Denn die im Exil überlebenden Juden, sowieso eine Minderheit, sahen keinen Anlaß, in das auch nach 1945 von Nazis nicht freie Westdeutschland zurückzukehren. Da schien die DDR weniger antisemitisch, denn im Westen war der neue Feind der Kommunismus, auf den sich alles konzentrierte, weshalb vor allem die Amerikaner ihre Umerziehungsanstrengungen der Nachkriegszeit dann in den Fünfziger Jahren dem Kalten Krieg opferten. Denn niemals hätte ein Bundeskanzler Adenauer damals einen Staatssekretär mit der Nazi-Vergangenheit Globkes haben dürfen, hätten die Amerikaner nicht die Augen absichtlich verschlossen. Das alles ist als historischer Hintergrund wichtig, um die Bedeutung der jetzigen Ausstellung erahnen zu können.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat also die Massenimmigration von rund einer Viertelmillion jüdisch-russischer Einwanderer nach Deutschland die in der Nachkriegszeit begonnene vorsichtige und vor allem von polnischen Juden gespeiste Neukonstituierung von jüdischen Gemeinden grundlegend verändert. Diese Veränderung der jüdischen Gemeinden vollzog sich weitgehend unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit. In den Gemeinden aber rumorte es. Es kam zu Kampfabstimmungen, Machtübernahmen der Neuen, Kampfansagen durch die Alten und zu so vielen Konflikten, die sich die Waage halten mit all dem positiven Einsatz der „Alten“ für die Integration der meist mittellosen „Neuen“ in unsere Gesellschaft.
So scheint es heute dem Museum und der Bevölkerung Zeit, erstmals eine erklärende Zwischenbilanz zu ziehen: Welche Auswirkungen hat diese bedeutende Zuwanderung für Gegenwart und Zukunft des Judentums in Deutschland? Welche Wege fanden die Migranten in die jüdischen Gemeinden, die deutsche Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt? Wie gestaltet sich der Lebensalltag der Einwanderer? Diese und viele andere Fragen diskutiert die Ausstellung unter den Titel „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch–russische Einwanderung in die Bundesrepublik“ .
Insgesamt beschreitet das Jüdische Museum mit dem Projekt „Ausgerechnet Deutschland!“ konzeptionelles Neuland, um eine Entwicklung anschaulich zu machen, die sich bislang noch kaum in musealen Beständen und im wissenschaftlichen Diskurs manifestiert Denn der Integrationsprozess und die Neupositionierung der jüdischen Gemeinden, in denen heute überwiegend Russisch gesprochen wird, sind noch lange nicht abgeschlossen und die jüdischen Bezüge von weit mehr als der Hälfte der Einwanderer, die nicht Gemeindemitglied wurden, sind bis dato völlig ungeklärt. Was heißt es denn heute, Jude zu sein, besser: wer legt das fest? Auffällig ist, wie sehr alle Welt einen rassistischen Standpunkt nach der Judenverfolgung der Nationalsozialisten selber einnimmt. Nicht aus böser Absicht, sondern meist aus Unsicherheit und Unkenntnis. Als Jude kann aber nur der bezeichnet werden, der sich zum mosaischen Glauben bekennt oder derjenige, der von einer Jüdin geboren wurde. Wir aber definieren gemeinhin diejenigen, die ’nur` den Glauben annehmen, nicht als Juden, sondern als Lübecker oder Berliner Deutschen, der mosaischen Glaubens ist, währenddessen wird die Bezeichnung ’Jude` auch denen verpaßt, deren Vater ein gläubiger Jude war, die aber konvertierten oder sogar an gar keinen Gott glauben. Im Falle der jüdisch-russischen Einwanderung aus der Sowjetunion kommt hinzu, daß es gerade das „Jude sein“ war, was die Ausreise ermöglichte, man also auch niemandem mit dem Argument, er sei keiner, die Einreise verweigern wollte. Schwieriges Terrain, dem die Ausstellung souverän eine Auszeit gibt und stattdessen in einer interessanten Dokumentation vor allem Einzelschicksale dem Besucher nahbringt.
„Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich in diesem Land zu Hause fühlen und gleichzeitig ihre russischen und jüdischen Wurzeln bewahren“. Dieses Anliegen einer Migrantin bedeutet unausgesprochen, dass sich Einwanderer und Alteingesessene ihrer kultureller Prägung vergewissern müssen, um eine neue, gemeinsame jüdische Kultur in Deutschland zu entwickeln und durch Mitgebrachtes bereichern zu können. Zu diesem immer noch andauernden Prozess der Identitätsfindung leistet das Jüdische Museum mit der Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland!“ einen zentralen Beitrag: als Reibungsfläche und Identifikationsangebot für die Angekommenen, aber auch für die hiesigen, innerhalb und außerhalb Jüdischer Gemeinden.
„Die Ausstellung greift nicht nur in die Auseinandersetzung mit der nationalistischen Vergangenheit und den Konsequenzen für die Gegenwart ein: Die Verantwortung der deutschen Gesellschaft gegenüber die Juden, die in Deutschland eine neue Heimat suchen. Sondern auch in die Debatte um die Integrationspolitik. Ein Begriff, der wahrgenommen werden muss. Der Zugang zu Museen, Theater oder Musikveranstaltungen sollte für beide Seiten interessant sein. Aufgrund dessen sollte man sich fragen, in welcher Maße ein Kulturaustausch stattfindet. Und nach meiner Überzeugung geht es hier um wichtige Parameter einer Kulturpolitik einer großen Stadt“, sagte der Bundesminister des Innern Dr. Thomas de Mazière, bei der Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung in der Paulskirche.
Die jüdische Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion zwischen 1989 und 2005 hat die Geschichte des Judentums im Nachkriegsdeutschland entscheidend geprägt: Sechzig Jahre nach dem Holocaust und zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist ein auch zahlenmäßig erkennbares deutsches Judentum entstanden. Das jüdische Museum Frankfurt zeigt mit der Ausstellung die Protagonisten der jüdisch-russischen Einwanderung. Ein Vorhaben, das in der Museumslandschaft methodologisch Neuland betritt, für den Besucher aber durch die Auflistung so vieler Schicksale und ihrer unterschiedlichen Behandlung von deutschen Behörden und von den Jüdischen Gemeinden geradezu spannend ist wie es die Lebensberichte von Menschen immer sind, die in Bild und Ton unser Auge und Ohr und Herz erreichen.
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Ausstellung: bis 25. Juli 2010
Begleitpublikation: Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch–Russische Einwanderung in die Bundesrepublik, hrsg. von Dmitrij Belkin und Raphael Gross, Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2010. Die Einführung nimmt Raphael Gross vor, der auch Direktor des Museums ist. Das Buch ist ein Kompendium geworden, das die notwendigen historischen Vorgaben genauso bringt, wie in der Lage ist, aus einzelnen Schicksalen ein Resümee der Lage zu ziehen. Wer sich mit dem Thema beschäftigt – und das sollten alle Deutschen sein -, kommt an diesem Buch nicht vorbei.