz gute und edle Gründe vorgetragen, warum es so viel besser ist, wenn sie das tun und nicht Bund, Land oder Kommune. Die wirklichen Gründe sind allerdings andere. Keine staatliche Ebene will noch Leute einstellen, die man vielleicht in zwei, drei Jahren nicht mehr braucht; weil die Tarifverträge der Wohlfahrtsverbände unter jenen der öffentlichen Hand liegen, spart man damit Geld, und es wird eine Möglichkeit geschaffen, dass irgendjemand daran verdienen kann.

Eine Nebenwirkung (oder vielleicht eine Hauptwirkung) ist aber, dass natürlich jeder, der eine solche Einrichtung betreibt, kein Interesse daran hat, sie leer zu sehen. Das ist kein starker Effekt, aber man muss sich nur die konkrete Situation vorstellen, in der sich der Beschäftigte befindet, der in einer solchen Einrichtung die Anwesenheit kontrolliert. Für seinen Alltag ist es wichtig, mit den Bewohnern einigermaßen auszukommen; man kann ja nicht den ganzen Tag in Begleitung des Sicherheitsdienstes durchs Haus gehen. Und dann gibt es eben die Interessen des Arbeitgebers, die jedenfalls nicht darin bestehen, die Belegung zu verringern. Das Interesse des Landes, eine angeordnete Abschiebung auch durchzuführen, steht ganz am Ende der Liste. Das Ergebnis? Die Motivation, zu melden, wenn ein Bewohner, der abgeschoben werden soll und bei einem Versuch abwesend war, wieder auftaucht, ist ausgesprochen gering.

Wäre es eine Einrichtung der Kommune oder des Bundes, also einer jener Strukturen, die mit der Belegung kein Geld verdienen, sondern die dafür Geld aufwenden müssen, wären schon die Anreize völlig anders. Selbst wenn auch Abteilungen in Behörden gerne ihren eigenen Zugriff auf Personal und Budget ausweiten, gibt es doch eine unmittelbar wirkende Gegenkraft. Weil die Einrichtung aus der Hand gegeben ist, gibt es schlicht keinerlei Loyalität zwischen der Person, die da eine Information weitergeben sollte, und der staatlichen Behörde. Was sich auch dann nicht wesentlich ändern wird, wenn diese staatliche Behörde eine entsprechende Meldung zur Pflicht macht.

Was dadurch passiert, ist eine Entkopplung von Recht und Wirklichkeit. Meistens passiert das in die andere Richtung, bei Sozialleistungen beispielsweise, die mit einer Anforderung von derart vielen unterschiedlichen Dokumenten und Nachweisen versehen werden, dass allein der bürokratische Aufwand schon viele abschreckt, von der Bearbeitungsgeschwindigkeit ganz zu schweigen. Das Wohngeld ist in dieser Hinsicht berüchtigt.

Aber es gibt eben auch die Richtung, in der das Gewebe aus strukturellen und bürokratischen Hindernissen derart dicht ist, dass letztlich noch die beste rechtliche Entscheidung zur Fiktion wird. In der Solinger Geschichte wird beispielsweise auch angeführt, es sei so schwierig, Flüge nach Sofia zu buchen, und Frau Paul führte an, in der Woche könnten ohnehin nur höchstens zehn Asylbewerber nach Bulgarien abgeschoben werden.

Eigentlich kein Argument, wenn man sich erinnert, welche Möglichkeiten ein Staat hätte. Es wäre durchaus möglich oder vielleicht sogar praktisch, ein paar Flugzeuge zu erwerben, sie passend umzubauen und das Ganze mit einer eigenen staatlichen Fluglinie zu erledigen. Es gab sogar Zeiten, da waren die meisten Fluggesellschaften ohnehin staatlich. Aber schon der Gedanke ist unmöglich, und klar, normale Verkehrspiloten wollen lieber nichts mit Abschiebungen zu tun haben, denn das bedeutet in der Regel Ärger und Aufenthalte. Nur, im März dieses Jahres waren es 45.900 „unmittelbar Ausreisepflichtige“, und sollte das Urteil des OVG Münster umgesetzt werden, nach dem Syrer keinen subsidiären Schutz mehr beanspruchen können, werden es noch deutlich mehr. Da kann man schon eine kleine Fluglinie betreiben.

