Der hat jedoch einen entscheidenden Mangel: die Akustik. Der Saal ist zu breit, die Nachhallzeit zu gering. Die Musiker auf der Bühne können einander nicht hören. Der von der Dresdner Philharmonie gepflegte »typisch sächsische Klang«, den die Dirigenten rühmen, kommt in den Konzertsälen in aller Welt zur Geltung, nur nicht im eigenen Hause. In den neunziger Jahren zog die Sächsische Staatskapelle auf Nimmerwiedersehen aus. Der Chefdirigent Marek Janowski verließ 2003 das Orchester, weil der ihm vertraglich zugesicherte Bau eines neuen Konzertsaals nicht realisiert wurde. Internationale Spitzenorchester können nicht eingeladen werden. Da die Betriebserlaubnis am 31.12.2012 ausläuft, entschlossen sich die Stadtväter zum Einbau eines neuen Konzertsaals.
Vor einem Jahr schien alles klar: Das Projekt der Architekten von Gerkan, Marg und Partner hatte den Zuschlag erhalten, und sie hatten mit der Ausführungsplanung begonnen. Der Saal soll in einem vom Denkmalschutz freigegebenen »Baufenster« völlig umgebaut werden. Dem Stadtrat lag ein Finanzplan über 70,5 Millionen Euro vor, von denen 35 Millionen aus Fördermitteln der Europäischen Union kommen sollten. Nach langem Streit zwischen Befürwortern und Gegnern wurde der Umbau am 24. März 2011 beschlossen.
Der Fördermittelantrag musste vom Sächsischen Innenministerium eingereicht werden. Kritiker wie die Linke im Stadtrat bezweifelten von vornherein die Erfolgsaussichten des Antrags und die Glaubwürdigkeit der »Experten« in Sachen Fördermittelbeschaffung. Doch die Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) und ihre Beigeordneten für Finanzen und Kultur wiegten sich in Sicherheit.
Im Februar kam die Hiobsbotschaft: die 35 Millionen kommen nicht! Die EU-Beamten erklärten einen Antrag auf Mittel für eine Industriebrache (die der Kulturpalast nicht ist) für aussichtslos. Zu entscheiden war: Aufgeben oder neue Finanzierungsquellen suchen. Zu allem Überfluss stand der Stadtrat im Wort, das Heizkraftwerk Mitte von 2013–2016 für die Staatsoperette Dresden und das Theater der Jungen Generation für 87 Millionen Euro umzubauen. Das wog um so schwerer, als sich die Belegschaft der Operette durch Lohnverzicht mit 12,2 Millionen Euro an den Baukosten beteiligen will.
Der Umbau des Kulturpalastes wird nun nach aktuellen Preisen einschließlich Risiko mit 81,5 Millionen Euro veranschlagt. Für beide Projekte ergibt sich ein Finanzbedarf von rund 186 Millionen Euro. Das ist ein Viertel eines Jahresbudgets oder, gestreckt auf fünf Jahre, sind es jeweils etwa 5 Prozent.
Insider glauben, dass die Großprojekte der Landeshauptstadt in der sächsischen CDU und in der nicht zu unterschätzenden Beamtenschaft nicht nur Freunde haben, was dem Fördermittelantrag nicht gerade Schwung verliehen hat. Das erinnert an die Zeiten in der DDR, wo die für Bauvorhaben in Berlin zusammengezogenen Kapazitäten von den Bezirksfürsten mit Zähneknirschen abgegeben wurden.
Die Oberbürgermeisterin Helma Orosz wiederum hat Grund genug, ihr Wahlversprechen – die Erneuerung des Kulturpalastes – zu erfüllen. Denn ihr anderes Prestigeobjekt, die Waldschlößchenbrücke, fand zwar eine Mehrheit bei der Volksabstimmung, trägt aber den Makel des Verlustes des Weltkulturerbetitels für das Elbtal. Der neue Konzertsaal im Palast hingegen kann der Stadt nur internationales Ansehen einbringen. Klar ist auch: die Dresdner haben keine Zeit zu verlieren, denn – darauf wies der Finanzbürgermeister Hartmut Vorjohann (CDU) hin – mit dem Auslaufen des Solidarpakts wird alles viel schwieriger: »Was wir in den nächsten zehn Jahren nicht gebaut kriegen, kriegen wir in Jahrzehnten nicht mehr hin.« Wie nicht anders zu erwarten, rief die Finanzierungslücke auch die Gegner des neuen Konzertsaals wieder auf den Plan.
