Auf Spurensuche – Wer war/ist Gregor Gysi und welche Rolle spielte er in den 1989/90 einsetzenden Ereignissen, die letzten Endes zum Untergang der DDR führten

Gregor Gysi (Die Linke) redet im Landtagswahlkampf 2018 in Hessen. Quelle: Wikimedia, CC BY-SA 4.0, Foto: Tomás Freres - Eigenes Werk

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Zu meinem Beitrag „Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – was sie war und wohin sie führte“ im WELTEXPRESS (1.7.2025i) haben mich einige Fragen von Lesern nach mehr Informationen zur Rolle von Gregor Gysi und auch Hans Modrow erreicht und ob sich das auf weitere Personen erstrecke, so ob und wie der legendäre Geheimdienstchef der DDR, Markus Wolf, dem entgegen gewirkt habe. Ich will dem nachkommen und mit Gregor Gysi beginnend mich auf Spurensuche begeben.

Das erste gravierende Ereignis war, dass Gregor Gysi im Oktober 1989 an der Spitze einer Gruppe von „Reformern“ stand, die das Politbüro der SED absetzte und selbst die Parteiführung übernahm. Bei dem später gern „Sturm aufs große Haus“ genannten Vorgehen handelte es sich quasi um einen Parteiputsch, denn immerhin war die Führung auf dem letzten Parteitag gewählt worden. Bei der Fraktion, die hinter Gregor Gysi stand, handelte es sich um eine Gruppe von leitenden Mitarbeitern des ideologischen Führungszentrum der SED, ihrer Akademie für Gesellschaftswissenschaften, mit Prof. Rolf Reißig (er wurde im Februar 1990 ihr Direktor) an der Spitze. 1 Diese Gruppe hatte 1987 für den Dialog mit der SPD das Positionspapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ ausgearbeitet.

Gregor Gysi war uns (meiner Frau und mir) kein unbekannter. Er war der Sohn von Klaus Gysi, von 1973 bis 1978 erster Botschafter der DDR nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Italien, mit dem wir während unserer Arbeit in Rom gute Beziehungen unterhielten. 2 Sein Sohn Gregor war promovierter Jurist und wurde 1988 Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte und verteidigte als Anwalt bekannte Dissidenten der DDR, wie Robert Havemann und Rudolf Bahro, aber auch Bärbel Bohley. So wurde Gregor Gysi – auch von mir – zunächst durchaus als ein Mann gesehen, der der SED und der DDR über die schwere Krise hinweghelfen könnte.

Zweifel daran kamen auf, als Gregor Gysi nach einem Besuch bei noch KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow im Januar 1990 nach Rom eilte, um bei Achille Occhetto, dem letzten IKP-Generalsekretär, Erfahrungen bei der vor sich gehenden Liquidierung der IKP durch ihre unter der Losung der „Heimkehr zur Sozialdemokratie“ erfolgenden Umwandlung in eine sozialdemokratische Linkspartei PDS zu studieren.3 Er scheute sich auch nicht, mit ISP-Chef Bettino Craxi zusammenzutreffen, der schon zu dieser Zeit der Korruption verdächtigt wurde. 4 Der Hintergrund konnte nur sein, dass – wie dann auch bekannt wurde – Gregor Gysi sich mit dem Gedanken trug, auch hier das IKP-Modell aufzugreifen und der SPD den Beitritt seiner PDS 5 anzutragen. Aber während die CDU der BRD, wie auch die Liberalen ohne Bedenken ihre ostdeutschen Schwesterparteien vereinnahmten, fehlte der SPD zu solch einem Schritt der strategische Weitblick, mehr wohl noch der Mut. Aber Craxi, der bereits 1986 das Angebot Alessandro Nattas, des ersten Nachfolgers Berlinguers im Amt des Generalsekretärs, zur Vereinigung der IKP mit der ISP zu einer neuen Linken Partei abgelehnt hatte, war auch diesmal nicht bereit. So konnte Gregor Gysi diesbezüglich nicht mit einem entsprechenden Signal aus Rom nach Berlin zurückkehren. Er versuchte dennoch, die DKP im Vorfeld des „Vereinigungsprozesses“ auszuschalten. Sie sollte sich auflösen und ihre Mitglieder einzeln in die PDS eintreten.

Gysis Rolle bei der Bildung der Währungs-, Wirtschafts- und  Sozialunion habe ich in dem angeführten Beitrag bereits skizziert. Wie ging es mit ihm weiter. Bis 1993 blieb er Vorsitzender der PDS, von 1990 bis 1998 ihrer Bundestagsgruppe und von 1998 bis 2000 ihrer Bundestagsfraktion, von 2005 bis 2015 Chef der Linksfraktion. 2002 war er fünf Monate Senator für Wirtschaft der Berliner Regierung mit der SPD und einer der Stellvertreter Klaus Wowereits. In dieser Zeit bekannte er sich zur sozialen Marktwirtschaft, nannte den Markt eine „zivilisatorische Errungenschaft“ und wandte sich gegen die Verstaatlichung aller Produktionsmittel, die in der DDR keinen besonderen ökonomischen Fortschritt gebracht habe.6 Wegen der sogenannten „Flugmeilenaffäre“, der missbräuchlichen Nutzung des Bonus für Abgeordnete, musste er im August zurückgetreten.