Was aber selbstverständlich nach den Brüsseler Vorgaben nicht sein darf, denn es könnte ja irgendein Privater daran verdienen, weshalb eine staatliche Linie zu diesem Zweck nicht erlaubt ist. Was übrigens auf vielen Gebieten ziemlich viel Geld kostet. Wenn man sich die inzwischen gerade als Flüchtlingsunterkünfte so beliebten Containerbauten ansieht. Diese Container sind völlig überteuert, weil es nur zwei, drei Anbieter gibt, die diese Container umbauen, ob nun als Ausweichbauten für Schulen bei Renovierungen oder eben als Flüchtlingsunterkünfte. Es hätte schon lange Sinn gemacht, diese Umbauten von einem staatlichen Unternehmen durchführen zu lassen, dessen Aufgabe es ist, diese Container zum Selbstkostenpreis zu liefern. Das passiert aber nicht.

Der Trick bei der Kafka-Strategie ist es, so viele einander entgegengesetzte Interessen und so viele abzuarbeitende bürokratische Aufgaben ins Spiel zu bringen, dass am Ende weder etwas bewegt noch irgendjemand ausfindig gemacht werden kann, der daran schuld hat, dass sich nichts bewegt. Die Wirkung dieser Strategie ist jedoch keine Lappalie. Sie garantiert nicht nur regelmäßiges Versagen, wie in Solingen; sie entkernt auch die Demokratie. Denn diese gibt es nur, wenn Entscheidungen tatsächlich Konsequenzen haben und ein Kurs auch geändert werden kann.

Die ganze Existenz der Brüsseler Bürokratie dient dazu, jede Kursänderung dauerhaft zu sabotieren, was sich mittlerweile bis hin zur Außenpolitik erstreckt. Verschärft wird das alles noch durch Politiker, die es ungemein nützlich finden, ihre eigenen Vorstellungen so in den Verwaltungsverfahren zu versenken, dass ihre Gegner völlig handlungsunfähig sind. Frau Paul, die sich auf die „Komplexität des Systems“ beruft, wird schon entsprechend dazu beigetragen haben, denn sie ist eigentlich eine Befürworterin unbegrenzter Migration. Aber selbstverständlich ist sie nicht verantwortlich. Jeder der Erbauer dieser bürokratischen Labyrinthe trägt nur ein Steinchen bei, sodass immer auf jemand anderen verwiesen werden kann.

Man kann sich davon täuschen lassen. Oder man kann darauf bestehen, dass jeder der Steinchenträger mitverantwortlich ist für das Ergebnis. Selbstverständlich auch all jene, die durch konsequentes Nichtstun und das Absondern leerer Sprüche mit dazu beigetragen haben. Wie im Bereich der Wohnungspolitik. Noch klappt das gut, in den Fällen, die geradezu nach der Übernahme von Verantwortung schreien, irgendein von französischer Philosophie inspiriertes Gewäsch von „komplexen Systemen“ abzusondern, und niemand merkt, dass sich dahinter eigentlich nur die Aussage verbirgt: „das ist mir egal, ihr könnt mir sowieso nichts“.

Aber diese ganze Komplexität ist ebenso menschengemacht, wie die koloniale Politik menschengemacht ist, wie die Politik der offenen Grenzen menschengemacht ist und wie die allseitige soziale Vernachlässigung menschengemacht ist. Es mag eine Zeit lang unterhaltsam sein, wenn zur gleichen Zeit das Geschlecht eines Menschen zur Willensentscheidung erklärt wird, aber Verwaltungsverfahren behandelt werden, als wären sie das Ergebnis göttlicher Fügung. Doch die eine wie die andere Fiktion fliegt einmal auf. Rechenschaft lässt sich verzögern, aber nicht vermeiden.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde unter dem Titel „Beispiel Solingen: Die Kafka-Strategie“ am 1.9.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

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