Orosz und ihren Beigeordneten blieb nur die Flucht nach vorn. Woher 35 Millionen nehmen? Die Verwaltung schlug vor, das Vermögen der im Jahre 2009 aus Mitteln des Verkaufs von 48 000 Wohnungen errichteten Kreuzchorstiftung und der Sozialstiftung mit insgesamt 27,2 Millionen Euro für den Kulturpalast einzusetzen. Die Stiftungen sind städtisch und können nach Auffassung der Verwaltung von der Stadt in Anspruch genommen werden. Weitere 4,6 Millionen kommen aus einer Nachzahlung der Konzessionsabgabe Wasser und 2,6 Millionen vom Freistaat. Die verbleibende Lücke von 2,2 Millionen Euro will Frau Orosz aus dem Haushalt abzweigen.
Eine stürmische Reaktion der Betroffenen folgte unverzüglich. Der Kreuzchor ist ein Heiligtum der Dresdner. In einer scharfen Presseerklärung protestierte der Kreuzkantor Roderich Kreile. Dies ohne Groll gegen die Musikerkollegen, denn »die Dresdner Philharmonie ist der wichtigste musikalische Partner des Kreuzchors.« Er habe sich stets für den Umbau des Kulturpalastes eingesetzt und sei dagegen, ein Kulturinstitut zugunsten eines anderen zu benachteiligen. Er brauche die Erträge der Stiftung unbedingt, um die Wohn- und Arbeitsbedingungen der 147 Kruzianer im Internat zu verbessern. Auch reichen die Plätze nicht für alle. Indessen fanden Spitzengespräche statt, in denen laut Pressesprecher Christian Schmidt ein »guter Kompromiss« erzielt wurde. Orosz sicherte die Sanierung und Erweiterung des Alumnats bis zur 800-Jahrfeier des Chores im Jahre 2016 zu. Die fast abenteuerliche Lösung hat auch etwas Materialistisches. »Wir verwandeln Geld in Steine,« sagt Vorjohann, sozusagen als Schutz vor der Inflation.
War der Zugriff auf das Stiftungskapital der Plan B, falls die Fördermittel nicht kämen? Der Kulturbürgermeister Ralf Lunau (parteilos) verneint das. Das Vertrauen in die EU sei sehr hoch gewesen. Andererseits wäre allen klar, dass die städtischen Kultureinrichtungen (mit Seitenblick auf die vom Freistaat finanzierte Staatsoper) endlich aus schlimmen Arbeitsbedingungen erlöst werden müssen. Dies seien auch Themen, mit denen man in Dresden Wahlen gewinnen oder verlieren könne.
Am 4. April fand die entscheidende Sitzung des aus 70 Abgeordneten bestehenden Stadtrats statt. Beide Großprojekte standen zur Entscheidung. Während das Kraftwerk Mitte mit 61 Ja-Stimmen glatt durchlief, wurde der Kulturpalast mit 40 Ja- und 24 Nein-Stimmen angenommen. Für den Antrag stimmten CDU, Grüne und Bürgerfraktion, dagegen Linke, SPD und FDP. Endlich kommt auch eine Orgel in den Konzertsaal, die weitere 1,3 Millionen Euro kosten soll. Die Stadt gibt 300 000 Euro. Eine Million will der Förderverein Philharmonie sammeln.
Mit den Beschlüssen ist der Weg frei für drei Theater – die Staatsoperette Dresden, das Theater der Jungen Generation und das Kabarett »Die Herkuleskeule« –, für einen exzellenten Konzertsaal und für die Zentralbibliothek im Kulturpalast. Zwei Großprojekte wurden beschlossen, ohne einem die Priorität einräumen zu müssen. Der Vorteil des Kulturpalastes ist sein Zeitvorsprung. Die Bauvorbereitungen beginnen noch in diesem Jahr. Das Problem wird die »auf Rand genähte« Finanzierung sein. Unwägbar ist noch die Verwendung des Stiftungskapitals. Die juristische Prüfung könnte eine zweckfremde Verwendung feststellen. Die historische Sitzung vom 4. April dürfte nur eine »Schlacht unterwegs« gewesen sein.
