Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Außenministerin wirft die Begriffe aus, die dann durch ständige Wiederholung das Denken der Deutschen steuern sollen. Jetzt hat sie einen neuen entdeckt. Aber die gleiche Stiftung, bei der sie ihn vorführt, zeigt auch, dass die Steuerung oft nicht so klappt, wie gewünscht.
Die Körber-Stiftung gönnt sich einmal jährlich eine Umfrage, die sie bescheiden neudeutsch „Berlin Pulse“ nennt, also Berliner Puls. Dabei werden alle möglichen Fragen zur Außenpolitik gestellt; Fragen, in deren Beantwortung sich Felder erkennen lassen, in denen die tägliche Propaganda noch nicht so ganz fruchtet, und andere, in denen sie völlig dominiert.
Die Umfrage entsteht als Begleitprogramm zu einer Veranstaltung, einem außenpolitischen Forum, zu der allerlei Redner eingeladen wurden, treu nach NATO-Geschmack, neben der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und dem Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius etwa der Litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis und die westliche Sprechpuppe aus Moldawien Maia Sandu. Dazwischen eingestreut dürfen dann, um den Rest des NATO-Parteiengefüges abzubilden, auch ein Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) und Norbert Röttgen auftauchen. Da sind keine Überraschungen zu erwarten.
Die Körber-Stiftung ist Eigentümer der Körber AG, eines Maschinenbaukonzerns, dessen Gründer tief in die Nazi-Rüstungsproduktion verstrickt war; inzwischen ist diese Stiftung einer der Fälle des für sich selbst denkenden Geldes, seit der Gründer 1992 verstorben ist. Tatsächlich begann Kurt Körber schon 1961 die Entwicklung von Strukturen, die politischen Einfluss langfristig absichern, noch vor der Firma Bertelsmann, nämlich in Gestalt des Bergedorfer Gesprächskreises. Während aber diese Gesprächsrunden einmal durchaus Grenzen des Denkens durchbrachen, ist das heutige Programm der Stiftung so vollständig auf Linie, wie man nur sein kann.
Passend dazu hielt dieses Jahr also Annalena Baerbock eine der Eröffnungsreden der Veranstaltung und belegte dabei wieder einmal, dass sie zwar behauptet, vom Völkerrecht zu kommen, seither aber ein gutes Stück vorangekommen ist. Es ist natürlich auch eine Herausforderung, gleichzeitig die Angriffe gegen Russland fortzusetzen und das israelische Vorgehen in Gaza zu verharmlosen. Das liest sich dann beispielsweise so: „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, der furchtbare Terror der Hamas gegen Israel, Angst und Schrecken in Gaza, die Klimakrise. Überall Menschen in unsäglicher Not.“
Klar, der Täter darf bei Gaza nicht benannt werden. Schließlich ist die deutsche Außenministerin – trotz aller dazwischen gestreuten Bemerkungen über humanitäre Probleme in Gaza, über Milchpulver und Verbandsmaterial – erbarmungslos auf der israelischen Seite: „Als Außenministerin eines Landes, für das Israels Sicherheit Staatsräson ist, habe ich deswegen gestern, aber auch bei all meinen Besuchen im Nahen Osten immer wieder deutlich gemacht, dass Israel nicht nur das Recht hat, sondern gegenüber seinen Menschen die Pflicht, sich im Rahmen des humanitären Völkerrechts gegen den furchtbaren Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, wie jedes andere Land auf dieser Welt auch.“
Klar, dass sie über fünfzig Jahre Besatzung vergisst und Völkermordhandlungen „im Rahmen des humanitären Völkerrechts“ sieht. Dafür wurde sie ja deutsche Außenministerin, die die Deutschen bereitwillig mit stets frischen Dosen ihrer Moral versorgt: „Was mich dabei besorgt, ist, wie sich genau in diesen Zeiten, von diesen Akteuren, aber toleriert von anderen, eine Ruchlosigkeit auszubreiten scheint. Eine Bereitschaft, die fundamentalen Regeln unseres Zusammenlebens zu brechen. Mit barbarischen [sic!] Terror wie im Fall der Hamas. Mit einem ruchlosen Angriff auf einen Nachbarn wie im Falle Russlands.“
Angesichts der unzähligen Kinder, die inzwischen in Gaza Opfer der israelischen Bombardements wurden, eine Position, für die es eiserne Disziplin braucht, überall dort gar nicht erst hinzusehen, wo man Dinge entdecken könnte, die nicht so richtig ins eigene Gefüge passen. Sich auf die Vereinten Nationen zu berufen, ist im Falle Israels besonders „lustig“. Mit dem Ordner an UN-Beschlüssen, die von Israel ignoriert werden, kann man schon fast jemanden erschlagen. Aber das ist eben Baerbock.
