Der Kasten hat eine Tür aber kein Fenster. Er dreht sich um die eigene Achse, fährt in alle Richtungen über die Bühne, faltet sich auseinander zu einem Grenzzaun, öffnet sich später zu einem Haus mit zwei Zimmern und bietet mit seinem Dach eine zusätzliche Spielfläche in schwindelerregender Höhe.
Im Schnelldurchlauf zivilisieren sich die Erdmenschen, gehen aufrechter, versehen sich mit Kleidung, tragen geschäftig Tüten mit Markenklamotten oder rotten sich zu Demonstrationen zusammen. Ihre unverständliche Sprache und ihren Watschelgang behalten sie jedoch bei. Sie erscheinen wie Personen in einem Stummfilm. Passend dazu ist klimpernde Begleitmusik zu hören.
Schließlich sagt eine Frauenstimme: „Lessing bitte.“ Daraufhin wird einer der Erdlinge mit Hut, Schläfenlocken und Kaftan als Nathan ausgestattet, ein anderer bekommt den Turban des Sultans Saladin verpasst, und das Stück beginnt mit Nathans Rückkehr von einer Reise wie es im Buche steht.
Mit den lehmverkrusteten Gesichtern ist Mimik nahezu unmöglich. Diesen Mangel gleichen die SchauspielerInnen durch ausladende, lebhafte Gestik aus. Der Stummfilmcharakter des Vorspiels setzt sich während des Stücks fort, verstärkt durch zahlreiche Slapstick-Einlagen und die begleitende Klimpermusik. Auch die Urmenschen tauchen neben den Figuren von Lessing immer wieder auf ohne jedoch in die Handlung einzugreifen.
Kaum zu glauben, dass nur sechs AkteurInnen mitwirken, fünf von ihnen in unterschiedlichen Rollen. In einer Gestalt verschwinden sie von der Bühne, sind in Windeseile umgezogen und tauchen als eine andere Person an ganz anderer Stelle wieder auf, so als seien sie die ganze Zeit dort gewesen. Wenn sie gerade keinen von Lessings Charakteren verkörpern, sitzen oder stehen sie irgendwo als eines der Urzeitwesen. Auch Jörg Pose, der ausschließlich Nathan spielt, gesellt sich immer wieder als einer der ihren zu den Ahnen der Menschheit.
In rasantem Tempo, wie die mit bewundernswerter Präzision ausgeführten Aktionen, werden auch die Texte artikuliert. Bernd Moss, als Sultan Saladin, sagt einmal: „Bei diesem Tempo habe ich nichts verstanden.“ Das eilig Ausgesprochene ist jedoch immer mit Sinn erfüllt, und so ist es auch wohl den ZuschauerInnen, die das Stück nicht oder nur flüchtig kennen möglich, den Wortfluten zu folgen.
Eine ganze Weile sieht es so aus, als sei die Inszenierung eine Parodie auf Lessings Stück oder, weil das Ziel dieser Parodie nicht erkennbar ist, vielleicht nur eine Veralberung. Doch trotz aller eingebauten Gags ist zu spüren, dass der Spaß auf etwas Ernsthaftes und Wesentliches hinauslaufen soll.
„Nathan der Weise“ ist ein unterhaltsames, auch komisches Stück, in das etliche Irrwege und Missverständnisse eingebaut sind, die sich am Schluss harmonisch auflösen. In Andreas Kriegenburgs Inszenierung ist kaum etwas gestrichen, eher einiges an Gags und aktuellen Anspielungen hinzugefügt.
Lessings lustige Personen, der Derwisch, Tänzer zwischen den Welten und der liebenswerte Klosterbruder, der aus Klugheit den Narren spielt, treten, präzise charakterisiert und komödiantisch gestaltet, in Erscheinung.
Wundervoll handfest und vital ist Natali Seelig als Daja, die jedoch als Christin auch dem Leiden und der Selbstquälerei zugewandt ist.