Sicher, von Gysi wird einiges hinterfragt, etwas relativiert, mal dieser oder jener Fehler eingeräumt, aber am grundsätzlich „richtigen Weg“ des „Ankommens“ im Kapitalismus wird nicht gerüttelt. Das verriet schon der Titel seines 2001 erschienen Buches. „Ein Blick zurück. Ein Schritt nach vorn“. 7 Darin räumte er zu Jugoslawien zum Beispiel ein, dass es in den USA wie in der BRD Kräfte gab, die am „Zerfall“ Jugoslawiens „interessiert waren“, aber Slobodan Milosevic mit seinem instrumentalisierenden Nationalismus“ unbestreitbar „einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet“ habe. Da wurde schlicht das Opfer zum Täter gemacht.

Er kritisierte den Umgang der BRD mit den Eliten im Anschlussgebiet (was für ihn natürlich „deutsch-deutsche Vereinigung“ blieb), um mit einem Rückblick auf den „Elitenwechsel“ nach 1945 festzuhalten, in beiden „deutschen Teilstaaten“ (!) habe es „Fehlleistungen“ beim „Elitenaustausch“ und der „Bewältigung der Vergangenheit“ gegeben. Dazu griff er die von westdeutscher Seite erhobenen Anschuldigungen auf und vermerkte, dass auch in der DDR der „Umgang mit Nazikriegsverbrechern einer kritischen Analyse“ bedürfe. „Bei den sogenannten Waldheimprozessen, in deren Verlauf von der UdSSR übergebene Nazis in Schnellverfahren verurteilt wurden“ habe es „erhebliche rechtsstaatliche Defizite“ gegeben. Zwar nannte er es dann „mehr als fraglich, wenn die westdeutsche Justiz, die Nazikriegsverbrecher so gut wie nie vor Gericht gebracht hat, nach der deutschen Wiedervereinigung aber den Richterinnen und Richtern der Waldheimprozesse wegen Rechtsbeugung den Prozess machte“. Aber, wie generell, wurde erstmal die „Schuldfrage“ auf beide Seiten verteilt. De facto stützt Gysi schließlich auch die von der BRD-Justiz, so vom damaligen Minister Klaus Kinkel aber auch von Bundespräsident Wolfgang Thierse vertretene Phrase von den 60 Jahren „zweier unterschiedlicher autoritärer Regimes“, damit der Gleichstellung der Regierung der DDR mit der faschistischen Diktatur.

Eine verblüffende Erklärung gab Gysi für die von Kohl betriebene Abwicklung der DDR-Intelligenz, zu der er feststellte, dass sie sich daraus ergeben habe, „dass die BRD aus der DDR existenziell nichts benötigte“, um dann zu betonen, das sei (von ihm) „kein moralischer Vorwurf“, er „beschreibe hier nur einen Umstand“ der, so räumt er ein, „schwerwiegende negative Konsequenzen im Rahmen des Vereinigungsprozesses hatte, und diese wären nur dann wesentlich weniger deutlich in Erscheinung getreten, wenn sich die verantwortlichen westdeutschen Eliten, insbesondere die aus der Politik, bewusst dazu entschlossen hätten, die Wirkung der Tatsache, dass aus der DDR nichts existenziell benötigt wurde, drastisch einzuschränken“. Ich will es bei diesen Zitierungen aus dem Juristenkauderwelsch des Anwalts Gysi belassen und nur noch daran erinnern, dass unter den aus dem Westen importierten Eliten sich ranghohe Politiker befanden, wie der spätere Ministerpräsident von Sachsen Biedenkopf oder der als Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an die Humboldt-Universität gespülte Nazi-Kriegsverbrecher und SS-Sturmbannführer Prof. Wilhelm Krelle. Aber das hier Angeführte ist keine Ausnahme, sondern durchzieht fast durchweg das Buch. Und Gysi betont „schlussfolgernd“ wie wichtig der Kontakt „zu den heutigen Eliten“ (also den aus dem Westen importierten, die die Plätze der abgewickelten „Osteliten“ einnahmen) sei.