Wobei das am meisten erheiternde Ergebnis der Umfrage, die die veranstaltende Stiftung passend zu diesem Termin veröffentlichte, wie ein Kommentar zu Baerbocks Ansichten wirkt. Die Frage lautete nämlich, ob der deutsche Einfluss in der Welt in den letzten beiden Jahren zu- oder abgenommen habe; ganze 11 Prozent meinten, er habe zugenommen, 30 Prozent sahen ihn gleich, aber 57 Prozent antworteten, er habe eher abgenommen. Allzu überzeugend kann die Tätigkeit der Außenministerin also doch nicht sein.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Fragen, auf die die Deutschen Antworten geben, wie man sie von ihnen einst gewöhnt war (was übrigens die Autoren der Begleittexte nicht erfreut). 71 Prozent – und damit ein Prozent mehr als im vergangenen Jahr – meinen, dass Deutschland keine militärische Führungsrolle in Europa anstreben solle, und nur 28 Prozent wären dafür. Bei der Frage nach einer „wertebasierten Außenpolitik“ ist das Publikum ziemlich hälftig gespalten, und die Stiftung manipuliert ein wenig die Wahrnehmung. 5 Prozent meinten, damit ginge es Deutschland sehr gut, 43 Prozent eher gut, 34 Prozent eher schlecht, und 15 Prozent sehr schlecht; damit steht es 49:48 gegen diese „wertebasierte Außenpolitik“, und die Ablehnung ist mit 15 Prozent bei „sehr schlecht“ deutlich stärker ausgeprägt als die Zustimmung; in der Grafik sind allerdings die 43 Prozent „eher gut“ so groß dargestellt, dass sie genau von dieser Tatsache ablenken. Man tut, was man kann.
Überhaupt meint auch eine Mehrheit von 54 Prozent, Deutschland solle sich international mehr zurückhalten, und 76 Prozent meinen, Deutschland solle sich eher diplomatisch engagieren, während nur 12 Prozent für militärisches und 9 Prozent für finanzielles Engagement sind. Dummerweise haben diese Erwartungen keine Hoffnung auf Verwirklichung, jedenfalls nicht mit dem derzeitigen Personal.
Aber dann gibt es noch die Antworten der Kategorie „Propaganda wirkt“. Trotz Nord Stream halten über 40 Prozent der Befragten die USA für den wichtigsten Partner Deutschlands, sehen über 60 Prozent den Aufstieg Chinas negativ und wollen gar 66 Prozent die militärische Unterstützung der Ukraine fortsetzen. Wie wenig reale Information in diese Wahrnehmung eingegangen ist, zeigt sich darin, dass sogar 54 Prozent der Befragten als Ziel dieser militärischen Unterstützung eine ukrainische Rückeroberung des von Russland eingenommenen Gebiets sehen, und es nur 41 Prozent darum ginge, ein weiteres russisches Vorrücken zu verhindern.