Für die Klugheit, die Lessing Recha und Sittah zugeschrieben hat, ist keine Zeit in der temporeichen Inszenierung. Hier ist Nathans Pflegetochter Recha (Nina Gummich) ein verwöhntes Mädchen, das trotz Gutartigkeit seinen Wünschen auch kreischend Nachdruck verleihen kann, und Saladins Schwester Sittah (Julia Nachtmann) agiert mit munterer Herzlichkeit ganz im Schatten ihres Bruders.
Im Zentrum stehen die Männer als Vertreter der jüdischen, islamischen und christlichen Religion. In Windeseile überwinden Nathan, Saladin und der Tempelherr ihre Vorurteile und werden Freunde. Rasant steuert Kriegenburgs Inszenierung über die märchenhaften Verbrüderungen hinweg, lässt sehr bald erahnen, dass die Liebesgeschichte zwischen Recha und dem Tempelherrn nicht als solche gedacht ist und nähert sich mit zunehmender Spannung dem Kern des Dramas, der Ringparabel.
Nathan beantwortet Saladins Frage, welche der drei Religionen die wahre Religion sei, indem er ein Märchen erzählt. Dabei sitzt Nathan auf dem Dach des Holzhauses hoch über dem unten stehenden Saladin. Jörg Pose gestaltet den berühmten Monolog klug, unpathetisch und eindringlich. Er erfindet Lessings Worte ganz neu, spürt ihnen nach und überzeugt, ohne Nachdruck, von der Notwendigkeit, seinen Ratschlägen Folge zu leisten.
Pose lässt deutlich werden, dass die Ringparabel nicht in erster Linie ein Plädoyer für Toleranz ist, sondern die Angehörigen der unterschiedlichen Religionen dazu aufruft, durch ihr Handeln und ihre Lebensführung den Wert ihrer Religion erkennbar zu machen.
Nathan und Saladin liefern dazu überzeugende Beiträge, während die Christen bei Lessing eher abschreckend wirken. Das Stück spielt zur Zeit der Kreuzzüge, die in der Tat kein Ruhmesblatt für das Christentum abgeben.
Die Erscheinung des Patriarchen passt hervorragend zu seinen widerwärtigen Äußerungen. Natali Seelig steckt in der unförmigen Gestalt des Monstrums und krächzt seine menschenverachtenden Bosheiten. Dabei wälzt dieser unwürdige Vertreter seiner Religion sich von einem Klo herunter und beschmutzt sich und das Kreuz mit seinem Kot.
Der Tempelherr ist ein Feuerkopf, der sich durch vorschnelles Handeln und langsames Denken dauernd in Schwierigkeiten bringt. Er hat sich noch nicht sehr weit über die Urmenschen hinaus entwickelt und verfällt einmal auch in deren unverständliches Kauderwelsch. Elias Arens präsentiert ihn als komischen Draufgänger, der trotz einiger Fehlleistungen sympathisch ist.
Ganz ohne Fehler ist keine der handelnden Personen, nicht einmal Nathan. Dessen großes Verdienst besteht darin, dass er trotz des Verbrechens, dem seine Familie zum Opfer fiel keinerlei Rachegefühle hegt, obwohl die Trauer sein Leben begleitet. In einer erschütternden Szene berichtet Nathan vom Mord an seiner Frau und seinen Söhnen. Jörg Pose gestaltet diesen Bericht mit einer tiefen Wahrhaftigkeit, ganz auf den Schmerz über die für Nathan immer noch unfassbare Vernichtung der Menschen, die er liebte, bezogen. Zorn oder Hass ist hier nicht zu spüren.
Am Schluss übernehmen wieder die Urzeitwesen die Bühne und tun mit vielen Umarmungen ihre Freude über die familiären Verbindungen kund, die sich zuvor bei Lessings Personen offenbart haben.
Sie sind alle miteinander verwandt, die unterschiedlichen Religionen und die Menschen, die alle aus dem gleichen Stoff gemacht sind.
„Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing hatte am 30. August 2015 Premiere im Deutschen Theater Berlin. Nächste Vorstellungen: 18. und 21.09.2015.