Verwundern konnte höchstens, dass Gysis Buch damals auch im Internet über „CDU-Solidarität.de“ zu beziehen war, verbunden mit einem Spendenaufruf, nicht für die PDS, sondern die CDU. 2015 rühmte sich Gregor Gysi schließlich, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken. Damit bestätigte er unbewusst, dass er, wie Lenin einschätzte, zu denen gehörte, die „die Zusammenarbeit der Klassen“ verteidigen, sich von „der Idee der sozialistischen Revolution und den revolutionären Kampfmethoden“ lossagten, und sich zum Fetisch „der bürgerlichen Legalität“ bekannten, die „die ideologischen Grundlagen des Opportunismus“ sind. 8

Obwohl Gregor Gysi nun in echter sozialdemokratischer Tradition Schützenhilfe bei der Abwiegelung von Widerstand gegen die Einverleibung der DDR leistete, hielt das die Regierenden in Bonn bzw. dann Berlin nicht davon ab, auch gegen ihn eine wüste Hetzkampagne als „Stasi-Spitzel“ zu starten. Sie scheiterte, weil es nicht gelang, das für eine Überführung wichtigste Dokument, nämlich eine von ihm unterschriebene sogenannte Verpflichtung als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) zu arbeiten, zu finden. Ich erinnerte mich, dass mir Klaus Gysi in Rom, es war, glaube ich, 1976, einmal anvertraute, das MfS wollte seinen Sohn, der als promovierter Jurist als Rechtsanwalt tätig war, als IM anwerben. Aber er habe ihm geraten, keine Verpflichtung zu unterschreiben. Daran habe er sich gehalten. 9 Er strebte danach, den Vorsitz im Kollegium der Rechtsanwälte der DDR zu übernehmen (was er dann 1988 auch erreichte). Vor allem aber wollte er ein zweiter „Vogel“ werden. 10 Das schaffte er dann nicht mehr. Wie bereits erwähnt, verteidigte Gregor Gysi bekannte Dissidenten der DDR, wie Robert Havemann und Rudolf Bahro aber auch Bärbel Bohley. Letztere gehörte zu denen, die ihm Mandantenverrat vorwarfen und ihn als „Stasispitzel“ diffamierten. Gregor Gysi hat das immer bestritten und erklärt, er sei von Mitarbeitern des MfS, die als Vertreter von DDR-Institutionen getarnt, ihm gegenüber aufgetreten seien, abgeschöpft worden. Jedenfalls setzte er zahlreiche Unterlassungsbescheide durch, die verboten, ihn als „Stasispitzel“ zu bezeichnen. Dass er einem Prozess wegen IM-Tätigkeit entging, verdankte er so seinem Vater, der über genügend Erfahrungen verfügt hatte, dass man Überläufer wohl auch im MfS einkalkulieren musste und Sohn Gregor davon abhielt, eine Verpflichtung zu unterschreiben. Dazu bin ich der Meinung, dass Gregor Gysi natürlich wusste, wem er da gegenüber saß und an wen das, was er da sagte, ging. So wie ich auch der Meinung war und weiter bin, dass die Anschuldigungen gegen Lothar de Maiziére, er habe für das MfS gearbeitet oder zumindest Kontakte unterhalten, zutreffen dürften. Sie waren für Kohl das Druckmittel, dass de Maiziére dem von Bonn vorgegebenen Zeitplan zum Anschluss der DDR zustimmte.

Anmerkungen:

1 Reißig wurde später Mitglied des Willy-Brandt-Kreises der SPD.

2 Siehe mein Buch „Umbruchsjahre in Italien. Als Auslandskorrespondent in Rom1973 bis 1979. PapyRossa, Köln 2019, S. 13 ff.

3 Aus dem Namen Partito Democratico della Sinistra ergab sich auch noch die Namensgleichheit mit dem deutschen Parteikürzel PDS.

4 1992 begann die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen ihn, die 1994 zu einer lebenslangen Haftstrafe führten.

5 Die SED führte ab Dezember 1989 den Doppelnamen Sozialistische Einheitspartei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS). Ab 4. Februar 1990 nannte sie sich nur noch Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Am 16. Juni 2007 fusionierte sie mit der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die ,Wahlalternative) zur Partei Die Linke.

6 „Der Spiegel“, 10. Januar 2002.

7 Gregor Gysi: Ein Blick zurück, Ein Schritt nach vorn. Hamburg 2001.

8 Lage und Aufgaben der Sozialistischen Internationale, in: Lenin, Werke Bd. 21, Berlin/DDR, 1960, S. 20.

9 Klaus Gysi, der 1999 verstarb, traf ich in Berlin noch mehrmals, zuletzt 1994, wobei ich den Eindruck hatte, dass er über den Weg, den sein Sohn Gregor eingeschlagen hatte, nicht gerade glücklich war.

10 Das betraf den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der den in der DDR stattfindenden Austausch von Agenten organisierte und Beauftragter für Verhandlungen mit der BRD über den sogenannten „Häftlingsfreikauf“ war.

Siehe auch den Beitrag

im WELTEXPRESS.

Vorheriger ArtikelKapitalmarkt oder Natur?
Nächster ArtikelOb Simeon oder Maja – auf jeden Fall ein falscher Held