Zur Planungssicherheit ungewollt beigetragen hat die Klage des Architekten des Kulturpalastes, Wolfgang Hänsch. Er forderte vom Landgericht Leipzig die Feststellung, dass der Festsaal als seine Schöpfung urheberrechtlich zu schützen sei. Der Gutachter Gerd Zimmermann, Rektor der Bauhaus-Universität Weimar i.R., kam zu dem Schluss, der Festsaal sei ein guter Saal, aber nicht einzigartig und keine architektonische Sensation. Der Einbau eines neuen Konzertsaals sei kein Willkürakt, sondern der Versuch, ein Lösungsmodell für den Kulturpalast und den in Dresden erforderlichen Konzertsaal zu finden. Das Projekt sei ein historischer Kompromiss, die Vergangenheit für die Zukunft anzueignen und das Denkmal weiterzubauen. Unter Preisgabe eines Teils des Denkmals sei der Umbau zum Erhalt des Palastes und zu seiner Erneuerung notwendig. »Im besten Falle wird dieser neue Saal die Fortsetzung, vor allem aber die zeitgemäße Steigerung jener frischen Sprache sein, mit welcher der Kulturpalast einst mutig auf den Plan trat«, so Zimmermann. Dennoch versuchte Hänsch noch einen Gegenzug, indem er eine Stunde vor Beginn der Stadtratssitzung seine Bereitschaft verkündete, selbst ein Projekt für die Ertüchtigung des Mehrzwecksaales auszuarbeiten. Das blieb ohne Wirkung.
Zur Debatte stand auch erneut der Vorschlag der Linken, den Mehrzwecksaal zu erhalten. Dazu hätte der Stadtrat ein Projekt völlig neu ausschreiben müssen (projektiert worden war eben der Umbau), was eine Verschiebung von zwei bis drei Jahren und neue Unsicherheit der Finanzierung bedeutet hätte. Stände der Palast nach dem unwiderruflichen Ende der Betriebserlaubnis am 31.12.2012 tot und ungenutzt da, könnte das den Ärger der Bevölkerung hervorrufen und zugleich Begehrlichkeiten der Immobilienhaie wecken, die im Zentrum der Stadt guten Baugrund verwerten könnten. Ein ungenutztes Gebäude verfällt unweigerlich. Dann wäre der Kulturpalast eines Tages weg wie der Palast der Republik. Jedes Zuwarten könnte sich deshalb als strategischer Irrtum herausstellen. Das beschlossene Konzept bleibt die realistische Variante.
Ralf Lunau sieht nun Eile geboten für die Aufträge zur Bauvorbereitung und für die Einrichtung des Ausweichquartiers der Dresdner Philharmonie. Bis zur Neueröffnung des Palastes wird das ehemalige Kino Metropolis Arbeits- und Probenstätte des Orchesters sein. Das wird knapp, meint der Orchestervorstand Nikolaus von Tippelskirch, aber die Musiker sind in Hochstimmung, weil der neue Kulturpalast beste Arbeitsbedingungen und vor allem eine vorzügliche Akustik verspricht. Ihre Vorschläge zur Gestaltung ihrer Arbeitsumwelt wurden von den Architekten eins zu eins übernommen.
Offene Fragen bleiben. Zum Beispiel: Intendant Anselm Rose versprach der Presse »top Qualität bei fairen Preisen«. Aber was ist das? Auch Lunaus kulturpolitische Ziele sind ein breites Publikum und eine hohe Auslastung. Die Stadt sei gut beraten, bei fairen Preisen zu bleiben. Die Philharmonie habe eine Tradition als Bürgerorchester zu bewahren. Wie wahr. Dresden ist nicht Hamburg und rentabel wird nicht, was keiner kaufen kann.
Alles in allem: mit den geplanten 168 Millionen Euro werden zwei markante denkmalgeschützte Bauwerke im Zentrum der Stadt revitalisiert und für drei Theater, einen modernen Konzertsaal und eine große Bibliothek fit gemacht. Nach Schätzungen müsste annähernd die gleiche Summe für den Bau eines Konzerthauses aufgewandt werden, für den sich namhafte Musiker um die Sächsische Staatskapelle Dresden einsetzen. Da diese drei Brocken die Finanzkraft der Stadt überfordern würden, ist die vom Dresdner Stadtrat gewählte Variante die den Umständen nach effektivste Lösung.