Wirklich bizarr wird es dann bei der Antwort auf die Frage, was eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump für die deutsch-US-amerikanischen Beziehungen bedeuten würde. Ganze 59 Prozent meinten, die Folgen wären sehr negativ, eher negativ sahen das immer noch 23 Prozent, 11 Prozent eher positiv und nur 3 Prozent sehr positiv. Wohlgemerkt, das vor dem Hintergrund einer Biden-Regierung, die in zwei Jahren Amtszeit alles getan hat, nicht nur den Weltfrieden, sondern auch noch die deutsche Wirtschaft zu ruinieren, wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe ihrer deutschen Amtswalter.
Interessant sind dann wieder die Fragen, die sich auf den globalen Süden bezogen. Nicht nur, dass 51 Prozent den wachsenden Einfluss von Ländern wie Brasilien, Indien und Südafrika begrüßen, es meinten auch tatsächlich 66 Prozent, sie könnten verstehen, dass sich die Länder des Südens nicht an den Russland-Sanktionen des Westens beteiligten. Das passt schwer mit den Antworten zu Russland/Ukraine zusammen und könnte ein Indiz dafür sein, dass womöglich die Antworten zu Themenkomplexen, bei denen es viele Sprechverbote gibt, nicht ganz ehrlich ausfallen.
Ein interessantes Ergebnis findet man versteckt nur in der Tabellenausgabe der Umfrage. Die Antwort nämlich, ob die USA als „Partner bei der Sicherung des Zugangs zu Energie“ gesehen würde, weicht deutlich von den übrigen Fragen ab. Dieser Aussage stimmen nämlich nur 47 Prozent der Befragten zu. Also doch ein wenig Nord-Stream-Zweifel? Auch bei Fragen zum russischen Militäreinsatz gibt es Widersprüchliches. So erklärten zwar 73 Prozent, sie sähen eher ein russisches Großmachtstreben, aber 62 Prozent stimmten dennoch der Aussage zu, Russland habe sich durch die NATO-Erweiterung bedroht gefühlt.
Zusammenfassend könnte man sagen, überall dort, wo die aktuelle mediale Seelenmassage nicht massiv einwirkt, finden sich Ergebnisse wieder, die dem Mainstream widersprechen. Die Antworten auf andere Fragen, wie beispielsweise jene nach Donald Trump, belegen die Wirkung langjähriger Bearbeitung.
Aber es sind die realen Ereignisse, die diese Sicht massiv verändern könnten. Die Umfrage fand schon im September statt und enthält daher keine Fragen zu Israel und Gaza; doch die bedingungslose Israelunterstützung der Bundesregierung findet gerade bei den Jüngeren wenige Freunde. Baerbocks Konstruktion des täterlosen Verbrechens, mit dem sie zu verhüllen sucht, was die israelische Regierung in Gaza anrichtet, funktioniert nicht so, wie sie sich das vorstellt. Auf der einen Seite zu erzählen, Gaza sei jetzt „der gefährlichste Ort auf der Welt für Kinder“, und auf der anderen kein Wort über deutsche Waffenlieferungen an Israel zu verlieren, im Gegenteil, auch noch zu betonen, wie sehr Israel das tun dürfe, was es tut, passt schlicht nur im Kopf einer Person zusammen, die in einer Wende um 360 Grad einen Richtungswechsel vermutet.
Das Wort „Ruchlosigkeit“, das deutet diese Rede an, wird uns vermutlich als neue Erweiterung des außenministeriellen Wortschatzes begleiten – so, wie schon der „brutale Angriffskrieg“. Das soll vermutlich das Gegenteil dieser „regelbasierten Weltordnung“ kennzeichnen. Arglistig und verschlagen, irgendwer? Mal sehen, wenn das so weitergeht, landen wir im „diplomatischen“ Verkehr noch bei Schimpfwörtern wie „Galgenvogel“ und „Hundsfott“. Allerdings lässt die Umfrage zumindest die Hoffnung zu, dass Baerbock und ihr Trupp diese Strecke allein zurücklegen werden und die Deutschen letztlich die außenpolitische Vernunft wiederentdecken, die sich nach wie vor in Nischen gehalten hat.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 29.11.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht.